16.06.2000

Die Ethnisierung der belgischen Muslime

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Die Ethnisierung der belgischen Muslime

 VonLIONEL PANAFIT *

AM 13. Dezember 1998 konnten die belgischen Muslime an einem für Europa einzigartigen Ereignis teilnehmen: Sie waren aufgefordert, sich an der Wahl ihres „Zentralen Kultusorgans“ zu beteiligen. Eines der Hauptprobleme, die es zu lösen galt, bestand darin, dass die islamischen Gemeinden in ihrer ganzen Vielfalt bei dieser Abstimmung vertreten sein mussten. Die Muslime Belgiens unterscheiden sich zum einen nach ihren Herkunftsländern (85 Prozent stammen aus Marokko und der Türkei, die anderen aus Albanien, dem Iran und Senegal), zum anderen danach, ob sie der ersten oder der zweiten Einwanderergeneration angehören und ob sie praktizierende Gläubige sind oder nicht. Diese Verästelungen sollten sich im Zentralen Kultusorgan spiegeln, denn darauf allein – so die muslimischen Organisatoren und die belgischen Behörden – konnte seine Legitimität beruhen.

So wurden, auf der Grundlage der letzten Volkszählung, die Kandidaten und die 51 Mandate in so genannte nationale Wählerschaften unterteilt (die marokkanische, die türkische sowie eine für sonstige Nationalitäten und eine für Konvertierte). Dabei wurde den Konvertierten ein Bonus eingeräumt mit dem Ziel, den gesamtbelgischen Charakter des neuen Organs zu verstärken. Überdies sollten weitere 17 Personen durch Kooptierung hinzukommen, womit man Problemen begegnen wollte, die nach der Abstimmung auftreten und mit der mangelnden Vertretung bestimmter Gruppen (vor allem der Frauen und jungen Menschen) zu tun haben könnten.

Während das aktive Wahlrecht leicht zu erhalten war (man musste das achtzehnte Lebensjahr erreicht haben, seit mindestens einem Jahr in Belgien leben und erklären, Muslim zu sein), wirkten die Voraussetzungen für das passive Wahlrecht vergleichsweise anspruchsvoll: Das Mindestalter betrug fünfundzwanzig Jahre; der Bewerber musste nicht nur seit wenigstens fünf Jahren in Belgien leben, sondern auch eine der Landessprachen beherrschen und eine abgeschlossene Schulausbildung nachweisen; er durfte zudem weder einen Diplomatenpass noch ein politisches Mandat besitzen und hatte schließlich schriftlich seine Loyalität gegenüber den belgischen Institutionen zu erklären.

Die Durchführung der Wahlen war ein echter Erfolg: 70 000 Personen hatten sich in die Listen eintragen lassen, das sind rund zwei Drittel der potentiellen Wählerschaft1 , und 64 Prozent haben dann auch in einer der 105 Moscheen oder einem der 15 öffentlichen Gebäude (wie Rathäuser und Schulen), die als Wahllokal dienten, ihre Stimme abgegeben. Als enttäuschend, mitunter gar problematisch entpuppte sich dagegen die Zahl der Kandidaten (263, darunter 17 Frauen): Als Vertreter der Konvertierten, denen neun Sitze zugestanden worden waren, traten lediglich acht Kandidaten an.

Im Januar 1999 traten die 51 gewählten und die 17 kooptierten Vertreter zu einer konstituierenden Versammlung zusammen, deren Mandat für zehn Jahre gilt. Innerhalb dieser konstituierenden Versammlung wurde in einem zweistufigen Abstimmungsverfahren das Zentrale Kultusorgan gewählt – wobei die Kandidaten vom Justizministerium (das für kirchliche und religiöse Fragen zuständig ist) und vom belgischen Verfassungsschutz gebilligt werden mussten. Am Ende dieses Wahlverfahrens gründete sich die „Exekutive der Muslime Belgiens“, die aus siebzehn Mitgliedern besteht (sieben Marokkaner, vier Türken, drei Belgier, drei Angehörige sonstiger Nationalitäten) und am 3. Mai 1999 vom König anerkannt wurde.

