Die Gefahren des Vergessens
Kamel Bouguessa, Soziologe an der Universität Algier, musste sich sechzehn Jahre gedulden, bis seine Dissertation als Buch erscheinen durfte. Nun ist die Arbeit, die sich mit den Anfängen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung unter den Emigranten im Frankreich der Zwanzigerjahre beschäftigt, endlich in algerischen Buchhandlungen erhältlich1 , aber in der Presse wurde die Arbeit nicht zur Kenntnis genommen. „Es gibt bei uns eine sehr entwickelte Kultur des Vergessens“, erklärt der Autor dazu. „Man pflegt sie bis heute, auch im Jahr 2000 steht vieles unter dem Verdikt des Schweigens. Unser Erinnern hat keinen Ort, es irrt umher, und es wird überall abgewiesen.“
Kamel Bouguessa hat den Jahrgang 1947, seine Jugend war von der Kolonialzeit geprägt: „Ich war zwar noch ein Kind – aber so etwas vergisst man nicht. Ich musste die Siedler, das Militär aushalten; mein Bruder hat in der Nationale Befreiungsarmee gekämpft. Und der Kolonialismus hat die Existenzgrundlage meiner Familie in der Landwirtschaft zerstört. Ich erinnere mich an die Jahre 1953 und 1954, als wir in Lumpen gingen; die Leute trugen damals Schuhe, die el-gurg genannt wurden. Die machten wir aus Lederresten, Stofffetzen und Zeitungspapier, und wir banden sie uns mit Schnur an die Füße, das werde ich nie vergessen.“
Die französische Journalistin Elisabeth Schemla gehört zur gleichen Generation, aber sie hat andere Erinnerungen an die Kolonialzeit. In ihrem Buch „Journal d'Algérie“2 , das in algerischen Buchhandlungen zu kaufen ist, beschwört sie die Bilder einer glücklichen Kindheit in jenem nostalgisch verklärten französischen Algerien, dem sie 38 Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer nachtrauert. Hätte man je gedacht, dass man eines Tages in der algerischen Presse lesen würde, die FLN und die OAS seien gleichermaßen terroristische Organisationen gewesen – und auch noch aus der Feder einer „Algerienfranzösin“? Exakt dies konnte Elisabeth Schemla in der Tageszeitung Le Matin3 schreiben, ohne dass irgendeine offizielle Reaktion erfolgt wäre, sei es von der Partei der Nationalen Befreiungsfront (FLN), sei es von den zahlreichen Veteranenorganisationen, die normalerweise als Erste gegen alles wüten, was die „heiligen Werte des November“4 in Frage stellt.
Dieses Schweigen ist ein Zeichen nachhaltiger Verunsicherung. Algerien ist noch immer wie betäubt von jener Mordwelle der Neunzigerjahre, die man nicht verhindern und nicht beenden konnte. Und auch wenn sich jetzt, wenigstens in den großen Städten, die Situation zu beruhigen beginnt, fällt es schwer, Lösungen zu finden. Das Land ist erschöpft von all den Fehlschlägen, und solange ihm die kollektive Selbstreflexion untersagt bleibt, wird es seine Geschichte, die diesseits und jenseits des Mittelmeers als Staatsgeheimnis gilt, kaum begreifen können. Allerdings differieren die Meinungen über das Buch von Elisabeth Schemla, das die Medien wesentlich mehr beachtet haben als die Arbeit von Kamel Bouguessa. Ähnlich kontrovers wurde die Ankündigung eines Konzerts von Enrico Macias oder die Voraufführung des Films „Là-bas mon pays“ von Alexandre Arcady aufgenommen. Zwischen New-Age-Nationalismus und revisionistischem Showbusiness gerät nun sogar die Geschichte der Revolution in die Kritik, die bislang letzte Zuflucht und Hort der letzten Gewissheiten war.
