Ziviler Ungehorsam auf Puerto Rico
Der 1941 geschaffene US-amerikanische Marinestützpunkt von Vieques belegt zwei Drittel der 135 Quadratkilometer kleinen Insel, die 10 Kilometer vor der Ostküste von Puerto Rico liegt. Die Militäranlage ist eines der Kernstücke der Atlantic Fleet Weapons Training Facility und gilt für die US-Marine als „unverzichtbarer“ Truppenübungsplatz, vor allem weil dort kombinierte Luft-, Land- und Seemanöver durchgeführt werden können.1
Die meisten der 9 400 Einwohner von Vieques leben eingezwängt zwischen Schießplatz und Munitionsdepot und protestieren gegen die Anwesenheit der Marinestreitkräfte. Sie beschuldigen sie unter Berufung auf wissenschaftliche Studien, ernsthafte ökologische und gesundheitliche Schäden verursacht zu haben. Mit die häufigsten Beschwerden richten sich gegen den ohrenbetäubenden Bombenlärm. Im Jahr 1999 wurde auch eine überdurchschnittlich hohe Rate an Krebserkrankungen festgestellt – sie liegt um 27 Prozent höher als im übrigen Puerto Rico.2 Zudem haben die Militärs nur wenige Arbeitsplätze für die Einheimischen geschaffen, denen es ökonomisch wesentlich schlechter geht als den Bewohnern der Hauptinsel.
Im Grunde sind die Proteste der Einwohner von Vieques so alt wie der Militärstützpunkt selbst, und sie sind auch schon mehrmals bis nach Washington vorgedrungen. Doch der 19. April 1999 markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung der Bewegung. An diesem Tag verfehlte ein F-18-Jagdbomber sein Ziel um mehrere hundert Meter. Die verirrte Bombe tötete David Sanes, einen zivilen Angestellten der Militärbasis, und verletzte drei weitere Menschen.
Nach dem Unfall wurden die militärischen Übungen zunächst ausgesetzt – man wollte das Ergebnis einer Reihe von Beratungsgesprächen zwischen der puertoricanischen Regierung und den Militärbehörden abwarten, die unter der Aufsicht von US-Präsident Clinton und dessen Verteidigungsminister William Cohen geführt wurden. Doch unterdessen formierte sich eine Protestbewegung. Aktivisten besetzten friedlich einige Schießplätze, bis am 4. Mai zweihundert von ihnen verhaftet wurden. (Wenige Stunden später setzte man sie wieder auf freien Fuß.) Unter den Festgenommenen befanden sich auch zwei puertorikanische Abgeordnete des Repräsentantenhauses, Nydia Velásquez aus Brooklyn und Luis Gutiérrez aus Chicago, der für sein Engagement für die Unabhängigkeit der Insel bekannt ist. Auch Rubén Berríos Martínez war dabei, der Vorsitzende der Puertorikanischen Unabhängigkeitspartei PIP, der seinen Sitz im puertorikanischen Senat aufgab, um zehn Monate auf Vieques zu verbringen; er wurde zu einer Symbolfigur des Widerstands gegen die Militärpräsenz. Am selben Tag wurde in Washington in der Nähe des Weißen Hauses José Serrano – ein Abgeordneter aus der Bronx – festgenommen, weil er ein Schild mit der Forderung „Frieden für Vieques“ trug. Berríos verfolgt gemeinsam mit ein paar Dutzend Aktivisten entschlossen die Strategie des zivilen Ungehorsams. Eine zweite Verhaftung am 10. Mai brachte ihm ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Eindringens in militärisches Sperrgebiet ein, weshalb er sich in ein paar Monaten vor einem Bundesgericht wird verantworten müssen.
Ein Gouverneur schwenkt um
DIE Proteste konnten die angekündigte Rückkehr der Marine und die Wiederaufnahme der Schießübungen ab dem 6. Mai nicht verhindern. Allerdings ist die erneute Militärpräsenz nicht unbedingt endgültig. Denn die von Clinton geleiteten Verhandlungen endeten mit einer „Weisung“ des Präsidenten, die, sofern sie umgesetzt wird, die Militärs zwar berechtigt, ihre Manöver noch bis ins Jahr 2003 fortzuführen – sie müssen sich jedoch künftig auf die Verwendung von Übungsmunition und Übungsbomben beschränken. Ferner sollen die Bewohner von Vieques bis Mai 2001 in einer lokalen Volksabstimmung darüber entscheiden, ob die Navy über den Zeitraum der nächsten drei Jahren hinaus bleiben darf. Bei der derzeitigen Stimmungslage in Vieques würden die Militärs ein derartiges Referendum mit Sicherheit verlieren und müssten abziehen.3
Darüber hinaus sieht Clintons Plan eine zeitlich gestaffelte Rückgabe der Ländereien an die Einwohner vor sowie 40 Millionen Dollar aus Bundesmitteln, um die ökologischen Schäden zu beheben und wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten zu sondieren. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Militärs das Referendum gewinnen sollten, würden die Bundesbehörden eine Entschädigungssumme von 50 Millionen Dollar bereitstellen, um die durch den Militärstützpunkt verursachten Beeinträchtigungen aufzuwiegen.
