16.06.2000

Der Mensch lebt nicht vom Markt allein

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Der Mensch lebt nicht vom Markt allein

Wie lässt sich die Globalisierung steuern? Über diese Frage ist in jüngster Zeit eine lebhafte Debatte entstanden, die zuweilen noch heftig oder gar tumultuös verläuft – wie jüngst anlässlich der WTO-Konferenz in Seattle. Aber selbst dort begann sich ein Konsens darüber abzuzeichnen, dass das System des Freihandels nur lebensfähig ist, wenn es das Prinzip der Fairness einschließt. Zu ähnlichen Einsichten hat auch die Finanzkrise in Ostasien am Ende der Neunzigerjahre geführt. Sie stützte die politischen Bemühungen um eine gerechtere Verteilung der Kosten zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern im Falle einer Krise. Mehr noch: Diese Krise hat wahrscheinlich auch den letzten Skeptiker davon überzeugt, dass Märkte, sollen sie effizient funktionieren, in solide Institutionen eingebettet sein müssen. Voraussetzungen sind also klare Besitztitel, Rechtssicherheit, Normen – kurz: ein gewisses Maß an Berechenbarkeit, um Risiken zu minimieren, die sich nicht in Preisen ausdrücken lassen. Deshalb legt man neuerdings erhöhten Wert auf strukturpolitische Maßnahmen wie Bankengesetze und eine wirksame Bankenaufsicht. Und es wird zunehmend als ineffizient – und als unfair – empfunden, wenn die Kosten, die in einem Land aufgrund ungenügender Regelungen entstehen, von anderen Ländern getragen werden müssen. Diese Sichtweise hat sich auch in Bezug auf andere Problemfelder durchgesetzt. Zum Beispiel bei der grenzüberschreitenden Umweltverschmutzung oder bei nachlässigen Reaktionen auf den Ausbruch von Infektionskrankheiten, oder wenn wir menschliches Leid wie Armut oder Menschenrechtsverletzungen zulassen, mit der Folge, dass Asylsuchende und illegale Migranten über die Grenzen drängen. Immer deutlicher wird auch wahrgenommen, dass wachsende Ungleichheit – in ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht – gravierende externe Effekte haben kann. Frustration und Verzweiflung, die aus großen Einkommens- und Wohlstandsunterschieden resultieren, können in Terrorismus, Verbrechen und Gewalt umschlagen und damit zu einer schweren Belastung für die globalen politischen Strukturen werden.

All dies begründet die Forderung nach einer besseren Balance zwischen „privater“ und „öffentlicher“ Dimension: zwischen den Handlungen privater Akteure – bestimmte Staaten, Unternehmen, NGOs oder Personen – und dem allgemeinen Interesse, also dem aller anderen Staaten, Unternehmen, Menschen im globalen Zusammenhang. Damit sind die einzelnen Akteure aufgefordert, mehr Verantwortung für die Folgen ihrer Handlungen zu übernehmen, vor allem für die negativen Folgen. Letztlich bedeutet dies, mehr globale öffentliche Güter verfügbar zu machen.

Globale öffentliche Güter sind keineswegs etwas Neues. Die natürlichen Gemeinschaftsgüter – zum Beispiel die Erdatmosphäre, die Ozonschicht, die Ozeane – waren lange vor den Menschen da. Und internationale Abkommen – wie das über den freien Zugang aller Länder zu den Meeren – gibt es bereits seit dem 17. Jahrhundert. Ihre Zahl vervielfachte sich im 19. und im frühen 20. Jahrhundert, als sich die internationale Wirtschaftstätigkeit über die ganze Welt ausdehnte. Man denke an die Abkommen über die internationale Schifffahrt, die Telekommunikation, die zivile Luftfahrt, den Postverkehr. Mit ihrem multilateralen Charakter und ihrer globalen Reichweite stellen diese Abkommen selbst eine Art von globalen öffentlichen Gütern dar. Sie begründen internationale Ordnungsstrukturen, Regeln und Vorschriften, von deren Existenz tendentiell alle profitieren.

