12.05.2000

Verlockende Unterdrückung

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Verlockende Unterdrückung

HERRSCHAFT funktioniert um so besser, je weniger sie den Beherrschten bewusst ist. Die Opfer von Kolonialherrschaft und deren Kolonialherren wissen, dass Herrschaft nicht nur auf Gewalt beruht. Nach vollzogener militärischer Eroberung schlägt die Stunde der geistigen Kontrolle. Jedes Reich, das sich dauerhaft etablieren will, steht auf lange Sicht vor dem Problem, wie es sich die Seelen seiner Untertanen gefügig machen kann.

Nach Völkermord (an den Indianern), Sklavenwirtschaft (mit Schwarzafrikanern), Militärexpansion (nach Mexiko) und Kolonialismus (in Puerto Rico) sind die Vereinigten Staaten von Amerika der Anwendung übermäßiger Gewalt allem Anschein nach überdrüssig und unternehmen neuerdings den Versuch, die Herzen aller Nichtamerikaner auf friedlichem Wege zu erobern und sich in ihren Köpfen festzusetzen.

Auf den geringsten Widerstand trifft dies imperiale Projekt merkwürdigerweise in Westeuropa (siehe dazu den Beitrag von Serge Halimi auf Seite 10). Das hat in erster Linie politische, aber auch historische Gründe. Der entscheidende politische Grund geht auf die Tatsache zurück, dass die Vereinigten Staaten aus der ersten demokratischen Revolution hervorgegangen sind, die 1776 stattfand und damit der Französischen Revolution um dreizehn Jahre vorausging. Hinzu kommt der historische Umstand, dass mit Ausnahme Englands im 18. Jahrhundert und Spaniens im 19. Jahrhundert kein europäisches Land je in einen bilateralen Krieg mit Amerika verwickelt war. Im Gegenteil: Als „Land der Freiheit“ haben die USA immer wieder Millionen Flüchtlinge und Exilierte aufgenommen; in beiden Weltkriegen bewährten sie sich als Freund des Alten Kontinents, der sich entschieden auf die Seite der Freiheit stellte und gegen die militaristischen und faschistischen Mächte engagierte.

In den Jahren 1989 bis 1991 erzielten die USA im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion einen klaren K.o.-Sieg, der nicht nur den Fall der Berliner Mauer zur Folge hatte, sondern auch den – wenn auch schleppenden – Demokratisierungsprozess in Mittelosteuropa.

Geopolitisch besitzen die Vereinigten Staaten eine Vormachtstellung wie noch kein Land zuvor. Auf militärischem Gebiet sind sie weit überlegen. Dasselbe gilt für die Atomtechnologie, die Raumfahrt und die Beherrschung der Meere. Nur die US-Flotte ist auf allen Weltmeeren präsent, nur die US-Army besitzt auf allen Kontinenten Militärbasen, Abhörstationen und Nachschublager.

Das Pentagon gibt allein für militärische Forschung so viel Geld aus wie Frankreich für die gesamte Landesverteidigung, nämlich etwa 31 Milliarden Dollar. Das führt dazu, dass ihre Rüstung immer um mehrere Waffengenerationen voraus ist. Die US-Streitkräfte (1,4 Millionen Soldaten) sind in der Lage, bei Bedarf jede beliebige Bewegung zu identifizieren und zu verfolgen und alle Kommunikationswege zu Land, in der Luft oder unter Wasser zu überwachen. Sie können fast alles sehen, ohne gesehen zu werden, und sie können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, bei Tag wie bei Nacht mit ungeheurer Präzision jedes Zielobjekt zerstören.1

DARÜBER hinaus verfügt Washington über eine beeindruckende Palette von Nachrichtendiensten – Central Intelligence Agency (CIA), National Security Agency (NSA), National Reconnaissance Office (NRO), Defense Intelligence Agency (DIA) –, die über 100 000 Mitarbeiter beschäftigen und mit einem Jahresbudget von über 26 Milliarden Dollar ausgestattet sind. US-amerikanische Spione sind in allen Ländern der Welt aktiv, bei Freund und Feind. Sie entwenden nicht nur diplomatische und militärische, sondern auch industrielle, technologische und wissenschaftliche Geheimnisse.

