Monokultur Hollywood
BEI den letztjährigen Filmfestspielen in Cannes konnte der spanische Film „Alles über meine Mutter“ von Pedro Almodóvar sensationelle Triumphe feiern, die kurz darauf durch den Riesenerfolg beim Kinostart und schließlich sogar in Hollywood durch den Oscar für den besten ausländischen Film bestätigt wurden.
Almodóvar, der seine Bekanntheit in Frankreich einem unabhängigen Verleih verdankt, hat eine typische Entwicklung durchgemacht: Seit er ein größeres Publikum erreicht, hat er den künstlerisch-experimentellen Bereich immer weiter hinter sich gelassen und wurde zunächst von der Bouygues-Gruppe und dann von Canal Plus vereinnahmt. Viele international bekannte Regisseure – der Grieche Theo Angelopoulos, die Australierin Jane Campion, der Malier Souleyman Cissé, der Finne Aki Kaurismäki, der Tscheche Milos Forman, der Iraner Abbas Kiarostami, der Japaner Takeshi Kitano, der Engländer Ken Loach, der Italiener Nanni Moretti, der aus Burkina Faso stammende Idrissa Ouedraogo, der Franzose Robert Guédiguian oder auch der Deutsche Wim Wenders u. v. a.: sie alle konnten nur dank eines Systems von unabhängigen Produzenten, Verleihern und Kinobesitzern, dem eigentlichen Labor der Filmindustrie, ihre ersten Filme realisieren und in die Filmtheater bringen.
Solche Wege sind inzwischen kaum mehr vorstellbar. Europäische Filme können sich auf dem Alten Kontinent nur noch mit Mühe behaupten, und es klingt paradox, aber die einzigen Filme, die die Kinogänger der EU miteinander verbinden, kommen ausgerechnet aus Hollywood! Neben der Konzentration im Verleihsektor entwickelte sich seit Anfang der Neunzigerjahre mit den aus dem Boden schießenden Multiplexkinos die Konzentration in der Verwertungskette.
Seit 1993 sind Multiplexkinos, die ursprünglich aus den Vereinigten Staaten stammen, auf dem Umweg über Großbritannien und Belgien nach Frankreich gekommen. Ende 1999 existierten 65 solcher Einrichtungen, und für 50 neue Projekte lag eine Baugenehmigung vor. Die Firmen UGC, Gaumont und Pathé, die allesamt Produktion, Verleih und Verwertung in einem anbieten, stiegen sofort ein.1 Die Betreiber von Multiplexkinos haben von Anfang an auf ein einziges Filmgenre gesetzt, eines, das jenseits des Atlantiks geschaffen wurde.
Der Reiz des Neuen, der Komfort und die Sicherheit, die die Multiplexkinos in Aussicht stellten, locken die Zuschauer an. Im ersten Halbjahr 1999 verbuchten Multiplexkinos schon 14,3 Prozent der französischen Kinosäle, 27 Prozent der Besucher und 28,9 Prozent der Einnahmen auf sich. Man braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um sich die Kinolandschaft auszumalen, wenn ungefähr hundert Multiplexe in Betrieb sind.
In der Hoffnung auf steigende Gewerbesteuereinnahmen, die mit dem Bau eines Multiplexkinos und der zugehörigen Geschäfte zu erwarten waren (Sportartikelläden, Fastfood, Pizzerien, Bowlingbahnen), haben viele Kommunen die Projekte begrüßt, sodass es inzwischen nicht wenige Ballungsräume mit zwei, drei, ja sogar vier Multiplexkinos gibt (besonders in Nantes, Bordeaux, Montpellier, Lille wie auch in der Pariser Banlieue).2
Der Zugang zu Filmkopien ist für die unabhängigen, innerhalb eines Multiplex-Einzugsbereichs gelegenen Kinos sehr viel schwieriger geworden – die meisten Verleiher legen sich nur ungern mit den großen Verteilerringen an, die über das Geschick von 85 Prozent der Erstaufführungen entscheiden. Die neuen Leinwände leben von den Filmen, die gerade in aller Munde sind, und halten damit die Illusion aufrecht, dass immer etwas Neues stattfinde. Zwischen 1993 und 1999 stieg die Zahl der pro Jahr verliehenen Filme von 361 auf 595 an, weil der einzelne Film immer weniger lang im Programm bleibt.
Da inzwischen jeder Film als Event daherkommen soll, sind die Werbeetats explodiert. Bei Hollywoodfilmen erhöhen sich die eigentlichen Produktionskosten durchschnittlich um 50 bis 100 Prozent für Werbe- und Marketingausgaben. Europäische Filme sehen nur 5 bis 10 Prozent ihres Budgets dafür vor. Der Graben zwischen dem reichen und dem armen Kino hat sich gewaltig vertieft.
Zu jenem unterprivilegierten Kino, das in Zukunft den Rang eines schützenswerten Kulturgutes einnehmen müsste, wenn die neue Generation von Filmemachern und die Vielfalt der Gattungen überhaupt eine Chance haben sollen, zählen die frühen französischen Kunst- und Experimentalfilme, genauso wie Filme aus allen Teilen der Welt, die das Interesse eines Verleihers wecken können – gewöhnlich das eines unabhängigen Verleihers.