Grenzüberschreitende Herausforderungen

ES gibt zweierlei Arten dieser traditionellen globalen öffentlichen Güter: zum einen solche, die nicht in den Rahmen der einzelnen Länder fallen, wie die erwähnten natürlichen Gemeinschaftsgüter, zum anderen „grenzbezogene“ Angelegenheiten wie Handelstarife, Kapitalverkehrskontrollen oder die militärische Sicherheit. Zusammen machen diese beiden traditionellen Arten von globalen öffentlichen Gütern das aus, was man üblicherweise als „auswärtige Angelegenheiten“ eines Landes bezeichnet. Diese sind nach wie vor wichtig, und vermutlich sogar wichtiger als je zuvor, weil die internationalen ökonomischen Aktivitäten ständig zunehmen und sich neue Herausforderungen wie das Internet stellen.

Doch die globalen Herausforderungen, die heute auf unserer politischen Prioritätenliste ganz oben stehen, repräsentieren eine neue Kategorie globaler öffentlicher Güter, die sich von den anderen unterscheidet. Sie befinden sich nicht „irgendwo außerhalb“ (jenseits der Grenzen); sie sind vielmehr grenzüberschreitend und verlangen nach politischer Konvergenz über die Grenzen hinweg: das heißt nach zunehmender Harmonisierung der nationalen politischen Strategien hinsichtlich öffentlicher Güter – wie etwa saubere Luft, Gesundheit, finanzielle Stabilität, Markteffizienz oder Wissensmanagement –, die nicht mehr allein im inländischen Rahmen produziert werden können. Oder aber es handelt sich um Güter, von denen man nicht länger hinnehmen kann, dass sie – wie die Menschenrechte oder das Gleichheitsprinzip – innerhalb bestimmter nationaler Grenzen nicht hinreichend gewährleistet sind. Anders gefasst: Es geht um die Wirkungen globaler Politik, die eine gemeinsame, grenzübergreifende politische Abstimmung erfordert, aber auch reale Veränderungen, und nicht nur Vereinbarungen auf dem Papier.

Für diesen neuen Typ globaler politischer Güter sind diverse Faktoren maßgeblich. Da ist zum einen die zunehmende Öffnung der einzelnen Staaten, die der Verbreitung globaler Übel Vorschub leistet, also etwa dem Sozialdumping, der Abwertung von Währungen um eines Konkurrenzvorteils willen, gesundheitsgefährdendem Konsumverhalten wie Rauchen u. a. m. Ein anderer Faktor ist die wachsende Anzahl globaler Systemrisiken, die uns zwingen, mehr Rücksicht auf die Grenzwerte der Nachhaltigkeit zu nehmen. Dazu gehören etwa die Gefahren, die sich aus der inhärenten Volatilität der internationalen Finanzmärkte ergeben, oder die Gefahr globaler Klimaveränderungen, oder die politischen Risiken, die aus der explosiv anwachsenden globalen Ungleichheit erwachsen. Ein dritter Faktor ist die wachsende Macht von nichtstaatlichen globalen Akteuren, also der Privatwirtschaft – und hier vor allem der transnationalen Unternehmen – und der Zivilgesellschaft. Beide Gruppen von Akteuren setzen die Regierungen verstärkt unter Druck, um sie zur Einhaltung gemeinsamer Normen und politischer Regeln zu zwingen, von grundlegenden Menschenrechten bis hin zu technischen Standards.

Die meisten dieser Veränderungen sind bereits seit Jahrzehnten in Gang. Vielleicht waren wir so sehr auf die Globalisierung der privaten Aktivitäten und der Marktkräfte fixiert, dass wir das – eigentlich offenkundige – Bedürfnis nach einer entsprechenden Globalisierung der öffentlichen Güter übersehen haben. Zudem ist die kumulative Wirkung, die sich aus der aktuellen Unterversorgung mit diesen Gütern ergibt, erst in jüngster Zeit deutlicher spürbar geworden.

