16.06.2000

Die kriminelle Dimension des Hochleistungssports

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Die kriminelle Dimension des Hochleistungssports

ERNEUT wird das Fieber der Fußball-Europameisterschaft dafür sorgen, dass eine gründliche Analyse des Hochleistungssports und seiner ideologischen Funktionen, der involvierten wirtschaftlichen Interessen und der negativen politischen Auswirkungen unterbleibt. Dabei hat es an Enthüllungen in den letzten Monaten nicht gemangelt: Das Internationale Olympische Komitee kam wegen Korruption ins Gerede; Atlanta, Nagano, Sydney und Salt Lake City erhielten aus dubiosen Gründen den Zuschlag für die Austragung der Olympiade; das im Rad- und Schwimmsport allgemein verbreitete, aber inzwischen auch im Fußball angelangte Doping beschäftigt die Gerichte; in den Sportarenen kommt es immer häufiger zu üblen Ausschreitungen. All das legt den Schluss nahe, dass sich der institutionalisierte Profisport innerlich immer stärker kriminalisiert.

Von JEAN-MARIE BROHM *

Drei ideologische Faktoren sind dafür verantwortlich, dass sich die sozio-politische Analyse des Sports häufig durch verharmlosende Nachsicht oder gar durch glatte Blindheit auszeichnet. Der erste Faktor ist das Gesetz des Schweigens, das in der Welt des Sports an die Stelle ethischer Grundsätze tritt: Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Wer Interna preisgibt, gilt als Verräter oder Feigling und wird geächtet. Tatsachenverschleierung, Desinformation und Augenwischerei gehören im „Milieu“ des Sports1 bis hoch in die Führungsetagen zur täglichen Praxis.

Wenn ein Radsportler behauptet, Doping sei im Radsport unbekannt; wenn ein renommierter Judoka oder ein bekannter Fußballer trotz positiver Laborergebnisse jeden Dopingvorwurf weit von sich weist; wenn das IOK ungeachtet der Beweislage bestreitet, dass bei der Entscheidung über den Austragungsort der Olympischen Spiele Bestechung im Spiel war2 ; wenn Fußballer, Rennfahrer, Tennis-, Basketball- und Golfspieler die exakte Höhe ihrer fabulösen Einkünfte verheimlichen; wenn Sportfunktionäre nach Bekanntwerden von Schmiergeldzahlungen, geheimen Wetten, schwarzen Kassen oder bestochenen Schiedsrichtern3 so tun, als würden sie aus allen Wolken fallen; wenn schließlich Sportler, Trainer und Funktionäre die gewalttätigen Ausschreitungen, zu denen es inner- und außerhalb der Stadien immer wieder kommt, systematisch verniedlichen, dann besteht aller Grund, einmal hinter die Kulissen zu sehen. Das gilt für den Sport ebenso wie für andere Institutionen, die sich – wie etwa die Gefängnisse oder die Kasernen – dem Licht der Öffentlichkeit und unabhängigen Untersuchungen entziehen wollen.

Auch lässt sich kaum behaupten, dass die europäischen und internationalen Organisationen, die nationalen Behörden, Parlamentsausschüsse und Sportverbände übermäßigen Eifer zeigen, die trüberen Aspekte eines institutionellen Betriebes zu erforschen, der sich am Rande der Legalität oder gar im illegalen Abseits abspielt.

Was hindert die Zoll- und Steuerbehörden, die Finanzierungsmethoden und die Bankkonten, die Steuererklärungen und die undurchsichtigen Geschäfte der Protagonisten des Profisports unter die Lupe zu nehmen? Wenn es darum geht, die Geldquellen diverser Sekten oder die mafiösen bis terroristischen Konstruktionen von Geldwäscherbanden zu durchleuchten, bleibt die Finanzpolizei ja auch nicht untätig. Und was die Doping-Problematik anbelangt, so ändern die medienwirksamen Auftritte des IOK, die „feste Entschlossenheit“ der französischen Regierung, die „entrüsteten“ Erklärungen der Sportfunktionäre nichts daran, dass die Expertenausschüsse völlig ergebnislos tagen und dass der Schwindel ungebremst weitergeht.