1987 konnten Filme so genannter „anderer Nationalitäten“, das heißt Filme, die weder französischer noch amerikanischer Herkunft waren, noch 20,2 Prozent der Besucher in die französischen Kinos locken. 1999 betrug dieser Anteil gerade noch 7 Prozent. Frankreich, das immer stolz auf seine einzigartige Kinokultur und deren viele Anstöße nach außen war, findet sich jetzt mit dem Schicksal aller übrigen Kinos auf dem Globus ab: der Kolonisierung der Leinwand – und der Köpfe – durch Hollywood. Der Prozentsatz europäischer, nicht nationaler, in Europa verliehener Filme sank zwischen 1989 und 1999 in Belgien von 21 auf 11 Prozent, in Italien von 12 auf 10 Prozent, in Deutschland von 16 auf 6 Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil amerikanischer Produktionen in Belgien von 69 auf 87 Prozent, in Deutschland von 65 auf 95 Prozent, in Italien von 63 auf 65 Prozent und in Frankreich von 56 auf 64 Prozent.
Die Verbände unabhängiger Verleiher können sich in Frankreich nur dank des Systems der Selbstfinanzierung der Kinos und der staatlichen Subventionen halten. Und trotzdem, betont Caroline Grimault von Avanti Films, können all diese Zuschüsse „kaum die Hälfte der Ausgaben decken. Wir müssen einen Film nach dem anderen herausbringen, damit die Gelder fließen, die unsere Defizite kaschieren. Das geht nicht selten auf Kosten der Bedingungen, unter denen der Kinostart vorbereitet wird.“ Das Publikum für das von Avanti vertretene Programm mit seinen türkischen, indischen, englischen, russischen Filmen und mit seinen Dokumentarfilmen nimmt von Monat zu Monat ab. Das Fernsehen zeigt kein Interesse, und auch der Videomarkt bietet keine Absatzmöglichkeiten.
In den Augen von Galeshka Moravioff, dem Chef von „Filme ohne Grenzen“, stiftet die Unmenge der Kopien nur Verwirrung. „Während der Bewegung vom Mai 68 wurde das Kino von einer Begeisterung für die Dritte Welt getragen, von einer neuen Welle, die die ganze Welt ergriff. Aber inzwischen ist die Luft raus. Mit den Krisenjahren kam ein Rückzug ins Private, ein Kino ohne Anliegen [...] Einen nicht amerikanischen ausländischen Film ins Kino zu bringen ist ein aussichtsloses Unterfangen. Für einen unabhängigen Verleiher ist es aber inzwischen auch unmöglich, einen erfolgsträchtigen ausländischen Film zu einem vernünftigen Preis einzukaufen.“ Das finanzielle Gleichgewicht versucht Moravioff durch den Ausbau eines kleinen Netzes von Kinosälen aufrechtzuerhalten.
Natürlich ist eine unabhängige Verleihfirma allein nicht in der Lage, mit gleichen Waffen gegen eine übermächtige Gruppe anzutreten; doch auch die – und sei es nur vorübergehende – Zusammenarbeit mit dem gefährlichen Goliath kann sich als fataler Fehler erweisen. Diese Erfahrung machte vor ein paar Monaten Mima Fleurent von Colifilms, die übrigens auch Pedro Almodóvar für Frankreich entdeckt hat. Warner-Frankreich hatte sich beim Erwerb von Carlos Diegues' „Orfeo“, dessen internationale Rechte auch bei Warner liegen, an Colifilms gewandt, und es kam zu einem Vertragsabschluss zwischen Colifilms und dem amerikanischen Riesen, der – mit dem Ziel möglichst hoher Synergieeffekte – ein gemeinsames Vorgehen vorschlug. Warner Classic, die Musikabteilung der Firma, verpflichtete sich, von einem Song des Komponisten Caetano Veloso einen Videoclip zu machen und die CD vor dem Kinostart des Films groß herauszubringen. Vertrauensvoll setzte Mima Fleurant auf einen Start in zwanzig Kinos und stellte dafür ein Budget von 1,5 Millionen Franc bereit.3 Doch Warner lieferte den Clip erst zwei Tage vor der Premiere. Zwei Wochen später beschloss Mima Fleurant, die kurz vor dem Konkurs stand, den Film abzusetzen und erst wieder in die Kinos zu bringen, wenn Warner „seinen Verpflichtungen nachgekommen“ sei.
Die Lage könnte sich zuspitzen, wenn unter dem Druck von Brüssel und der Welthandelsorganisation (WTO) die wenigen Maßnahmen zum Schutz des Kinos abgeschafft würden. Wie Gesundheits- und Erziehungswesen ist auch das als Dienstleistung eingestufte Kino von Deregulierung bedroht. Nach der Meistbegünstigungsklausel sollen gleichartige Produkte aus den verschiedenen Ländern der WTO gleich behandelt werden. Wenn also das Centre National du Cinéma einen Film aus Burkina Faso fördert, könnte jedes x-beliebige Hollywoodprodukt dieselbe Förderung auch für sich beanspruchen – eine wahrlich absurde Vorstellung.
Das Beispiel des Europa-Filmtheater-Netzes, das 1999 zwanzig Millionen Besucher verbuchte4 , beweist, dass es auch anders ginge. Dass der europäische Film durchaus ein Publikum hat – wenn nur auch die Säle vorhanden wären.
dt. Uta Goridis
* Journalist und Filmemacher.