Neuerdings werden sich jedoch politische Analytiker, das politische Führungspersonal und die Öffentlichkeit dieser neuen Kategorie globaler öffentlicher Güter stärker bewusst und beginnen die Notwendigkeit einer konsistenteren politischen Strategie und einer stärkeren internationalen Zusammenarbeit zu begreifen. Aber verfügen die politischen Handlungsträger auch über das nötige Instrumentarium, um diese Herausforderungen zu bewältigen? Offenbar nur in beschränktem Maße.

Das Problem beginnt schon damit, dass kaum jemand weiß, was globale öffentliche Güter eigentlich sind. Wir kennen die Probleme, die aus einer Unterversorgung mit solchen Gütern folgen, aber zumeist fehlen uns noch die Begriffe und Konzepte, mit denen wir diese Probleme beschreiben und analysieren könnten. Deshalb wird zwar häufig über globale Anliegen und Herausforderungen, über globale Themen und Probleme geredet, aber höchst selten über die exakte Beschaffenheit der globalen öffentlichen Güter, die uns fehlen – und über die konkreten Produktionstechnologien, mit denen wir sie erzeugen könnten.1 Für private Konsumgüter gilt, dass die Nachfrage Investitions- und Produktionsanreize erzeugt. Dagegen wird die Nachfrage nach öffentlichen Gütern durch die Befürchtung gedämpft, dass nicht alle Beteiligten ihren angemessenen Kostenanteil übernehmen werden (das free-rider-Problem, siehe den Artikel unten). Um dieses Problem des „kollektiven Handelns“ auf globaler Ebene zu lösen, ist eine neue Auffassung von Kooperation vonnöten, die sich systematisch mit der Frage beschäftigt, wie auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene die nötigen Anreize zu schaffen wären.

Einige globale öffentliche Güter wie „saubere Luft“ (oder bescheidener formuliert: eine Reduzierung des Treibhauseffektes) sind Resulate eines additiven Prozesses, ergeben sich also aus der Summe vieler Beiträge von gleicher Bedeutung. Ein Beispiel: Eine Tonne Treibhausgase, die in Bangladesch oder China weniger in die Atmosphäre gelangt, hat den gleichen Effekt wie eine Reduzierung im selben Ausmaß in Brasilien oder in Peru, in Deutschland oder in den USA. Das Ziel ist offensichtlich nur zu erreichen, wenn alle Akteure sich an die Regeln halten, das heißt einen fairen Beitrag zur Einhaltung der globalen Grenzwerte leisten, indem sie entweder ihre Emissionen tatsächlich reduzieren oder einen gleichwertigen finanziellen Beitrag erstatten. Das kann dadurch geschehen, dass sie anderen Staaten eine entsprechende Summe zahlen, wie es der Verrechnungsmechanismus im Rahmen des so genannten „Clean Development Mechanism“ vorsieht, der 1998 auf der Weltklima-Konferenz in Kyoto vorgeschlagen wurde. Dagegen gibt es andere globale öffentliche Güter, die der Logik des „schwächsten Gliedes“ unterliegen. Unter diese Kategorie fallen etwa vorbeugende staatliche Maßnahmen mit dem Ziel, die Ausbreitung von Epidemien zu verhindern oder dem internationalen Terrorismus zu begegnen. Wenn hier nur ein einziges Land die Präventionskette unterbricht, sind die Bemühungen der anderen zunichte gemacht. Deshalb ist es häufig notwendig, die schwächsten Akteure – beispielsweise durch internationale Hilfe – zu befähigen, das erwünschte Gut tatsächlich zu produzieren. Solche Hilfe nicht zu leisten kann viel teurer kommen, weil dann die resultierenden nachteiligen Folgen beseitigt werden müssen.