Gestärkter Stolz

MIT dem 13. Dezember 1998 schienen fünfundzwanzig Jahre mitunter heftig geführter Debatten auf demokratische Weise ihren Abschluss zu finden. Denn mit der Wahl wurde das am 19. Juli 1974 vom belgischen Parlament einstimmig verabschiedete Gesetz umgesetzt, das – erstmalig in Europa – dem Islam einen öffentlichen Status zuerkannte, aber bis dahin toter Buchstabe geblieben war. Gesprochen wurde im Übrigen von einem historischen Tag, den diese Wahlen darstellten. Es ging um weit mehr als um eine einfache Abstimmung. Le Soir schrieb, die Wahl bedeute eine Anerkennung der Tatsache, dass Muslime in Belgien leben. La Libre Belgique titelte: „Mit ihren jetzt gewählten Vertretern haben die Muslime auch ihren Stolz gestärkt.“ Und La Dernière Heure sprach von einem Urnengang, „der ein schlechtes Image abbauen“ müsste. Im Ausland unterstrich die Presse den exemplarischen Charakter dieser Abstimmung, insbesondere für Frankreich (Le Monde).

Exemplarisch? Vielleicht – doch nur wenn man diese Wahl ausschließlich unter ihrem verfahrenstechnischen Aspekt sieht und von allen Intentionen und Strategien absieht, die sie bestimmt haben. Es fängt schon damit an, dass keine juristische Grundlage für das Prozedere existiert. Ohne sich in juristischen Spitzfindigkeiten zu verlieren, muss zunächst geklärt werden, was der Begriff der Repräsentation in Belgien bedeutet.

Die Verfassungsgeber von 1830 erklärten die Neutralität des Staates in Fragen der Religion: Keine Glaubensgemeinschaft wird als politische Kraft anerkannt, und die Behörden erlauben sich keinerlei Einmischung in konfessionelle Angelegenheiten. Dennoch steht dem Staat die Möglichkeit offen, sich an den Gehältern des Klerus zu beteiligen und für Defizite solcher Einrichtungen aufzukommen, denen die Verwaltung und Erhaltung beispielsweise einer Kirche oder Synagoge obliegt. Diese Bezuschussung lokaler Glaubensgemeinschaften muss von Fall zu Fall durch den König bewilligt werden.

Um zu verhindern, dass diese Defizite durch Ausgaben verursacht werden, die die Möglichkeiten der jeweiligen Gemeinde sprengen, wurden zwei Rechnungskontrollinstanzen benannt: Bei Ausgaben, die den Kultus nicht unmittelbar betreffen (Strom und Material), übernehmen die Provinzen die Kontrolle; zur Überprüfung der anderen Unkosten wurde beispielsweise, ganz im Sinne der Neutralität des Staates, die protestantische Synode oder das israelitische Konsistorium als Repräsentant der jeweiligen Glaubensgemeinschaft anerkannt.

Rechtlich gesehen vertritt ein solches Organ also nicht die Angehörigen eines Glaubens, sondern nur diejenigen – vom König anerkannten – moralischen Personen, die die Güter eines Gotteshauses verwalten. Erstaunlicherweise nun handelt es sich bei dem 1999 ernannten Zentralen Kultusorgan der Muslime um den „Repräsentanten“ von Gruppen, die als solche nicht existieren, denn es gibt kein offiziell gegründetes und anerkanntes islamisches Komitee. Hinzu kommt noch, dass – anders als für die anderen Religionen – der belgische Gesetzgeber für den Islam den Begriff der Repräsentation nicht näher definiert hat: Erst zwei Monate vor der Anerkennung des Exekutivorgans und vier Monate nach den Wahlen wurde das Gesetz von 1974 in aller Eile modifiziert und um einen Artikel über die Vertretung der islamischen Komitees ergänzt.

Diese juristische Kritik ist insofern von Bedeutung, als sie wichtige Aspekte zu verstehen hilft, die durch den demokratischen Charakter der Wahlen vom Dezember 1998 nur verdeckt werden: die mögliche Instrumentalisierung dieser Institutionalisierung des Islam und die allgemeine Verwirrung, die hinsichtlich des Begriffs „Repräsentation“ herrscht, sowie – nicht zuletzt – die Ethnisierung der belgischen Muslime.

