Für den Osten wird es teuer
Von CATHERINE SAMARY *
DIE Europäische Union (EU) steht vor einer folgenreichen Entscheidung. Mit der Festlegung ihrer geopolitischen und wirtschaftlichen Grenzen bestimmt sie zugleich ihre Identität. Aus osteuropäischer Sicht werden die Fünfzehn nach wie vor als das wahrgenommen, was sie sind: als Kernregion der entwickelten kapitalistischen Welt, in der die Bevölkerung die größten Freiheiten und sozialen Vergünstigungen genießt, die aus über hundert Jahren Arbeiterkämpfen und dem Widerstand gegen den Faschismus resultieren, zugleich aber auch eine Hinterlassenschaft des Kalten Krieges sind, der sich auch auf dem Terrain der sozialen Errungenschaften abspielte. Und selbst der Euro ließ sich als ein Mittel des Widerstands gegen die liberale Globalisierung ausgeben, die von den angelsächsischen Ländern unter Hegemonie des Dollars vorangetrieben wird. Doch nun müssen die Bevölkerungen Osteuropas feststellen, dass die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) durchgesetzten Veränderungen dieselben sind, die auch die Europäische Kommission fordert.
Die Europäische Union, dieses nach Jacques Delors „nicht identifizierte institutionelle Objekt“, ist in Wirklichkeit das Ergebnis einer Reihe von politischen Entscheidungen, die in Abkommen fixiert sind und den einzelnen Regierungen erlauben, ihre eigenen Entscheidungen hinter solchen zu verstecken, die „anderswo“ getroffen werden. Die EU gehorcht einer benennbaren Logik, die auch in der WTO vorherrscht. Sie unterstellt einen regulierenden Markt und setzt zuvorderst auf die Konkurrenz. Diese „Ideale“, nach denen auch die Schlichtungsorgane der WTO funktionieren, werden von der Europäischen Kommission rundum verteidigt – und den osteuropäischen Beitrittskandidaten aufgezwungen. Für die Regierungen dieser Länder – zumal, wenn sie sich als links verstehen – ist die Aussicht auf den EU-Beitritt der Zucker, der die bittere Pille der Strukturanpassungen versüßen soll, wenn auch mit abnehmendem Erfolg.
Auf dem Gipfeltreffen von Kopenhagen (21./22. Juni 1993) wurden drei wichtige Kriterien für die Erweiterung der Union festgelegt: eine stabile demokratische und politische Ordnung, die insbesondere den Minderheitenschutz beinhaltet; eine funktionierende Marktwirtschaft, die in der Lage ist, „unter dem Konkurrenzdruck und den Marktkräften zu bestehen“; und schließlich die vollständige Übernahme des zum gegebenen Zeitpunkt gültigen acquis communitaire (also der gemeinsame Bestand politischer Prinzipien). Doch laut dem letzten Bericht des Generalkommissariats für Planung „verleiht das Recht, einen Beitrittsantrag zu stellen, noch nicht das Recht auf Beitritt“1 .
Das erste, politische Kriterium ist am leichtesten zu erfüllen und am allgemeinsten akzeptabel – auch wenn es, von der Frage des Pluralismus abgesehen, nicht einer gewissen Willkür entbehrt.2 Das zweite Kriterium leidet unter den Folgen der Strukturanpassungen nach kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Logik und den Privatisierungsprogrammen. Der radikale Systemwechsel und die neuen Spielregeln haben einen sozialen und wirtschaftlichen Zerfallsprozess bewirkt, der leider nicht allein auf das Versagen der Bürokratie zurückgeht.3 Statt Osteuropa „für die Konkurrenz zu wappnen“ und den Lebensstandard zu heben, wird der Entwicklungsabstand zwischen den Ländern und den Regionen innerhalb der Länder immer größer, was zur weiteren Verarmung der breiten Bevölkerungsmehrheit führt. Das leitet zur Frage nach dem dritten Kriterium über.
Zum acquis communitaire gehören namentlich die Gemeinschaftliche Agrarpolitik, die derzeit völlig umgemodelt wird, und die Strukturfonds, die als Hilfe für die ärmsten Regionen der Union gedacht sind. Welche Regeln und Rechte erwarten die neuen Beitrittskandidaten, die noch stärker landwirtschaftlich geprägt und noch ärmer sind als die gegenwärtigen Mitglieder? Die Sparpolitik dürfte sich auch auf den „Besitzstand“ auswirken, der auf mehreren tausend unverdaulichen Seiten ausformuliert ist. Sie gilt nicht nur für die einzelnen Mitgliedsländer (Maastricht-Kriterien, Budgetstabilitätspakt), sondern auch für die Union selber. Während die Vereinigten Staaten über einen Bundeshaushalt verfügen, der bei 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegt, und die US-amerikanische Zentralbank eine wesentlich flexiblere Politik betreibt als die Europäische Zentralbank, haben die Fünfzehn im März 1999 bei den Verhandlungen über die Agenda 2000 beschlossen, die Ausgaben unter 1,27 Prozent des aggregierten BIP der Union zu halten.
