Von Ungarn bis Chiapas
DAS ungarische Gesetz vom 7. Juli 1993 stellt das fortgeschrittenste aktuelle Experiment mit dem Prinzip der kulturellen Autonomie dar. Es bietet den im Lande ansässigen Minderheiten einen bemerkenswerten Schutz. Seine Präambel verdeutlicht die Intention der Verfasser: „Die Nationalversammlung erklärt, dass sie das Recht auf nationale und ethnische Identität als integralen Bestandteil der universalen Menschenrechte versteht, dass sie die spezifischen individuellen und kollektiven Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten als grundlegende Rechte und Freiheiten der Bürger anerkennt und dass sie sich für deren Einhaltung in der Republik Ungarn verbürgt.“ Artikel 2 untersagt jede Politik, die „auf die Assimilation der Minderheiten abzielt oder deren Ziel bzw. Teilziel oder Resultat eine Änderung der ethnischen Zusammensetzung der von Minderheiten bewohnten Gebiete darstellt.“
Um „die aus dem Minderheitenstatus resultierende Benachteiligung auszugleichen“, sieht das Gesetz sogar eine positive Diskriminierung vor – eine in Europa bisher kaum praktizierte Methode, die der amerikanischen affirmative action entspricht. Laut Artikel 6 kann die Zugehörigkeit zu einer Minderheit nur auf einer freien Entscheidung beruhen; das Recht, sich zu einer Minderheit zu bekennen, wird in vollem Ausmaß respektiert. Das Gesetz benennt sodann die individuellen Minderheitenrechte (Art. 9 bis 12) und die kollektiven Rechte (Art. 13 bis 18) sowie die für ihre praktische Umsetzung erforderlichen Instrumente. Für eine zerstreut siedelnde Minderheit sieht dieser großzügige und konkrete Gesetzestext eine Kombination aus Kulturautonomie auf territorialer Ebene (die Minderheit muss mindestens 5 Prozent der lokalen Bevölkerung ausmachen) und Kulturautonomie auf Gemeinschaftsebene vor. Die Minderheiten, die auf Gemeindeebene als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert sind, werden auf nationaler Ebene von einem Ausschuss (mit vorwiegend beratendem Charakter) vertreten, der im Bereich des zweisprachigen Unterrichts mit den Behörden kooperiert.1
Die militanten Indios im mexikanischen Chiapas sind hinsichtlich der personalen Autonomie offenbar ebenfalls von europäischen Ideen beeinflusst. So garantieren die Verträge über die Rechte und die Kultur der Indios vom 16. Februar 1996 zwischen den Zapatistas und der mexikanischen Bundesregierung in Artikel 5 C-2-51 „die Anerkennung der Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts in der nationalen Gesetzgebung, ihr Recht, sich frei zu Gemeinden mit mehrheitlicher Indiobevölkerung zusammenzuschließen, sowie das Recht der einzelnen Gemeinden, sich untereinander zusammenzuschließen mit dem Ziel, ihr Handeln als Indiodörfer zu koordinieren.“ Die aktuelle politisch-militärische Lage hat die Umsetzung in die Praxis bislang leider verhindert.
Y. P.