Der ehemalige Sportreporter Michel Drucker hat gegenüber France-Soir erklärt: „Seit einiger Zeit gehört Heuchelei zum Alltagsgeschäft. Wer kann denn glauben, dass man nur mit Mineralwasser in der Flasche vier Pässe hintereinander bewältigt und ohne ,Selbsthilfe‘ in drei Wochen 25 Etappen schafft? Glauben Sie vielleicht, dass jemand das Kap Hoorn umsegelt oder den Stürmen des vierzigsten Breitengrades trotzt und dabei nur Tee trinkt? Alle Sportreporter meiner Generation werden Ihnen das bestätigen: Leistungssportler haben schon immer was genommen, das war allgemein bekannt. [...] Der Radrennsport verlangt eine schier unglaubliche Bereitschaft zur Selbstaufopferung; ohne starke Schmerzen geht da überhaupt nichts. Und damit müssen die Fahrer zehn Monate im Jahr leben. Niemand kann hintereinander die belgischen Radklassiker, Paris-Roubaix, Mailand-San Remo, die Tour de France und den Giro d'Italia mit ein paar Vitamin-C-Tabletten bestreiten. In allen Sportarten ist das so. Die Sportler schultern schließlich Sponsorengelder in Millionenhöhe. Dahinter stecken enorme finanzielle Interessen.“4

Der zweite ideologische Faktor, der eine eingehendere Analyse des Profisports hintertreibt, ist der Kleinmut der Sportler, Funktionäre und Sportjournalisten, die sich bei der leisesten Kritik in Frage gestellt fühlen. Bereits eine schlichte Bestandsaufnahme läuft in ihren Augen darauf hinaus, die „Basisarbeit der Ehrenamtlichen“ zu verhöhnen, das „Kind mit dem Bade auszuschütten“, schlimmer noch: die „Vorbildfunktion unserer Spitzensportler in den Schmutz zu ziehen“ und die „Integrationskraft des Sports“ zu schwächen. So trägt der so genannte Sportsgeist dazu bei, die Selbstverteidigungsmechanismen einer in die Krise geratenen Institution zu stärken. Hässliche Ausschreitungen lässt man allenfalls als „Ausrutscher“, „Entgleisung“, „Fehlentwicklung“ oder „Exzesse“ gelten, die „sportfremde“ Elemente zu verantworten habe. Unter keinen Umständen will man einräumen, dass es die Logik der sportlichen Konfrontation selbst ist, die jene „wild gewordenen Tiere“ hervorbringt, von denen die britischen Zeitungen schreiben.

Der Mythos vom „Sportfest“ soll auch dann weiterleben, wenn das Fest zur blutigen Schlacht ausartet. In diesem Wunschdenken ist nicht vorgesehen, dass der Sport eine Spielart des Krieges5 ist, dass er wie alle Kriege niemals sauber sein kann und sich auch nicht in humanitäres Wohlgefallen auflöst. Einst haben die kommunistischen Aktivisten pietätvoll die Augen vor der stalinistischen Barbarei geschlossen, um das „Herz der Arbeiterklasse“ nicht zu verstören. Heute hört man dieselbe Argumentation in Sachen Sport: Die den Kopf in den Sand stecken und sich für einen „sauberen“, einen „humanen“, einen „friedfertigen Sport“ zu engagieren wähnen, soll man in ihrem Glauben doch bitte schön nicht stören. Wer die sportliche Illusion demontiert6 und eine kompromisslose Analyse seiner professionellen Strukturen betreibt, ist ein Feind des Sports.

Als ein französischer Polizeibeamter während der Fußball-Weltmeisterschaft 1998 halb totgeschlagen wurde, stimmte ein Sportjournalist sogleich das legitimistische Credo an: „Und schon gehen die alten Anklagen los. Die Übung ist so alt wie das Medienspektakel Sport, und eine Legion von Anklägern sieht erneut ihr vorgefasstes Urteil bestätigt: Schuld ist allein der Fußball mitsamt den Plagen, die er mit sich schleppt: Verblödung, Chauvinismus, Nationalismus, Gewaltbereitschaft, Opium des Volkes, der übliche Katalog abschätziger Vokabeln, den sie für die definitive soziologische Analyse halten.“