Für einige globale öffentliche Güter gilt das Gesetz des „Volltreffers“. Das trifft vor allem auf die Wissensproduktion zu. Das Rad musste nur ein Mal erfunden, der Polio-Impfstoff nur einmal entdeckt werden. Um ein globales öffentliches Übel zu sanieren, sind in der Regel allerdings ungezählte Akteure notwendig, die in einem von unten nach oben durchlässigen Prozess zusammenarbeiten. So müssen Regierungen zusammenwirken, um Umweltbelastungsstandards zu definieren; viele Wissenschaftler müssen motiviert werden, um neue Technologien zu erfinden, für deren Anwendung Unternehmen zu sorgen haben; und schließlich müssen auch die Menschen für die neuen Produktionstechniken und Konsumgewohnheiten gewonnen werden. Organisationen der Zivilgesellschaft wiederum sind nötig, um die Regierungen dazu zu bringen, die Menschenrechte einschließlich der Rechte von Frauen zu respektieren oder einem Verbot von Landminen zuzustimmen – oder auch das Prinzip zu akzeptieren, dass die Globalisierung ein menschliches Gesicht haben kann – und muss.

Ohne ein klares Konzept und ohne Einsicht in die Natur der globalen öffentlichen Güter bleiben die politischen Antworten auf die Herausforderung wahrscheinlich ineffektiv und wirkungslos – wie wir es heute häufig erleben.

Die neue Kategorie globaler öffentlicher Güter übergreift eindeutig die nationalen Grenzen und setzt häufig einen integrierten, abgestimmten Produktionsprozess voraus, an dem die verschiedensten Akteure auf nationaler wie internationaler Ebene beteiligt sind. Dagegen ist die politische Willensbildung in den meisten Ländern noch immer durch eine scharfe Trennungslinie zwischen „Ausland“ und „Inland“ gekennzeichnet. Alle Themen, die nicht die auswärtigen Beziehungen und den Handel oder die territoriale Sicherheit betreffen, gelten als „innenpolitische“. Für die Außenpolitik ist weitgehend die Exekutive zuständig, und hier vor allem das klassische diplomatische Korps. Einige Staaten gehen neuerdings jedoch dazu über, ihren Auslandsvertretungen immer mehr Mitarbeiter zuzuordnen, die nicht dem diplomatischen Dienst angehören, insbesondere Spezialisten für Umwelt, Handel und Finanzen oder für die Bekämpfung von Drogenhandel und Terrorismus.2 Das ändert freilich nichts daran, dass die internationalen Beziehungen im Wesentlichen noch immer technokratisch bestimmt sind.

Obwohl die Bedeutung globaler öffentlicher Güter ständig zunimmt, verhalten sich die Staaten auf internationaler Ebene nach wie vor wie private Akteure: Sie verfolgen ihre Eigeninteressen, weshalb sie als die beste und rationalste Verhaltensweise noch immer das „Trittbrettfahren“ ansehen. Das heißt, sie lassen andere vorangehen und die Versorgung mit einem globalen öffentlichen Gut sicherstellen, um von diesem Gut kostenlos zu profitieren, sobald es existiert. Ein solches Verhalten konnte vielleicht noch als rational gelten, solange die Grenzen relativ abgeschottet waren und internationale Verhandlungen vor allem die auswärtigen Angelegenheiten – also globale öffentliche Güter im traditionellen Sinne – zum Gegenstand hatten. Doch neuerdings geht es dabei immer häufiger um Fragen der globalen Sicherheit, der Nachhaltigkeit, des Wachstums, oder um internationalen gerechten Ausgleich – und damit zwangsläufig auch um die Sicherheit der Menschen auf nationaler Ebene. Unter diesen Bedingungen sind Strategien wie das „Trittbrettfahren“ oft dysfunktional und müssen durch konstruktivere und kooperativere Strategien abgelöst werden.