Algerien tut sich schwer mit dem Erinnern. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit hat jetzt ein algerischer Staatspräsident das Andenken von Messali Hadj geehrt: Abdelaziz Bouteflika benannte einen Flughafen nach dem Begründer des algerischen Nationalismus. Der kam in der offiziellen Geschichtsschreibung bislang nicht vor, und auch eine Konferenz, die zu seinen Ehren in seiner Geburtsstadt Tlemcen stattfand (wo er 1974 ohne viel Aufhebens begraben wurde) war kein Anstoß zu den erhofften Diskussionen.
Dennoch sind die Algerier heute offenbar wie nie zuvor bereit, ihre Erinnerung sprechen zu lassen, zurückzublicken auf ihre jüngste Vergangenheit, die mit so viel Ungesagtem, Schweigen und Denkverboten befrachtet ist. Dass es sich dabei um einen Akt des Überlebens handelt, wird erstmals in dieser Schärfe von einer jungen Nation wahrgenommen, die an eine historische Mission glaubte, bevor sie sich zerfleischt hat und kaum vierzig Jahre nach ihrer Unabhängigkeit an den Rand der Selbstaufgabe geraten ist. Selten zuvor wurde in Algerien und für algerische Leser so viel geschrieben. In einer Welt des Wahnsinns und der Allgegenwärtigkeit des Todes scheinen alle diese Autoren das Bedürfnis zu spüren, ein persönliches Zeugnis zu hinterlassen. „Pädagogik der Erinnerung“ hat dies Mostefa Lacheraf genannt, einer der alten Führer der FLN und Erziehungsminister unter Houari Boumedienne (1965-1978).
Nicht zufällig gehören diejenigen, die sich zu Beginn des zweiten Jahrtausends schreibend äußern, zur Führungsschicht der Generation, die den nationalen Befreiungskrieg angeführt hatte und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit die Vorteile des besonderen algerischen Entwicklungsmodells genießen durfte. Diese Elite fühlte sich existentiell bedroht von einer jungen Generation, die ihr die Brüchigkeit der revolutionären Legitimität vor Augen führte, mit der sie ihre Machtausübung auf allen Ebenen – der politischen, der wirtschaftlichen und auch der kulturellen – begründet hatte. Gegen diese Erstarrung protestierten die Jungen mit ihrer Hinwendung zu einem Islam, der fordernd, gewaltsam und zerstörerisch auftrat. In ihren Schriften versucht die alte Führungsgeneration nun ein letztes Mal, das Steuer herumzureißen, die Erinnerungslücken zu stopfen, als wolle sie das tragische Scheitern einer Vermittlung von Geschichte revidieren, das eine verkürzte, von den jeweiligen Machthabern verfälschte Überlieferung verursacht hat.
Jede Generation muss alles neu erfinden
ZEHN Jahre Gewalt, der äußerst schmerzhafte Abtritt der Einheitspartei und das Ende des staatlichen Publikationsmonopols waren notwendig, bevor sich zaghafte Ansätze einer Diskussion über die politische und soziale Geschichte Algeriens herausbilden konnten. „Es ist ein echtes soziales Phänomen – alle Welt will schreiben“, meint der Soziologe Mustapha Madi, der seit 1996 eine sozialwissenschaftliche Schriftenreihe bei den Casbah Éditions herausgibt.
Der Verlag, der seit 1992 besteht und seit 1995 publiziert, zeichnet sich durch das hohe Niveau der Arbeiten aus, die er mit großem Engagement verbreitet. Das Büchermachen liegt in der Familie: Der Vater war Schriftsetzer und machte nach der Unabhängigkeit eine Druckerei auf, sein Sohn begann dann, Bücher herauszubringen, wobei seine verlegerische Freiheit auf der privaten Druckerei basierte, die im ersten Stock der Familienvilla am Stadtrand von Hydra untergebracht ist. Dort veranstaltet er auch jeden Mittwoch eine Pressekonferenz, die im Beisein der Stammautoren des Verlags immer wieder Gelegenheit bietet, alle möglichen Themen zu diskutieren.
