16.06.2000

Die Rattenfänger des Internet

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Die Rattenfänger des Internet

ZEHN Jahre ist es her, dass sich die Umrisse des Kontinents Internet abzuzeichnen begannen. Weltweit entdeckten die jungen Informatiker an den Universitäten neue Kommunikationsmittel. Wie Amateurfunker saßen sie beim Morgenkaffee zusammen, die Augen noch halb blind von den Textzeilen, die über ihren Monitor geflimmert waren, und tauschten die neuesten Kenntnisse aus: Wie man Schaltstationen auf vier Kontinenten einsetzt, um einen Text zu verschicken, wo man eine digitalisierte Fassung von „Moby Dick“ finden kann.

Diese offenen Informationsnetze weiteten sich rasch aus und bedeuteten, wie man heute zweifelsfrei feststellen kann, einen ersten Schritt hin zur Verwirklichung der Utopie eines allwissenden planetarischen Gehirns, wie sie bei H. G. Wells zu lesen war. Man sagte schon den baldigen Sturz des letzten Imperiums voraus – der Zentralmacht von Staat und Wirtschaft. John Perry Barlow, Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation, formulierte die Kampfansage so: „Eure gesetzlichen Konzepte von Besitz, Ausdruck, Identität, Bewegung und Zusammenhang betreffen uns nicht, denn sie basieren auf Materie, aber hier ist keine Materie.“1

Hier gilt nichts als der Text: Er definiert jedes der öffentlichen Protokolle im Netz, schnörkellose Beschreibungen unter dem schlichten Namen „request for comments“ („Kommentare erwünscht“), versehen mit dem Quellcode, auf dem ihr Funktionieren beruht. Das eigentliche Protokoll besteht aus einer Folge von Befehlen, die in einer bekannten Programmiersprache geschrieben sind.

Die vernetzten Rechner („Server“) erfüllen dabei eine doppelte Vermittlerfunktion. Zum einen dienen sie als Transportmittel, sie „kommunizieren“ miteinander, um den Datenaustausch zu ermöglichen. Und zum anderen bieten sie dem Benutzer eine Schnittstelle, ein „Interface“, das ihm ermöglicht, sich in ihrem Datenbestand zurechtzufinden. Neal Stephenson, „Hacker“2 und Romanautor, hat in einem bemerkenswerten Essay über Betriebssysteme, die Funktion einer Benutzeroberfläche so beschrieben: „Ein (...) Stapel von Metaphern und Abstraktionen, der zwischen dir und den ,Fernschreiben‘ steht, das Ergebnis der Tricks, die der Programmierer angewandt hat, um die Informationen, mit denen du arbeitest (Bilder, E-Mails, Filme oder Textdokumente) in die säuberlich aufgereihten Bytes zu verwandeln, die der Computer braucht, weil er mit nichts anderem umgehen kann.“3

Kultur – leicht gemacht

DURCH die grafische Oberfläche sind die präzisen, aber starren Protokolle mit ihren trostlosen „Befehlszeilen“ etwas besser zu handhaben. Die Programmierer, nachdem sie die Menschheit von den Mühen der herkömmlichen Kommunikation befreit haben, machen es sich nun zur Aufgabe, sie auch das Kommunikationsmittel vergessen zu machen, das sie gerade erst eingeführt haben. Zu diesem Zweck schafft die Benutzeroberfläche Distanz zwischen dem Nutzer und dem Netz – der Code soll nicht mehr sichtbar sein.

1993, als die PCs längst mit grafischen Darstellungen arbeiteten, hielt das „Multimedia“-Konzept auch im Internet Einzug. Die Initialzündung war „Mosaic“, ein „Browser“ mit grafischer Oberfläche, einer Mischung aus Bildern und Text. Im Reich der Wirtschaft wurde man aufmerksam und unternahm die ersten Schritte ins Netz. Es war ein Zusammenstoß der Welten. Die Anfänge der dot-com-Firmen im Internet erwiesen sich als so kläglich, dass John Perry Barlow selbstbewusst spotten konnte, die großen Medien seien „nur mit dem Stühlerücken auf der Brücke der Titanic beschäftigt“4 .