In der internationalen Politik entscheidet die amerikanische Supermacht, wo es langgeht. Sie verfolgt aufmerksam alle Krisen in allen Kontinenten, hat sie doch überall Interessen zu verteidigen und kann als einzige Macht überall eingreifen, ob im Nahen Osten oder im Kosovo, in Timor oder in Taiwan, in Pakistan oder im Kaukasus, im Kongo oder in Angola, in Kuba oder in Kolumbien.

Auch in den multilateralen Entscheidungsorganen, die den Lauf des Weltgeschehens bestimmen, hat Washington die ausschlaggebende Stimme: in der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) ebenso wie in der Gruppe der sieben führenden Industrienationen (G 7), im Internationalen Währungsfonds (IWF), in der Weltbank, in der Welthandelsorganisation (WTO), in der Organisation für wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), in der Nato und in anderen derartigen Organisationen.

Und doch bemisst sich die beherrschende Position eines Staates heute nicht mehr allein nach seinen militärischen und diplomatischen Machtmitteln. Deshalb haben sich die USA auch im Wissenschaftsbereich eine deutliche Vormachtstellung gesichert. Jahr für Jahr saugen amerikanische Universitäten, Labors und Unternehmen wie eine Pumpe Tausende und Abertausende von Studenten, Forschern und Hochschulabsolventen aus aller Welt ab. Auf diese Weise haben die USA in den letzten zehn Jahren einen Großteil der Nobelpreise für Physik (19 von 26), Medizin (17 von 24) und Chemie (13 von 22) einheimsen können.

Auch wirtschaftlich liegen die USA unangefochten an der Spitze. 1999 lag das US-Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit 8 683,4 Milliarden Dollar mehr als sechs Mal so hoch wie das BIP Frankreichs (1 346,6 Milliarden Dollar). Der Dollar ist nach wie vor die weltweit wichtigste Währung: 83 Prozent aller Devisentransaktionen werden in Dollar getätigt.2 Die New Yorker Börse fungiert als globales Finanzbarometer, und jeder Schluckauf der Wall Street – beispielsweise der Kurseinbruch beim Nasdaq-Index im April dieses Jahres (siehe das Dossier auf den Seiten 14 bis 17) – lässt gleich die ganze Weltwirtschaft erzittern. Die amerikanischen Rentenfonds schließlich schüchtern mit ihrer gigantischen Finanzkraft alle anderen Akteure der globalen Wirtschaft ein.

Die USA beherrschen auch den Cyberspace. Sie sind die führende Macht bei den technologischen Innovationen, in der Informations-, Kommunikations- und Computerindustrie, auf sämtlichen materiellen und immateriellen Anwendungsgebieten. Sie sind das Land des Internet und der Datenautobahn, der „Neuen Ökonomie“, der Computer-Giganten (Microsoft, IBM, Intel) und der Internet-Champions (Yahoo, Amazon, AOL).

Angesichts dieses erdrückenden Übergewichts auf militärischem, diplomatischem, wirtschaftlichem und technologischem Gebiet erhebt sich die Frage, warum sich nicht mehr Kritik und Widerstand artikuliert. Die Antwort lautet: Weil sich die Vereinigten Staaten auch als kulturelle und ideologische Hegemonialmacht präsentieren. Das Land bringt seit langem herausragende Intellektuelle und Künstler hervor, die in aller Welt Ansehen genießen und zu Recht bewundert werden. Und es beherrscht die Welt des Symbolischen und übt damit aus, was Max Weber „charismatische Herrschaft“ nannte.

In zahllosen Bereichen diktieren die USA auch das Vokabular, die Begrifflichkeit und den Sinn der Worte. Sie zwingen die anderen, die Probleme, die in den USA entstanden sind, in Worten zu formulieren, die sie selber vorschlagen. Sie liefern den Dechiffriercode für die Rätsel, die sie aufgeben. In zahllosen Forschungsinstitutionen und Denkfabriken sind Tausende von Analytikern und Sachverständigen damit beschäftigt, rechtliche, soziale und wirtschaftliche Fragen so aufzubereiten, dass sie den neoliberalen Thesen, dem Globalisierungstrend und den Interessen des Big Business entsprechen. Und schließlich werden die großzügig finanzierten Forschungsarbeiten über sämtliche Medienkanäle in alle Welt verbreitet.3

Die wichtigsten Fabriken dieser „Überzeugungsindustrie“ – das Manhattan Institute, die Brookings Institution, die Heritage Foundation, das American Enterprise Institute und das Cato Institute – lassen es sich einiges kosten, wenn sie zu ihren Seminaren und Tagungen stets eine große Zahl von Journalisten, Professoren, hohen Beamten und politischen Entscheidungsträgern einladen, die die frohe Botschaft anschließend in die Welt hinaustragen.