Wie es sich für Algerien gehört, begann das Ganze 1996 mit der Veröffentlichung des ersten Buches eines pensionierten Generals, Yahia Rahal5 . Dass jetzt sogar die Generale ihre Memoiren schreiben, ist etwas ganz Neues. Die Erinnerungen von General Khaled Nezzar6 gelten als Bestseller – 30 000 verkaufte Exemplare innerhalb weniger Monate. Nezzar war maßgeblich an den wichtigsten politischen Entscheidungen der Armee beteiligt: Während der Unruhen im Oktober 1988 befehligte er die Landstreitkräfte und war für die Wiederherstellung der Ordnung zuständig, und auch für die Annullierung der Wahlen von 1991, die den Sieg für die Islamische Heilsfront (FIS) gebracht hatten, war er mitverantwortlich. Dazwischen lag noch der Beschluss der Armee, Mohamed Boudiaf zum Präsidenten zu machen, der dann im Juni 1992 von einem Mitglied seiner Leibgarde ermordet wurde.
Die Darstellung dieser jüngsten mörderischen Periode mündete allerdings nicht in eine durchaus angebrachte Kontroverse über die Frage, wie sehr die Armee für die blutigen Exzesse der vergangenen zehn Jahre verantwortlich ist. Die Diskussion entzündete sich vielmehr an der Rolle jener Deserteure aus den Reihen der französischen Armee, die der späteren Nationalen Befreiungsarmee (ALN) beigetreten waren und zu denen der junge Offizier Nezzar gezählt hatte.
Die heftige Debatte über dieses Thema wurde von Ali Kafi eröffnet, dem ehemaligen Vorsitzenden des Hohen Staatskomitees und Nachfolger von Präsident Boudiaf an der Spitze des gemeinsamen Führungsgremiums, das man nach der Annullierung der Wahlen im Januar 1992 etabliert hatte. Ali Kafi vertrat zu der heiklen Frage die Ansicht, die zweifelhaften Methoden mancher ALN-Führer bei der Ausübung der staatlichen Macht könnten etwas mit ihrer „ursprünglichen Ausbildung“ zu tun haben. Im Gegenzug sah sich Kafi, der ebenfalls seine Memoiren veröffentlicht hat7 , dem Vorwurf ausgesetzt, er beschmutze mit seinen Äußerungen über Abane Ramdane (der 1957 von seinen „Waffengefährten“ ermordet worden war) das Andenken eines Mannes, der mitten im nationalen Befreiungskrieg für „den Vorrang der Zivilisten vor den Militärs“ eingetreten sei. Diese notwendige Kontroverse, die auf höchstem Niveau begonnen hatte, versackte jedoch bald in niederträchtigen Nebensächlichkeiten.
Entgegen der offiziellen Lesart war es jedoch nicht erst Staatspräsident Bouteflika, der nach einer „Durststrecke“ von zwanzig Jahren mit den alten Tabus gebrochen hat. Schon vor der Wahl Bouteflikas im Jahre 1999 hatte der Ansturm gegen die Bollwerke des Konformismus begonnen, der nun mit dem Legitimitätsverlust für eine Führungsschicht endet, die ihre Versprechen niemals halten konnte.
Daraus darf man nicht vorschnell schließen, dass es in Algerien keine verbotenen Themen mehr gebe. Zwar wird nach und nach die Geschichte der nationalen Bewegung und ihrer diktatorischen und militärischen Auswüchse neu geschrieben, ohne Rücksicht auf alle beschönigenden und eindimensionalen Vorgaben, aber inzwischen ist ja noch ein anderer Krieg hinzugekommen, den es zu vertuschen gilt. Der Staatsstreich von Boumedienne am 19. Juni 1965 wird zwar nicht mehr als „revolutionäre Kurskorrektur“ beschönigt, aber die revidierte Sicht gilt nicht für die Rolle der Armee zu Beginn der Neunzigerjahre. Auf offizieller Seite wird immer noch übel vermerkt, wenn man sagt, dass mit der Annullierung der zweiten Runde der Parlamentswahlen im Januar 1992 eine viel versprechende demokratische Entwicklung annulliert wurde. Die Armee habe damals natürlich nur interveniert, um den Staat und die Demokratie zu retten. Mit dem bekannten Erfolg. Heute geht es abermals darum, einen „neuen Anfang“ zu machen, und zwar diesmal mit der „Politik der nationalen Versöhnung“, die Präsident Bouteflika propagiert.