Aber sechs Jahre später ist „die Titanic noch immer auf Kurs“5 . Es scheint sogar, als habe das alte Imperium den neuen Kontinent kolonisiert. Arnaud Lagardère, Erbe des größten französischen Rüstungskonzerns, wirbt im Fernsehen mit Szenen aus dem Film „Fahrenheit 451“. Die Werbebotschaft: Seine Firma, ein Internet-Provider, sei der Garant dafür, dass die Freiheit des Wortes nie mehr von den Flammen bedroht werde. Das Marketing wirkt umso peinlicher, als Lagardère einige Monate später diesen Geschäftszweig an T-Online, die Internet-Filiale der Deutschen Telekom, verkaufte und dabei für jeden seiner 300 000 Abonnenten etwa 17 000 Mark kassierte. Bei solchen Einkaufspreisen muss natürlich irgendwann auch ein Gewinn herausspringen ...

Es geht also darum, die Netzsurfer in die Finger zu bekommen. Aber wie? Die Firma Netbox glaubt die Lösung gefunden zu haben, sie bietet ein Internet-Terminal, das an den Fernsehapparat angeschlossen wird: „Netbox verschafft Ihnen Zugang zu allen Haushalten, in denen ein Fernsehapparat steht. Sie können alle ihre Kunden sofort erreichen und sie an Ihre Internet-Startseite binden. Oder wollen Sie die zweite Revolution des e-commerce verpassen?“

Die Kontrolle des Zugangs zum Netz ist der Schlüssel zum Internet-Geschäft. Hier kommt die grafische Benutzeroberfläche zur Wirkung, die überhaupt erst die Eingriffsmöglichkeiten geschaffen hat und sich nun als das Mittel erweist, mit dem das schon totgesagte alte Imperium wieder die Macht übernehmen und den Surfer zum Konsumenten machen kann.

Bei einer Visite im „Zauberreich“ von Disney World trifft Neal Stephenson auf einen Besucher, der ihn fassungslos macht. Der Mann hat „eine dieser Videokameras, bei denen man nicht durch den Sucher blickt, sondern den Bildausschnitt auf einem Schirm von der Größe einer Spielkarte sieht. [...] Anstatt sich eine wirkliche kleine Stadt anzusehen, hat dieser Mann Geld ausgegeben, um ein Abbild davon zu bekommen; er schaut sie sich nicht mit bloßem Auge an, sondern im Fernsehen.“6 Nach Ansicht von Stephenson erklärt sich die Macht der Benutzeroberfläche genau aus diesem Bedürfnis nach einer einfachen, kontrollierten Umgebung ohne Überraschungen. Wie in den Welten, die von Disney, dem Giganten der Unterhaltungsindustrie geschaffen wurden – oft genug durch Verkürzung und Umformung klassischer Texte – wird dem Benutzer durch die grafische Oberfläche die Mühe abgenommen, sich mit dem Text (der Kultur) zu befassen, der dem Funktionieren des Computers oder des Netzes zugrunde liegt. Es findet eine Infantilisierung statt: Der Benutzer mag ein „Gefühl der Macht“ verspüren, aber er gibt seine Autonomie auf.

Die populären Web-Browser versuchen, eine Konsumentenhaltung zu fördern und zu nutzen: Nichts wird auf dem Schirm so auffällig deutlich gemacht wie eine „gesicherte“ Transaktion – ein Kaufakt. Es erscheint dann ein unübersehbares Symbol, ein Schlüssel oder ein Vorhängeschloss, das anzeigen soll, man könne nun unbedenklich seine Kreditkartennummer eingeben. Wenn andererseits während einer Netzverbindung eine Datei auf die Festplatte des Benutzers geschrieben wird, die Kennungsdaten für die nächste Verbindung enthält (ein so genanntes Cookie), erledigt dies der Browser in aller Stille. Müsste nicht das Risiko von Datendiebstahl und Verletzung der Privatsphäre, das mit diesen Cookies verbunden ist, ebenso deutlich angezeigt werden? Und wäre es nicht möglich und sinnvoll, durch ein ebensolches Symbol wie den Schlüssel anzuzeigen, dass ein Cookie gesetzt worden ist?