In den ersten sechs Monaten nach dem Unfall vom 19. April 1999 formierte sich um die Forderung „Frieden auf Vieques“ ein Bündnis von seltener Eintracht. Die humanitäre, ökologische und pazifistische Ausrichtung der Bewegung überzeugte Puertorikaner aller gesellschaftlicher Gruppen, auch über die üblichen politischen Gräben hinweg, die insbesondere entlang der Vorstellungen über die künftigen Beziehungen der Insel zu den USA verlaufen. Die wichtigsten puertorikanischen Kirchen sind an den Protesten beteiligt, und der Erzbischof von San Juan, Roberto González Nieves, zählt zu ihren eifrigen Unterstützern. Im September 1999 tauchte Reverend Jesse Jackson, der einstige Weggefährte von Martin Luther King Jr., kurz in einem der illegalen Camps auf – als einer von zahlreichen anderen US-Amerikanern, die ihre Solidarität zum Ausdruck bringen wollten.4 Sie alle stimmen darin überein, dass der Tod von Sanes das vorhersehbare Ergebnis jener institutionalisierten Gewalt war, die den Einwohnern schon seit langem das Leben vergällt.
Doch Ende Januar war es vorbei mit dieser Einheit, die die Stärke der Bewegung ausmachte. Der Bruch wurde durch das scheinbare Umschwenken des puertorikanischen Gouverneurs Pedro Rosselló ausgelöst, als dieser am 31. Januar 2000 den Lösungsvorschlag von Bill Clinton akzeptierte. Rosselló bestreitet zwar, von seiner bisherigen Position abgewichen zu sein, doch für einen Teil der Aktivisten für den „Frieden auf Vieques“ bedeutet es Verrat am Geist der Bewegung, überhaupt neue Schießübungen zuzulassen, und sei es auch nur vorübergehend.
Rosselló und Clinton haben eindeutig andere Sorgen als die Aktivisten: Sie sind vor allem darum bemüht, einen allzu frontalen Konflikt mit den Militärs zu vermeiden. Zwar haben sich die Marinestreitkräfte kompromissbereit gezeigt, als sie den provisorischen Charakter ihrer Rückkehr von Anfang Mai akzeptierten und sich mit einer Volksabstimmung, die über ihren Verbleib oder ihren Abzug entscheiden soll, prinzipiell einverstanden erklärten. Doch das Abkommen steht auf tönernen Füßen, denn es wird von zwei verfeindeten politischen Lagern bekämpft, die in diesem Fall am selben Strang ziehen: Von denjenigen, die den bedingungslosen Abzug der Militärs fordern, und von einer Gruppe republikanischer Kongressabgeordneter, die beflissen die Interessen des Pentagons verteidigen und damit drohen, die Finanzierung des Abkommens und die Mittelvergabe für die Rückgabe der Ländereien zu blockieren.
Dieser rechte Flügel, dem so einflussreiche Persönlichkeiten wie der Vorsitzende der Militärkommission des Senats, John Warner, und Senatspräsident Trent Lott angehören, strebt den bedingungslosen Erhalt der Militärbasis von Vieques an. Er könnte auch versucht sein, dem assoziierten Freistaat5 künftig gewisse Bundesmittel vorzuenthalten und jegliche finanzielle Unterstützung Puerto Ricos durch den Kongress in Zukunft an die Akzeptanz seiner politischen Ziele zu koppeln.
In den Auseinandersetzungen um das Abkommen schwingen auch die unterschiedlichen Vorstellungen der Puertorikaner über die Zukunft des Landes mit. Rosselló gehört der Neuen Fortschrittspartei PNP an, die den vollständigen Anschluss Puerto Ricos an die Vereinigten Staaten anstrebt (eine Position, die bei dem Referendum vom 13. Dezember 1998 von 46,5 Prozent der Wählerinnen und Wähler geteilt wurde). Diese politische Haltung des Gouverneurs verschärft die Tonlage eines Teils der Kritiker seiner Entscheidung in Sachen Vieques. Dabei ist unbestreitbar, dass viele PNP-Mitglieder sich aktiv an der Bewegung für den „Frieden auf Vieques“ beteiligen, und zwar genauso engagiert wie ihre politischen Widersacher.