Da aber der jüngste Krieg offiziell nicht debattiert wird, bleibt seinen Opfern nur die Straße, um gegen das Vergessen zu demonstrieren. Vor dem Büro der (staatlichen) Organisation zur Beobachtung der Menschenrechte in Algier versammeln sich jeden Mittwoch die Mütter der Verschwundenen und verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Familien der Opfer des Terrors fordern Entschädigung und protestieren gegen die Tradition des Vergessens in einer konfusen Situation, die neue Gefahren in sich birgt.
Selbst in der Kabylei, die lange Zeit als hoffnungsvollste Region für demokratische Fortschritte galt, herrschte am zwanzigsten Jahrestag des so genannten Berberfrühlings von 1980 eine zerstrittene und hilflose Atmosphäre. Von der Kabylei geht keine Gefahr mehr aus: Die Demonstranten in den Straßen von Tizi-Ouzou waren genauso verunsichert wie alle anderen Algerier, und die jungen Aktivisten haben von den Älteren offenbar nur den trotzigen Ruf nach Anerkennung der Berbersprache übernommen – „Tamazight in den Schulen, Arabisch für die Esel“ lauteten die Sprechchöre. Und als der berühmte Sänger Ferhat Imazighen Imoula in der Sportarena von Tizi-Ouzou die Protesthymne der Achtzigerjahre anstimmte, mussten die alten Aktivisten verblüfft feststellen, dass die Tausende von jungen Leute den Text nicht mitsingen konnten.
Diese Demonstranten, von denen die meisten in den Achtzigern noch nicht geboren waren, pflegen stattdessen eine geradezu kultische Verehrung für den Dichter Matoub Lounès, einen radikalen Vorkämpfer der Berberkultur, der am 25. Juni 1998 ermordet wurde. Sein Grab in seinem Heimatdorf ist zum Wallfahrtsort geworden – die verstörte, an zehn Jahren Bürgerkrieg zerbrochene Generation vereinigt sich in der Begeisterung für eine Figur, die sie zum Symbol der Rebellion und zum Märtyrer erwählt hat.
„So durchlebt Algerien seine Geschichte: Jede Generation muss alles neu erfinden, alles neu beginnen, denn es herrscht eine Macht, die in wechselnden Formen doch stets dieselbe bleibt und die darum bemüht ist, alle Spuren auszulöschen und alles auszuradieren. Als gehe sie von dem politischen Grundprinzip aus, dass sich ein Volk besonders gut beherrschen lässt, wenn es keine Erinnerung hat.“ So schreibt Noureddine Saadi in seinem Vorwort zu einem kürzlich erschienenen Buch von Houari Mouffok, dem Gründungsvorsitzenden des legendären algerischen Studentenverbands UNEA, der 1963 gegründet und 1971 verboten wurde. Das Buch („Parcours d'un étudiant algérien, de l'Ugema à l'UNEA“)8 erzählt eine weitere vergessene Geschichte: die Chronik der Gleichschaltung der Universität nach dem Staatsstreich von 1965. Houari Mouffok wurde gefoltert, weil er gegen diesen Putsch gewesen war; 1967 trat er als gebrochener Mann von der politischen Bühne ab. „Ich habe danach lange gebraucht, um über die Wirkungen von Folter und Gefängnis hinwegzukommen“, schreibt er nach 27 Jahren des Schweigens. „Ich habe mich jeder politischen Aktivität enthalten.“
Die Algerier werden viel Zeit brauchen, um die Lücken in der kollektiven Erinnerung zu schließen, schon weil die soziale Schicht, deren Zwangsherrschaft sie unterworfen sind, sich um ihre historische Verantwortung drücken will. Bis dahin kann die selbstzerstörerische Suche nach Identität weitergehen.
dt. Edgar Peinelt
* Journalistin, Algier.