Die barbarischen Horden, die mit Alkohol und Hass abgefüllten „Hooligans“, werden uns sozusagen als Außerirdische präsentiert, als fremde Elemente, die mit dem Fußball in Wahrheit nichts zu schaffen haben: „Ob Engländer oder Deutsche oder was auch immer, ihr Interesse gilt in keinem Fall dem Fußball. Der mag sich bisweilen durch allzu große Nachsicht mitschuldig gemacht haben, aber für diese Subjekte ist er gleichwohl nur Tarnung und Anlass, um sich abzureagieren, und bei der Weltmeisterschaft auch der Aufhänger, um in die Medien zu kommen. Doch täuschen wir uns nicht: Sie nisten sich zwar im Fußball ein, sie machen sich in seinem Schlagschatten breit. Aber sie kommen nicht aus den Stadien, die sie im Gegenteil sogar hassen.“7 Diese Art der Realitätsverleugnung ist die letzte Verteidigunglinie einer Veranstaltung, die von einer Welle der Gewalt überrollt wird. Sie beruht auf einem gut eingeübten ideologischen Postulat: Der „wahre“ Fußball, der Fußball der wirklichen Fans, der Fußball der Arbeiterstädte (Lens, Calais, Gueugnon usw.) werde von einigen schwarzen Schafen pervertiert, die sich wie Paraasiten in ihm eingenistet hätten.

Unerklärlich bleibt dabei jedesmal die Frage, welche eigenartige Konditionierung eigentlich diese Hooligans so unwiderstehlich zum Fußball treibt, welche merkwürdige Wahlverwandtschaft all diese „Ultras“ mit dem runden Leder verbindet? Dem klassischen Mechanismus ideologischer Verkehrung folgend, verstiegen sich die Sportreporter nach dem Blutbad von Heysel 1985 zu der These, nicht der Fußball habe gemordet, nein, an diesem Tage sei er ermordet worden. Der Täter wurde zum Opfer. Und immer sind es die bösen Buben aus der Fremde, die den jungfräulichen Fußball schänden. Doch diese These bricht sofort in sich zusammen, wenn man sich vor Augen hält, mit welcher Regelmäßigkeit „Freundschaftsspiele“, nationale Meisterschaften ebenso wie internationale Begegnungen von schweren Ausschreitungen begleitet sind.8

Drogendealer und Muskelsklaven

DIE Liste der brutalen Schlägereien, blutigen Krawalle, tödlichen Paniken und makabren Zusammenstöße, die von den Spielern wie von den Zuschauern ausgehen können, ist schon beeindruckend und lässt sich nicht einfach unter der Rubrik „Vermischtes“ abbuchen. Für die Anhänger der „Sportkultur“ sei hier eine kleine Auswahl von Auswirkungen der fußballerischen „Integration“ angeführt: „Ein Fußball-Freundschaftsspiel am Samstag, dem 27. Februar, in Annonay (Ardèche) artete in gewalttätige Krawalle aus, als einige Schlachtenbummler aus Saint-Étienne zu pöbeln begannen. Bereits im Laufe des Spieles kam es zu einigen Zwischenfällen. Nach Spielende zogen die Fans der Gäste in eine benachbarte Sozialwohnungssiedlung und hausten wie die Vandalen. Die Jugendlichen des Viertels zündeten daraufhin einige Autos an und attackierten die Polizei.“ (Le Monde, 2. März 1999). „Ein Fußballspiel der Liga Süd artete in eine handfeste Schlägerei aus. Elf Verletzte in einem Dorf im Gers. Seit drei oder vier Jahren finden die Spiele der Liga Süd in einem sich zunehmend verschärfenden Klima der Gewalt und des Hasses statt, wobei nicht immer Rassismus die Ursache ist.“ (Le Monde, 16. März 1999) „Das Departement Seine-Saint-Denis, einer der Austragungsorte der letzten Fußball-Weltmeisterschaft, leidet unter dem schwer erkrankten Fußball. Neun Monate nachdem die Blauen im funkelnden Stade de France den Weltmeistertitel errangen, hat der Distriktverband des 93. Departements am Freitag, den 9. April seine Entscheidung bekräftigt, sämtliche Spiele in allen Altersgruppen bis auf weiteres auszusetzen. Ein Messerstich im Stadion von Clichy-sous-Bois am 28. März und eine allgemeine Schlägerei in Montfermeil am selben Tag haben die letzten Zweifel der ehrenamtlichen Funktionäre des Verbands von Seine-Saint-Denis ausgeräumt. Die zunehmenden Gewalttätigkeiten in und vor den Stadien werden in den Reihen des Amateur-Fußballs mit wachsender Besorgnis registriert. Bereits im Februar 1995 war ein Zuschauer vor dem Stadion von Drancy erschossen worden.“ (Le Monde, 11./12. April 1999)