Das Thema Islam wurde stets von gesamtstaatlichen Instanzen für sich beansprucht, obgleich es in erster Linie die kommunale Ebene und die unteren Verwaltungsstrukturen betrifft. Die Probleme, die sich für die Muslime bei der Ausübung ihrer Religion stellen (Einrichtung von Friedhöfen und Moscheen etc.), sind im lokalen Bereich angesiedelt. Diesen Aspekt haben die Wahlen völlig außer Acht gelassen, und nichts hat sich daran seither geändert: Anderthalb Jahre nach der Abstimmung hat noch keine Moschee und kein Imam eine staatliche Subvention erhalten.

So bleibt das Gesetz von 1974 nach wie vor toter Buchstabe. Welche Aufgaben die Exekutive der Muslime übernehmen soll, wurde bis heute nicht klar umrissen, und ihre Aktivitäten verfolgen im Wesentlichen das Ziel, die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen.

Tatsächlich wurde über die Frage der islamischen Repräsentation stets nachgedacht, ohne dass die konkreten Probleme der belgischen Muslime in den Blick traten. Das Gesetz vom 19. Juli 1974 beispielsweise wurde auf Initiative des Außenministeriums verabschiedet, als die Ölkrise auf dem Höhepunkt war und partnerschaftliche Beziehungen mit den Öl exportierenden Ländern etabliert werden sollten. Die einzelnen Etappen der Institutionalisierung des Islam folgten den verschlungenen Wegen dieser Ölpolitik: Das Gesetz von 1974 wurde wenige Wochen vor dem geplanten Besuch König Feisals von Saudi-Arabien verabschiedet; die zugehörige Ausführungsbestimmung wurde am 6. Mai 1978, zwei Tage vor einer Europareise seines Nachfolgers König Chalid, im Gesetzblatt bekannt gegeben – und blieb im Übrigen gänzlich folgenlos.

Ein Bonus für die Konvertierten

IN den Achtzigerjahren rückte die Frage der Integration ins Zentrum der Debatte. Im Namen des „Islam in Belgien“ oder auch des „belgischen Islam“ setzte sich allmählich der Gedanke der Einbürgerung und einer Lösung auf gesamtstaatlicher Ebene durch: so wurden die zulässigen religiösen Praktiken ebenso festgelegt (das Tragen des Schleiers etc.) wie etwa die Ausbildungswege für Imame. Im Juni 1990 erfolgte die Anerkennung eines Verhandlungspartners, des „Provisorischen Rates der Weisen“, dessen Mitglieder einzig und allein danach ausgewählt wurden, ob sie an der Einwanderungsdebatte teilgenommen hatten oder nicht. Diese Organisation bildet sogar relativ genau die politische Landschaft Belgiens ab (gleich viele Mitglieder sind den sozialistisch und den christlich ausgerichteten Parteien zugeneigt) und weist auch die Volksgruppen des Landes im entsprechenden Proporz auf (gleich viele Einwohner der flämischen wie der wallonischen Region – obwohl 40 Prozent der Muslime in Brüssel leben).

Nach zahlreichen Skandalen und hitzigen Debatten (um das Tragen des Schleiers und die Gründung einer muslimischen Schule) bemühen sich die verschiedenen Protagonisten seit Mitte der Neunzigerjahre darum, das Thema zu entdramatisieren, indem sie den technischen Aspekt in den Vordergrund rücken. Scheinbar neutral, bleibt auch diese neue Art, das Problem zu formulieren, aufgeladen mit den unterschiedlichsten sozialen und politischen Implikationen. So spiegeln die verschiedenen Wahlregelungen vor allem innerbelgische Auseinandersetzungen wider: die Furcht vor dem islamischen Fundamentalismus (die sich in der Auswahl der Kandidaten durch den Verfassungsschutz zeigt), die Integration des Islam (die ihren Niederschlag im Bonus für Konvertierte findet), das Thema der Einwanderung (das eine Aufteilung in Wählerschaften nach Herkunftsländern statt nach Ritus oder Glaubensrichtung gezeitigt hat), die Ablehnung einer Führung des Islam aus der Diplomatensphäre heraus (festgeschrieben in der Bestimmung der Nichtwählbarkeit von Personen mit Diplomatenpass) und schließlich das Idealbild einer erfolgreichen Integration durch die Schule (das im erforderlichen Nachweis des Spracherwerbs und eines Schulabschlusses zum Ausdruck kommt).