Von entscheidender Bedeutung für viele Unternehmen im Bereich der „Neuen Medien“ ist auch die Frage, welche „Startseite“ der Internet-Browser aufruft, wenn er aktiviert wird. Natürlich hat jeder Benutzer die Möglichkeit, die Vorauswahl abzulehnen und sich den Anbieter einzustellen, der ihm am besten gefällt. Doch nur wenige tun dies: So ist zum Beispiel in Frankreich die am häufigsten frequentierte Website das „Portal“ des größten französischen Internet-Providers, gefolgt von der Site eines Anbieters von kostenlosen E-Mail-Diensten und einem Börseninformationsdienst, und auf Platz vier liegt – die Portalseite des zweitgrößten Providers in Frankreich.7

Mit dem massiven Zustrom neuer Nutzer wandelt sich das Netz. Die Vorstellungen dieses Publikums vom Internet und seinen Möglichkeiten sind mangels anderer Kenntnisse natürlich geprägt durch die diversen CDs, die von den Providern mit allen Mitteln unters Volk gebracht werden. „Bei uns ist Kommunikation ganz einfach“, heißt es bei ihnen – und die Entertainer kontern: „Bei uns wird Kultur leicht gemacht.“

Noch funktioniert der Zugriff auf die PCs nicht so recht, weil ihm eine „Computerkultur“ entgegensteht, die sich nicht ohne weiteres vereinnahmen lassen will. Ganz so leicht werden es die Geschäftemacher nicht haben, diese Schlacht zu gewinnen. Aber die wachsende Zahl von Internet-Links, die überall in der Öffentlichkeit geboten werden, führt zu Websites, die gespickt sind mit Werbung und E-Commerce, und schon bald wird der Internet-Zugang via Handy über einige wenige Terminals laufen: „Wenn der neue Kunde mit seinem Telefon den Laden verlässt, ist er auf die Angebote abonniert, die der Provider ausgewählt hat – dort soll er kaufen, und nirgendwo sonst.“8

Im Internet tobt ein verdeckter Kampf zwischen der Forderung nach Autonomie, die aus den Reihen der Nutzer kommt, und einem Regulierungsangebot, das sich als verführerisches Angebot von „Inhalten“ aufdekoriert. „Das Spektakel ist ein permanenter Opiumkrieg, bei dem es darum geht, dass Güter in der Form von Waren akzeptiert werden.“ (Guy Debord)

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 John Perry Barlow, „A Cyberspace Independence Declaration“ (8. Februar 1996), siehe http://www.eff.org/~barlow/library.html; hier zit. n. der deutschen Übersetzung von Björn Wilmsmann, (http://killer.discordia.ch/Politics/Erkl%E4rung.html). 2 Bevor die Hacker kriminalisiert wurden, meinte der Begriff eigentlich nur einen „Bastler“, jemanden, der etwas ausprobiert. 3 Neal Stephenson, „In the Beginning was the Command Line“, New York (Avon Books) 1999. Siehe auch den jüngsten Roman von Stephenson: „Cryptonomicon“, New York (Avon Books) 1999. 4 John Perry Barlow, The New York Times, 24. September 1995, zit. n. Robert McChesney, „Why the Internet won't sink the media giants“, Extra! (New York), März/April 2000. 5 Robert McChesney, a. a. O. 6 Neal Stephenson, a. a. O. 7 Médiamétrie, Februar 2000. Ein „Portal“ ist eine Startseite, auf der eine Reihe von Informations- und Serviceangeboten zusammengefasst sind. Es bestehen auch nichtkommerzielle Startseiten, in Frankreich etwa „Le portail des copains“, http://rezo.net/. 8 Florent Latrive, „Internet mobile: adieu, monde sans filtres“, Libération, 10. März 2000.

Le Monde diplomatique vom 16.06.2000, von PHILIPPE RIVIÈRE