Allerdings ist die Tätigkeit der nationalen Legislativen im Wesentlichen auf die Innenpolitik beschränkt. In den Delegationen bei internationalen Treffen und Konferenzen sind Abgeordnete der nationalen Parlamente nur in Ausnahmefällen vertreten. Sie kommen also mit internationalen Vereinbarungen häufig erst dann in Berührung, wenn diese bereits unter Dach und Fach sind und nur noch in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Aber manche Parlamentarier kennen vielleicht nicht einmal die weniger formellen Vereinbarungen, die keinen Vertragscharakter haben und daher nicht auf einzelstaatlicher Ebene ratifiziert werden müssen, denn erfahrungsgemäß gibt es auch keine hinreichenden oder regelmäßigen Konsultationen zwischen den Parlamentariern und den Regierungsvertretern, die solche „auswärtigen Angelegenheiten“ auszuhandeln pflegen.

Man kann auch keineswegs davon ausgehen, dass die politischen Akteure auf einzelstaatlicher Ebene immer die grenzübergreifenden Wirkungen ihrer politischen Handlungen im Auge haben. Solcher externen Wirkungen ist man sich im Grunde nur beim Umweltschutz bewusst, dessen Internalisierung (wie die Ökonomen es ausdrücken) allerdings auch ein innenpolitisches Thema ist.

Es kann daher nicht überraschen, dass die Kosten der internationalen Zusammenarbeit sehr oft in der Haushaltsplanung nicht angemessen berücksichtigt werden. Die reicheren Länder bestreiten die Ausgaben für die globalen Haushaltspflichten – etwa die Beiträge für ein internationales finanzpolitisches Krisenmanagement oder für den Schutz der Ozonschicht – häufig aus regulären staatlichen Hilfsprogrammen oder aus Rückstellungen für Katastrophenhilfe. Damit wird die Hilfe für die Armen noch weiter eingeschränkt. In ärmeren Ländern dagegen, die traditionell keine Entwicklungshilfe kennen, stehen oft überhaupt keine Haushaltsmittel für internationale Zusammenarbeit zur Verfügung, auch wenn das Land bei ausreichender Vorausplanung eine gewisse Summe aufbringen könnte.

Das heißt: Selbst wenn morgen der politische Wille vorhanden wäre, sich ernsthaft um Fragen der globalen öffentlichen Güter zu kümmern, würden die Politiker mit ihrem aktuellen Handwerkszeug ziemlich hilflos dastehen. Sie könnten lediglich auf ein paar Analysen und Studien zurückgreifen, oder auf einige wenige Statistiken, die ihnen helfen könnten, die von außen kommenden Einflüsse auf ihr Land oder die von ihrem Land ausgehenden Wirkungen abzuschätzen. Und höchstwahrscheinlich müssten sie sich mit einer Unzahl von Konflikten zwischen den verschiedenen Ministerien herumschlagen und würden kaum über die finanziellen Mittel verfügen, um ihre guten Absichten umzusetzen. Offensichtlich brauchten wir also neue politische Instrumente, um den heutigen und künftigen politischen Entscheidungsträgern zu helfen, die neuen Aufgaben effektiv und effizient anzupacken.

Um für die Herausforderungen der neuen Ära gewappnet zu sein, die eine globalere Politik der öffentlichen Hand erfordert, ist eine neue Dynamik vonnöten, die durch wenige praktische und pragmatische Schritte in Gang gesetzt werden kann. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen gehört die systematische Erforschung der Idee globaler öffentlicher Güter. Das hieße auch, zu analysieren, welche Bedeutung diese Güter für das alltägliche Leben der Menschen haben, etwa zu untersuchen, wie sich Probleme der finanziellen Stabilität auf ihre Arbeitsplätze, auf ihre Ersparnisse und vor allem auf die Sicherheit ihrer Altersversorgung auswirken.