Die sentimentalen „Sportskameraden“, die uns das Hohelied von der friedlichen Integrationskraft des Sports in allen Tonlagen vorsingen, sollten uns erklären, warum sportliche Wettkämpfe in „benachteiligten Stadtvierteln“ stets ein bürgerkriegsähnliches Klima heraufbeschwören und mit rassistischen Beschimpfungen, vorausgeplanten Attacken und blutigen Racheakten enden? Warum herrscht in und vor den Stadien regelmäßig eine Art Belagerungszustand, der vielfach in tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Krawallmachern und Bereitschaftspolizei mündet? Ist die beeindruckende Präsenz der Ordnungskräfte bei großen Spielen wirklich nur eine unbedeutende Begleiterscheinung? Kann man allen Ernstes davon ausgehen, dass das Schauspiel der Gewalt, das die Blutgrätscher Woche für Woche auf dem Spielfeld bieten, die kriegerischen Horden der Schlachtenbummler nicht aufstachelt? Und dass Letztere nur die nebensächliche Begleiterscheinung eines ansonsten sauberen Spiels sind?

Nach den schweren Zwischenfällen im Stadion von Marseille zwischen den Gastgebern und den Spielern aus Monaco musste die französische Sportministerin Marie-George Buffet einräumen, dass die „Vorbildfunktion“ der Fußballstars nichts als eine Wunschvorstellung ist: „Welch ein Vorbild für die Jugend, wenn sich ihre Idole im Kabinengang eines Stadions prügeln.“ (Le Monde, 12. April 2000)

Solche Vorbilder für die Jugend gibt es haufenweise in allen Ländern. Beispiel Deutschland: „Mehr als 100 Personen, darunter 27 Polizisten, wurden verletzt, als Schlachtenbummler vor, während und nach einem Regionalliga-Spiel zwischen Offenbach und Mannheim aufeinander losgingen.“ (Libération, 16. Mai 1999)

Beispiel Tunesien: „Beim Halbfinale der tunesischen Landesmeisterschaft [...] flogen die Steine. Nach Angaben der tunesischen Behörden starben im Laufe einer ‚Schlägerei zwischen Hooligans‘ drei Menschen, zehn weitere wurden verletzt. Inoffizielle Quellen sprechen von 21 Toten und zahlreichen Verletzten.“ (L'Express, 8. Juli 1999)

Beispiel Russland: „Die Moskauer Fußballvereine ZSKA und Spartak haben ihre Fans am Freitag vor dem Spiel über die Presse aufgerufen, Ruhe zu bewahren. Die Fans der beiden Vereine pflegen einen Hass aufeinander, der in den vergangenen Jahren immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen führte. Erst letzten Samstag kamen in Sankt Peterburg zwei Fans der Gastgeber bei gewalttätigen Zusammenstößen mit Dynamo-Moskau-Anhängern ums Leben (Libération, 22./23. April 2000)

Beispiel England: „Beim Halbfinale im UEFA-Pokal zwischen Leeds United und dem türkischen Verein Galatasaray kam es erwartungsgemäß zu schweren Zusammenstößen, nachdem beim Hinspiel in Istanbul zwei britische Schlachtenbummler den Tod gefunden hatten. Die Ausschreitungen geben einen Vorgeschmack auf das, was die Polizei bei der Euro 2000 erwartet, die im Juni in Belgien und den Niederlanden stattfindet.“ (Libération, 22./.23. April 2000)

Live übertragene Zusammenstöße zwischen fanatischen, vielfach von Rechtsradikalen unterwanderten Banden, hasserfüllte Schlägereien, Ausschreitungen und Vandalismus, Mord und Totschlag gehören mittlerweile in allen Ländern und auf allen Wettkampfebenen zum Fußballalltag. Aber solche Zustände herrschen mittlerweile auch in anderen Sportarten, selbst in jenen, die man dagegen immun glaubte, wie etwa Tennis.9

Vorbilder sind die „Idole der Jugend“ auch mit Blick auf die allgemein verbreitete Doping-Praxis. Ob Radsport, Gewichtheben oder Leichtathletik, ob Schwimmen, Rugby, Handball, Basketball, Eiskunstlauf oder Judo – keine Sportart scheint vor der verheerenden politischen Ökonomie der Droge sicher zu sein.