Für die Befürworter der Unabhängigkeit ist der Kampf um die Schließung des Marinestützpunkts einerseits ganz klar eine Prinzipienfrage, andererseits aber auch eine Sache politischen Kalküls. Denn die Anhänger eines souveränen Nationalstaats Puerto Rico konnten in den letzten Jahren nie mehr als 5 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen, selbst wenn man alle ihre Strömungen zusammennimmt, von der moderaten Puertorikanischen Unabhängigkeitspartei PIP bis hin zu den kleinen radikalen nationalistischen Gruppierungen. Nun hofft die PIP, dass die neue politische Dynamik in der Vieques-Frage sich wahlarithmetisch ein wenig zu ihren Gunsten auswirkt.
Allerdings bringt die Entschlossenheit von Berríos ihm zwar die Bewunderung von Bürgern aus allen politischen Lagern ein, selbst die von Anhängern der PNP, doch genießt der PIP-Vorsitzende weit weniger Rückhalt, wenn er wie neulich Parolen ausgibt wie: „Heute Vieques, und morgen ganz Puerto Rico“.6 Denn das Nationalbewusstsein der meisten Puertorikaner ist eindeutig mehr kulturell als politisch geprägt.
Die größte Oppositionspartei, die Demokratische Volkspartei (PPD), verteidigt traditionell den Status der Insel als assoziierter Freistaat, wenn sie auch eine Minderheit von Autonomiebefürwortern in ihren Reihen zählt. Die PPD-Kandidatin für den Gouverneursposten und derzeitige Bürgermeisterin der Hauptstadt San Juan, Sila Calderón, hat ihre Taktik und ihre Position zu Vieques bereits mehrmals geändert. Mal nahm sie an symbolischen Aktionen zivilen Ungehorsams teil, dann wieder setzte sie sich für eine Verhandlungslösung ein. Doch je näher der Wahltermin rückt, desto erfolgversprechender erscheint es ihr, den „Opportunismus“ des Gouverneurs Rosselló in Sachen Vieques anzuprangern und sich moralisch auf die Seite der Unabhängigkeitsverfechter zu schlagen. Es ist nicht das erste Mal, dass die PPD mit ihnen ein taktisches Bündnis eingeht, um Schübe von Gemeinschaftsgefühl auszulösen, deren Ernte bei den Wahlen dann fast ausschließlich die PPD einfährt – denn die Unabhängigkeitsfraktion ist lediglich mit zwei Sitzen in den Kammern des Freistaats vertreten (einem Senator und einem Repräsentanten). Die PPD dagegen verfügt derzeit über acht Sitze im Senat und sechzehn im Repräsentantenhaus.
Die PNP, die 19 Senatoren und 37 Repräsentanten zählt, führt selbstverständlich ganz andere politische Gründe für ihren Kampf um die Entmilitarisierung von Vieques an. Rosselló zufolge drückt diese Bewegung den Wunsch der Puertorikaner aus, mit allen anderen US-Bürgern rechtlich gleichgestellt zu werden.7 So oder ähnlich argumentieren auch viele Einwohner von Vieques. Die meisten PNP-Mitglieder lehnen den US-Militarismus nicht grundsätzlich ab, sondern lediglich die schweren Übergriffe der Militärs speziell auf Vieques.
Mehr und mehr Puertorikaner räumen jedoch auch ein, dass das derzeitige, 1952 festgelegte Verhältnis zwischen den USA und dem Freistaat Züge von Kolonialherrschaft in sich trägt – das Gebaren der Navy auf Vieques ist dafür ein eklatantes Beispiel –, und dass man für mehr Gleichberechtigung sorgen müsste.
Wenn auch ein Teil der Friedensaktivisten die von Bill Clinton vorgeschlagene Lösung rundweg ablehnt, ist an einen sofortigen Abzug der Marine nicht zu denken. Deshalb entfalten Abgesandte der PNP derzeit eine intensive Lobbyarbeit in Washington, um die Zustimmung des Kongresses zu dem ausgehandelten Abkommen zu erreichen. Die derzeitige Regierungspartei ist im Übrigen nicht die einzige, die sich darum sorgt: Ein ehemaliger Gouverneur der PPD, Rafael Hernández Colón, drückte vor kurzem seine Überzeugung aus, dass dieses Abkommen „das einzig Greifbare“ sei und „das Einzige, was den Bewohnern von Vieques helfen könne“.8 Das ist auch die Position einer einflussreichen hispanischen Lobbygruppe namens League of Latin American Citizens (LULAC).9
Hernández Colón zufolge kann der zivile Ungehorsam lediglich bewirken, dass die US-Regierung sich wirklich an ihre eigene Verhandlungslösung hält, obschon ein konservativer Flügel von Militaristen sie offen sabotieren will. Die kommenden Ereignisse werden zeigen, ob der ehemalige Gouverneur mit dieser Einschätzung richtig liegt.
dt. Miriam Lang
* Universität Paris VIII, Institut des hautes études d'Amérique latine (IHEAL), Paris.