Ebenso wichtig wäre es, die Frage anzugehen, die sich anlässlich der WTO-Konferenz in Seattle herauskristallisiert hat: Globale öffentliche Güter für wen? Eine multilaterale Handelsvereinbarung kann zwar einen erheblichen globalen öffentlichen Nutzen bringen, doch in einer Welt mit äußerst ungleicher Verteilung von Einkommen und Reichtümern dürften viele Akteure keinen Anteil an diesen segensreichen Wirkungen haben, womit sich die bestehende Ungleichheit nur noch verschärfen würde. Entscheidend ist also das Prinzip der Fairness, der Rücksichtnahme auf die besonderen Bedürfnisse der weniger starken Akteure. Zudem müssen außer einer verbesserten Effektivität auch andere Kriterien wie das Prinzip der ökologischen Nachhaltigkeit zum Tragen kommen.

Ein zweiter Reformschritt könnte darin bestehen, dass alle Ministerien oder staatlichen Bereiche, die mit Themen von größerer internationaler Bedeutung zu tun haben, die Planung und Finanzierung der laufenden Vorhaben verstärkt und explizit zweigleisig betreiben. Man müsste also eindeutig bestimmen, welche Aufgaben auf innenpolitischer Ebene anstehen und welche eine internationale Kooperation erfordern. Dann könnte jeder Aufgabenbereich vollständig durchkalkuliert und im Haushalt vorgesehen werden. Damit wäre endlich auch die traditionelle Kluft zwischen „innen-“ und „außenpolitischen“ Themen zu überwinden.

Ein solcher Schritt würde allerdings nur dann politisch unterstützt und parlamentarisch abgesegnet, wenn die Parlamentarier mehr systematische Aufmerksamkeit darauf verwenden würden, diese Kluft zu überbrücken, und wenn sie ihre politischen Entscheidungsbefugnisse und ihre legislative Macht flexibler einsetzen würden. Die Tatsache, dass der Nationalstaat territorial definiert ist, schließt nicht aus, dass die nationalen Parlamente mehr Beweglichkeit entwickeln. Sie könnten also da, wo es angebracht ist, einige ihrer Entscheidungskompetenzen auf internationaler Ebene nutzen, indem sie etwa an internationalen Vereinbarungen mitwirken, aber auch innenpolitisch, etwa bei der Formulierung der einzelstaatlichen Ausführungsbestimmungen und anderer Gesetzesvorhaben, die solche internationalen Verträge auf nationaler Ebene ergänzen müssen. Um sich zu befähigen, an der internationalen politischen Willensbildung stärker mitzuwirken, könnten die Parlamentarier supranationale Netzwerke bilden und sich um erweiterte Partnerbeziehungen in Fragen einer globalen öffentlichen Politik bemühen. Die Internationale Parlamentarische Union (IPU) hat für solche Initiativen bereits den Begriff „parlamentarische Diplomatie“ erfunden.

Auf längere Sicht könnte man sich Delegationen aller Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (UN) vorstellen, die vorwiegend von Abgeordneten der nationalen Parlamente gestellt und geleitet werden, zum Beispiel von den Vorsitzenden der parlamentarischen Ausschüsse. Auf diese Weise könnte sich die UN zu einer inter-parlamentarischen Körperschaft entwickeln, die eine politische Überwachungsfunktion wahrnimmt. Die Delegationen, die von den UN-Mitgliedstaaten in die fachlichen Unterabteilungen der Weltorganisation entsandt werden, wären weiterhin aus den einschlägigen Fachministerien zu rekrutieren. Eine engere Verbindung zwischen der politischen Dimension und den fachlichen Aspekten könnte man durch einen intensiveren Austausch von Informationen auf nationaler wie auf internationaler Ebene erreichen.

Auswärtige oder globale Angelegenheiten?