Als dritter ideologischer Faktor, der den professionellen Sport vor Kritik schützt, muss man auf die zahlreichen Politiker, Hochschullehrer, Journalisten und Meinungsführer verweisen, die von einer „Sportkultur“ schwärmen, die sie der Öffentlichkeit als Religionsersatz andienen. Dem falschen Bewusstsein huldigen die bedingungslosen Diener des Profisports in Eintracht mit den Minnesängern des Humanismus, die in Frankreich namentlich in der „pluralen Linken“ zu finden sind. Anstatt vom real existierenden Sport zu sprechen, fantasieren sie sich ein Idealbild von einer reinen, friedlichen Sache zusammen, die der Erziehung unserer Jugend dienlich und den Staatsbürgertugenden förderlich sei. Von der Geschäftemacherei will keiner etwas wissen.

Die einen bewundern – aus der angeblich neutralen Sicht des Anthropologen – das Ritual des Wettbewerbs, die kämpferischen Leidenschaften, den Leistungskult, den Sportsgeist, das sportliche Vergnügen, und geißeln jeden kritischen Ansatz, der sich vom trügerischen Schein der Spiele nicht hinters Licht führen lässt.

Die anderen verteidigen die „Sportkultur“ gegen die negativen Auswirkungen des „sozialen Umfelds“. Dieselben Leute, die uns die Wohltaten der Freizeitgesellschaft schmackhaft machen, preisen nun den zivilisatorischen Wert der Sportkultur: „Sie ist eine von Grund auf humanistische Angelegenheit, die allerdings durch alle möglichen Interessen, Leidenschaften und Vorurteile entstellt, deformiert und pervertiert werden kann. Nur wenn sie sich standhaft gegen diese Anfechtungen wehrt, wird sie sich halten und auf die Gesellschaft ausstrahlen können.“10

Das Gerede von der Sportkultur hat binnen kurzem Eingang in die Regierungspropaganda gefunden. Der ehemalige französische Bildungsminister Claude Allègre etwa, der ständig die „staatsbürgerlichen Werte“ und die „erzieherische Bedeutung“ der „Sportkultur“ lobte, machte kurz vor seiner Abdankung die anbiedernde Aussage: „Ich habe als aktiver Sportler genauso viel gelernt wie beim Besuch von Schulklassen. Wenn ich könnte, würde ich es für alle Kinder zur Pflicht machen, einen Mannschafts- und einen Einzelsport auszuüben.“11 Fragt sich nur, welche Art von Sport er dabei im Auge hatte: den „sozialistischen“ Kasernensport, wie er heute noch in China praktiziert wird, den „liberalen“ Sport der korrupten Funktionäre und Steuerhinterzieher12 , den Sport der Pillen- und Spritzendealer13 oder den Sport der modernen Menschen- und Sklavenhändler14 .

Am Vorabend der Euro 2000, der Tour de France und der Olympischen Spiele von Syndey sollten wir uns klar machen, dass der institutionalisierte Sport in die Ära krimineller Globalisierung eingetreten ist. In einer Welt, die vom neoliberalen Fundamentalismus dominiert wird, arbeiten die oligarchisch organisierten Funktionäre mittlerweile ganz offen mit Interessengruppen zusammen, die den Sport in ein pures Geschäft jenseits von Moral und Gesetz verwandelt haben. Dem Evangelium der Rentabilität und der Herrschaft verpflichtet, sind sämtliche Akteure des professionellen Sports längst zu Agenten oder Nutznießern einer wild wuchernden Kapitalakkumulation mutiert.