Das belgische Beispiel zeigt vor allem, wie schwierig es ist, die „Repräsentation des Islam“ begrifflich zu erfassen. Hinter diesem scheinbar harmlosen Wort verbergen sich widerstreitende Definitionen. In den Siebzigerjahren erkennen die Behörden im Rahmen einer eher diplomatischen Ausrichtung das „Islamische kulturelle Zentrum“ als Gesprächspartner an, das nichts anderes als ein Stellvertreter der aus Saudi-Arabien stammenden Islamischen Weltliga ist. In den Achtzigerjahren dann sind es nicht Gläubige oder islamische Kulturvereine, welche die Rolle der Vertreter übernehmen sollen, sondern Personen, die für eine gelungene Integrationspolitik stehen. Die Mitglieder des Provisorischen Rats der Weisen sollen durch Beruf und sozialen Rang (als Wissenschaftler, Gewerkschafter, Ärzte und Anwälte) die erfolgreiche Eingliederung der muslimischen Einwanderer in Belgien verkörpern – es sind in der Tat zahlreiche nicht praktizierende Muslime, die in dieser Einrichtung arbeiten – einer Einrichtung, die ausschließlich die Regelung kultischer Angelegenheiten zur Aufgabe hat.

Mitte der Neunzigerjahre wandelt sich der Begriff der Vertretung erneut. Nun geht es darum, die Ethnisierung der Muslime zu befördern, und hierzu haben die Wahlen zum Zentralen Kultusorgan ihr Teil beigetragen. Die Aufgaben der Exekutive bestehen somit keineswegs darin, Fragen des islamischen Glaubens in Belgien zu erörtern oder die praktischen Schwierigkeiten in Angriff zu nehmen, auf die Muslime bei ihrer Religionsausübung im Alltag stoßen. Sie wurde vielmehr geschaffen als Sprachrohr für eine Gruppe von Menschen, die als Muslime bezeichnet werden – ohne Rücksicht auf ihre Überzeugung oder ihre religiöse Praxis.

In der Königlichen Bestimmung vom Mai 1999 heißt es, dass „die Mitglieder der Exekutive der Muslime Belgiens persönlich und als Vertreter der Gesamtheit der Gemeinschaft“ tagen. Wenn am Wahltag öffentliche Einrichtungen wie Rathäuser und Schulen als Wahllokale zur Verfügung gestellt wurden, so stand dabei ein Ziel im Vordergrund: Die säkularen, jeder Moschee fern stehenden Muslime sollten für eine Institution votieren können, deren Aufgabe einzig und allein darin bestehen würde, die Orte ihrer Religionsausübung zu verwalten. Im Übrigen trägt diese jüngst anerkannte Organisation den Namen „Exekutive der Muslime Belgiens“ und erklärt damit eine umfassende Repräsentation – während die Namen anderer Religionsgemeinschaften eine nähere Bestimmung der jeweiligen Glaubensrichtung enthalten (israelitisches Konsistorium, protestantische Synode etc.), ohne dass damit schon die Reichweite der betreffenden Institution angegeben wäre. Auf diese Weise wird eine belgische muslimische Volksgruppe geschaffen.2

Dieser Logik entkommt nur, wer sich Rechenschaft ablegt über die politischen Triebkräfte, die eine Vertretung des Islam einfordern. In Belgien ist es, wie anderswo in Europa, an der Zeit, die politischen und sozialen Implikationen und Phantasmen aus dem Weg zu räumen, die mit dieser Strategie verbunden sind – und die mit den Schwierigkeiten der Muslime im Alltag nicht allzu viel zu tun haben.

dt. Passet/Petschner

* Forscher am Institut d'études politiques in Aix-en-Provence, Verfasser von „Quand le droit écrit l'islam. L'intégration juridique de l'islam en Europe“, Brüssel (Bruylant) 1999.

Fußnoten: 1 35 Prozent der Wähler waren Frauen, und 24 Prozent waren im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. 2 Vincent Geisser, „Ethnicité républicaine“, Presses de la Fondation nationale des sciences politiques 1996.

Le Monde diplomatique vom 16.06.2000, von LIONEL PANAFIT