DIE geschilderten Schritte hätten für die heutige Organisationsstruktur der Staaten weitreichende Konsequenzen. Das gilt vor allem für die Außenministerien und die Rolle der traditionellen Diplomatie. In einigen Ländern laufen bereits interessante Experimente, indem man etwa mehr Zuständigkeitsbereiche der Außenpolitik in die normalen Fachministerien verlagert oder umgekehrt dem Außenministerium mehr sektorale Kompetenzen zuordnet. Es wäre wünschenswert, die in solchen Experimenten gewonnenen Erfahrungen systematisch auszuwerten. Doch ganz gleich, welche Lösung sich als angemessener erweist, eine Reform im traditionellen Bereich der Außenpolitik ist offenbar unvermeidlich. Vielleicht sollte man sogar eine Namensänderung ins Auge fassen und den Begriff „auswärtige Angelegenheiten“ durch „internationale Beziehungen und globale Angelegenheiten“ ersetzen.

Diese und andere mögliche Reformen würden darauf abzielen, die aktuell vorhandene juristische Lücke zu schließen, die sich zwischen der zunehmend globalen Qualität der politisch-strategischen Herausforderungen und der immer noch überwiegend nationalen Reichweite und Gewichtung der politischen Willensbildung auftut. Dies ist gewiss nicht die einzige politische Lücke, die heute die internationale Zusammenarbeit behindert. Ebenso bedeutsame Defizite sind hinsichtlich der Partizipations- und Anreizstrukturen festzustellen. Wenn heute allenthalben Kooperation angesagt ist, müssen bei der Aufstellung der Tagesordnung und bei der Bestimmung der Strategien alle mitreden können.

Kooperation muss ein faires Angebot sein, von dem alle profitieren.3 Solange allerdings nicht deutlich wird, welche Bedeutung globale öffentliche Güter für das Wohlergehen der Menschen haben, und solange internationale Kooperation nicht auf der jeweils nationalen Ebene verankert ist, ist kaum mit einer hinreichend starken politischen Bereitschaft zu rechnen, auch die beiden anderen Lücken durch Reformen zu schließen. Alle Aufmerksamkeit muss sich also zuerst auf die juristische Lücke richten.

Die Idee gemeinsamer globaler Aufgaben ist seit langem bekannt, vielleicht ging sie sogar der Entstehung des Nationalstaates voraus. Zweifellos hat dieser Gedanke seit den verheerenden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts die Bemühungen sowohl von führenden Politikern als auch von einfachen Menschen beflügelt. Insofern ist der Beginn des 21. Jahrhunderts vielleicht genau der richtige Zeitpunkt, an dem sich die heutigen politischen Entscheidungsträger dieses Konzept in seiner modernen Form neu zu eigen machen sollten – nämlich als den Begriff „globale öffentliche Güter“. Dies könnte entscheidend dazu beitragen, die Vision zu realisieren, dass der Prozess der Globalisierung politisch beherrschbar ist.

dt. Niels Kadritzke

* Ökonomin und Soziologin, Leiterin des Büros für Entwicklungsstudien beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Der vorliegende Artikel, der ausschließlich die Meinung der Autorin wiedergibt, bildet den Abschluss des von ihr zusammen mit Isabelle Grunberg und Marc A. Stern herausgegebenen Bandes „Global Public Goods. International Cooperation in the 21st Century“, New York (Oxford University Press) 1999.

Fußnoten: 1 Eine umfassende und grundlegende Analyse dieses Themas bietet Todd Sandler, „Global Challenges: An Approach to Environmental, Political and Economic Problems“, Cambridge University Press 1997. 2 Eine Zusammenstellung informativer Länderstudien zu diesem Thema findet sich in Brian Hocking (Hrsg.), „Foreign Ministries, Change and Adaptions“, London (Macmillan) 1999. 3 Eine detaillierte Erörterung dieser politischen Lücken und der alternativen politischen Konzepte zu ihrer Überwindung findet sich bei: Kaul u.a., S. 450-507.

Le Monde diplomatique vom 16.06.2000, von INGE KAUL