Gestützt auf ihre Vormachtstellung im Informations- und Technologiesektor etablieren die Vereinigten Staaten mit der stillschweigenden Zustimmung der Beherrschten eine Herrschaftsform, die man als freundliche Unterdrückung oder auch als gefällige Despotie bezeichnen könnte und die vor allem auf der Kontrolle über die Kulturindustrien und unsere Vorstellungswelt beruht.

Es ist bewundernswert, wie gekonnt die Vereinigten Staaten unsere Träume mit zahllosen Heroen bevölkern, die als Trojanische Pferde der neuen Herrschaft in unsere Hirne eindringen. Während die USA gerade einmal 1 Prozent ihrer Kinofilme im Ausland einkaufen, wird die Welt mit Hollywood-Produktionen überschwemmt (siehe den Beitrag von Carlos Pardo, S. 2): mit Fernseh- und Zeichentrickfilmen, mit Videoclips, Comics – von den US-Vorbildern in Sachen Mode, Stadtentwicklung und Ess- und Trinkgewohnheiten ganz zu schweigen (siehe den Beitrag von Rick Fantasia, S. 6).

ALS Tempel und heiliger Ort, an dem der Kult der neuen Ikonen zelebriert wird, fungiert die „Mall“, das Einkaufszentrum. Zum Ruhm des Konsums errichtet, entsteht in diesen Kathedralen des ungehemmten Konsums eine weltweit vereinheitlichte Gefühlswelt, deren Rohstoff die bekannten Logos, Stars, Songs, Idole, Marken, Gegenstände, Plakate und Feste darstellen (man denke nur an die wachsende Begeisterung der Franzosen für das Halloween-Fest).

Die Begleitmusik liefert die allgegenwärtige Werbung mit dem verführerischen Lied von der Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung des Verbrauchers (die Ausgaben für Werbung belaufen sich in den Vereinigten Staaten alljährlich auf 200 Milliarden Dollar). Dabei verkauft das moderne Marketing nicht nur Waren, sondern vor allem auch Symbole, nicht nur Marken, sondern Identität, nicht nur soziale Zeichen, sondern Persönlichkeit, frei nach dem Motto: Haben ist Sein.

Es ist daher höchste Zeit, sich an den Alarmschrei von Aldous Huxley aus dem Jahr 1931 zu erinnern: „In einer Zeit hoch entwickelter Technologie droht die größte Gefahr für Ideen, Kultur und Geist weniger von einem Schrecken und Hass erregenden Gegner, sondern von einem Feind mit menschlichem Angesicht.“

Als Herr der Symbole präsentiert sich die US-amerikanische Supermacht heute in der verführerischen Aufmachung, die sich Demagogen schon immer zugelegt haben. Mit dem Angebot endlosen Freizeitvergnügens, ständiger Ablenkungen und optischer Verlockungen pflanzt der neue Hypnotiseur seine eigenen Gedanken in unsere Köpfe ein. Er sucht uns nicht mit Gewalt zu unterwerfen, sondern mit beschwörendem Zauber, nicht mit Befehlen, sondern mittels unserer freiwilligen Zustimmung. Er droht nicht mit Strafen, sondern setzt stattdessen auf unsere Vergnügungssucht.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Le Nouvel Observateur (Paris), 3. Juni 1999. 2 Vgl. Peter Gowan, „Le régime dollar – Wall Street d'hégémonie mondiale“, Actuel Marx 27 (L'hégémonie américaine), Paris (PUF) 1. Quartal 2000. 3 Dazu Herbert I. Schiller, „Der Markt als Waffe. Tendenzen des US-Imperialismus“, Le Monde diplomatique, August 1998.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2000, von IGNACIO RAMONET