Und so ist es kein Wunder, dass das Gesetz des globalisierten Dschungels auf eine weitere mafiöse Deregulierung setzt. Und dass die Logik des Immer-mehr (an Rekorden, Zuschauern, Wettkämpfen und Profiten) in einen Wettlauf ohne Ende mündet, der mit allen möglichen kriminellen Methoden verquickt ist: (Internet-) Handel mit den einschlägigen Drogen und Dopingmitteln; Geldwäsche und Steuerhinterziehung; Ein- und Verkauf von „Muskelsklaven“, organisiert von skrupellosen Menschenhändlern und eingefädelt von ehrenwerten Impresarios; Bestechung, Korruption und faule Geschäfte aller Art. Diese Art von Sport muss man uns nicht als „Pflichtprogramm“ verordnen, er ist es bereits.

dt. Bodo Schulze

* Professor für Soziologie an der Universität Montpellier-III.

Fußnoten: 1 „Vor einer Woche erklärte der Mountainbiker Jérôme Chiotti in der Monatszeitschrift Vélo, er habe die Weltmeisterschaft 1996 nur durch Einnahme von Dopingmitteln gewonnen. Chiotti wurde vom Radsport-Weltverband inzwischen mit einer Disziplinarstrafe belegt. Wie Chiotti weiter zugab, hat er im Juli vergangenen Jahres die französische Meisterschaft nach Absprache mit seinem Gegner Miguel Martinez gewonnen.“ (Libération, 28. April 2000) 2 Siehe die Berichte in Le Monde vom 16. Dezember 1998, vom 13. Februar 1999 und vom 17. September 1999. 3 „Die Gazzetta dello Sport veröffentlicht in ihrer Samstagsausgabe die Liste der Weihnachtsgeschenke, mit denen AS Rom die Schiedsrichter bedachte. Goldene Uhren im Wert von 85 000 Franc gingen an die beiden Funktionäre des Fußballverbands, die mit der Ernennung der Schiedsrichter betraut sind. Silberne Uhren waren für die 36 Schiedsrichter bestimmt, die übrigen für die Linienrichter [...]. Bislang haben sechs weitere Vereine Weihnachtsgeschenke an Schiedsrichter eingeräumt. (Libération, 10. Januar 2000) 4 France Soir, 11. Mai 1999. 5 Siehe „La barbarie olympique“, Quel Corps?, Nr. 36 (September 1988), siehe auch „Le sport, c'est la guerre“, Manière de voir, Nr. 30 (Mai 1996). 6 „L'illusion sportive. Sociologie d'une idéologie totalitaire“, Les Cahiers de l'IRSA, Nr. 2 (Februar 1998), Universität Montpellier-III. 7 Le Monde, 23. Juni 1998. 8 „Football connection“, Quel Corps?, Nr. 40 (Juli 1990). 9 Siehe „Coupe Davis: Graves incidents lors du match Chili-Argentine“ (Le Monde, 11. April 2000). 10 Joffre Dumazedier, „De la culture sportive“, STAPS, Revue Internationale des sciences du sport et de l'éducation physique, Nr. 44 (Dezember 1997), S. 97. Siehe auch Joffre Dumazedier, „Vers un civilisation du loisir“, Paris (Éditions du Seuil) 1962. 11 „Claude Allègre veut développer la ,culture sportive‘ “ (Le Monde, 14./15. November 1999). 12 Zwei Beispiele unter vielen anderen: „Der CSP Limoges muss seinen Größenwahn teuer bezahlen. Nach der Inhaftierung von sechs Vorstandsmitgliedern steckt der beste Basketball-Verein der Achtzigerjahre in einer Krise, die für ihn das Aus bedeuten könnte.“ (Le Monde, 19. Januar 2000). „Fußball. Ein Gutteil der Spielerhonorare wird am Fiskus vorbeigeschleust. Die spanischen Vereine haben das Finanzamt auf dem Hals.“ (Libération, 17. April 2000) 13 Jean-Pierre de Mondenard und Jean-Marie Brohm, „Drogues et dopages“, Paris (Chiron) 1987. 14 „Fußball. Zweifelhafte Zwischenhändler bieten französischen Vereinen Minderjährige an. Afrikanische Kinder billig abzugeben“, Libération, 22. November 1999. 15 „La fièvre du foot business“, Capital, Nr. 79 (April 1998), Paris.

Le Monde diplomatique vom 16.06.2000, von JEAN-MARIE BROHM