Dieser Rahmen wurde angesichts der Kosten des Kosovokrieges und des Stabilitätspakts für Südosteuropa, die von den Regierungen der Nato zu tragen waren, bereits gesprengt. Indem sich die Union weigert, ihre Ressourcen zu erhöhen (z. B. durch eine Besteuerung spekulativer Finanztransaktionen), schließt sie aus, dass den neuen Beitrittskandidaten dieselbe Hilfe zukommt wie den zuvor beigetretenen Ländern. Und zudem sieht es so aus, als könnten die an den Osten gehenden Mittel dem Süden entzogen werden.
Im Innern wie nach außen dominiert in der Union ein ganz bestimmtes Verständnis von „Sicherheit“ auf dem europäischen Kontinent. Demnach hängt Sicherheit nicht so sehr vom Wohlstandsniveau und der Angleichung des Lebensstandards nach oben ab als vielmehr von der Beseitigung aller sozialen Schutzmechanismen zugunsten der umfassenden Unterwerfung unter den Wettbewerb bei gleichzeitiger Minimierung der Sozialkosten und der Kapitalbesteuerung. Werden die Stacheldrahtgrenzen des Schengener Abkommens und der Nato ausreichen, um all die nationalistischen Konflikte und die verzweifelte Migration aufzuhalten, die durch die Verschärfung des Entwicklungsabstandes zusätzlich verschärft werden?
Der Bericht des Generalkommissariats für Planung zeugt von der Euphorie eines selbstbewussten dogmatischen Denkens: „Die beste Umgebung für die Wirtschaft“ (gemeint sind Privatisierungen und marktwirtschaftlicher Wettbewerb) werden „eine bessere Nutzung von Kapital und Arbeit“ erlauben und lassen Wachstumsraten „zwischen 5 und 6,5 Prozent“ erwarten. Das Bulletin der staatlichen Pariser Hinterlegungs- und Konsignationszentralkasse räumt Anfang 2000 mit einem solchen Optimismus auf: „Das durchschnittliche Wachstum dieser Region [der zehn osteuropäischen Beitrittskandidaten] dürfte letztlich (beim BIP in Dollar) zwischen 1,7 und 2 Prozent liegen, nachdem es sich Anfang des Jahres der Nullprozentgrenze angenähert hat. Damit steht das schlechteste Ergebnis seit den im Jahr 1993 verzeichneten 0,8 Prozent bevor.“
Angesichts des systematischen Handelsbilanzdefizits all dieser Länder gegenüber der EU heißt es in dem Bericht weiter: „Längerfristig scheint offensichtlich, dass die Unfähigkeit der osteuropäischen Länder, ihre Exporte so weit zu steigern, dass sie ihre Bedürfnisse decken können, ein Problem darstellt.“ Dabei handelt es sich also um die Länder, die nach den Kopenhagener Kriterien in der Lage sein sollten, „dem Druck des Wettbewerbs standzuhalten“. Die Autoren fragen zu Recht: „Kann man diese Fähigkeit Ländern bescheinigen, deren Exporte zum Teil weniger als zwei Drittel der Importe ausmachen?“ Und weiter: „Ist das Aufholen des Lebensstandards mit der Stabilisierung der Wirtschaft dieser Länder vereinbar?“4 Was die Ökonomen hier allen Ernstes als „Stabilisierung“ bezeichnen, sind Programme einer vorrangigen Inflationsbekämpfung, die einer weiteren Einschränkung der Wirtschaftskredite und der öffentlichen Ausgaben gleichkommen.
Das Treffen des Europäischen Rats in Helsinki von Dezember 1999 markierte eine Wende: Die Beitrittsverhandlungen, die zunächst in zwei Schüben erfolgen sollten, sollen fortan allen Kandidaten offen stehen, die das erste (das politische) Kopenhagender Kriterium erfüllen, ohne dass dies eine Verpflichtung auf einen bestimmten Zeitplan impliziert.5 Die Fortschritte, aber auch die Rückschritte – die selbst bei Ländern des ehemals „ersten Schubes“ zu verzeichnen sind – werden in jedem einzelnen Fall geprüft.
Dabei gibt es beträchtliche Schwierigkeiten, und zwar von beiden Seiten, denn die Ausgangsbedingungen sind keineswegs geklärt: Welchem Projekt sollen die Kandidaten beitreten? Von welchem acquis communitaire kann man zum Beitrittszeitpunkt ausgehen? Welche Ziele will man sich setzen, was bedeutet dies für das Budget? Und schließlich: Wann wird man beginnen, die Politik der Strukturanpassungen in Frage zu stellen, die zur Verarmung der breiten Bevölkerungsmehrheit in Osteuropa führt, also den Beitritt dieser Länder teurer macht und in weitere Ferne rücken lässt? Es ist höchste Zeit, sich den europäischen Kontinent (der nach Süden und Osten offen ist) als künftiges Reservoir des globalen Kampfes für Menschen- und soziale Rechte vorzustellen – und nicht etwa als Beschleunigungskammer für die liberale Globalisierung.
dt. Birgit Althaler
* Dozentin an der Universität Paris-Dauphine, assoziierte Forscherin am Centre Reformes et Ouvertures des systèmes économiques (post)socialistes (Roses) und Autorin von „Die Zerstörung Jugoslawiens. Ein europäischer Krieg“, aus d. Franz. v. Birgit Althaler, Köln (Neuer Isp-Verlag) 1995.