16.06.2000

Frauenfrage im neuen Jahrhundert

zurück

Frauenfrage im neuen Jahrhundert

BEI der Sondersitzung der Generalversammlung der UNO in New York vom 5. bis 9. Juni 2000 haben sich Staaten, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Vereinte Nationen damit beschäftigt, wie weit das Aktionsprogramm der Pekinger Weltfrauenkonferenz von 1995 inzwischen umgesetzt worden ist. Die meisten Regierungen erstellten Berichte über ihre Aktivitäten auf jedem der dreizehn in Peking als vorrangig festgelegten Problemfelder.1 Viele NGOs legten so genannte Gegenberichte vor, in denen die jeweiligen Regierungsaktivitäten kritischer beurteilt werden. Die Kommission zur Lage der Frauen, ein offizielles Organ der Vereinten Nationen mit Sitz in New York, bereitete ihrerseits ein Papier vor, das für jedes der dreizehn Themen die festgestellten Fortschritte und Hindernisse zusammenfasst2 und die neuen Herausforderungen umreißt.

Neue Ideen und Ansätze waren erwünscht; die Hoffnung dominierte, dass durch die Versammlung neue Impulse entstehen würden. Denn fünf Jahre nach Peking gibt es wenig Grund zur Freude. Zwar sind gewisse Fortschritte (wenn auch keine durchschlagenden Erfolge) zu verzeichnen, wie zum Beispiel Maßnahmen zur Sicherung der politischen Gleichstellung und der Beteiligung der Frauen an Entscheidungen oder die Aufhebung diskriminierender Bestimmungen im Zivil- oder Strafrecht. Aber abgesehen davon, dass diese Fortschritte unterschiedlich weit reichen und größtenteils noch nicht über das Stadium guter Absichten hinausgekommen sind, ist parallel dazu die zunehmende wirtschaftliche Marginalisierung einer Mehrheit von Frauen und die Fortdauer von Gewalt gegen sie zu beobachten.

In vielen Fällen hat sich der Grundsatz der Gleichberechtigung, der Gedanke der Geschlechterparität durchgesetzt und zu entsprechenden positiven Maßnahmen geführt. Mehrere Staaten haben ihre Gesetze reformiert und einige diskriminierende Bestimmungen aus dem Familien- oder Strafrecht abgeschafft oder zumindest eine Diskussion über solche Reformen begonnen.3 Dass die Gleichstellung im Bereich der politischen und Bürgerrechte größere Aufmerksamkeit fand und eher Gegenstand positiver Maßnahmen war, überrascht an sich wenig. Darin spiegelt sich die allgemeine Entwicklung in Menschenrechtsfragen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wider, die ebenfalls durch den Vorrang der politischen und bürgerlichen Rechte vor den sonstigen – ökonomischen, sozialen oder kulturellen – Rechten geprägt war.4 Immerhin haben die Frauen durch dieses Ungleichgewicht zunehmend und nahezu überall das Stimmrecht sowie die volle rechtliche Anerkennung als Staatsbürgerinnen erlangt.

Doch ebenso wie zum Beispiel die ethnischen oder religiösen Minderheiten konnten sie von dieser Entwicklung nur deshalb so profitieren, weil gleichzeitig andere Veränderungen stattgefunden haben, insbesondere die Berücksichtigung der Unterschiede bei der Definition und Umsetzung der politischen und der Bürgerrechte. Während dieser zweiten Etappe, die der Bürgerrechtsbewegung in den USA und der der Unberührbaren in Indien viel zu verdanken hat, haben sich die sozialen Bewegungen und einige Regierungen darauf konzentriert, welche Auswirkungen Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit auf die Möglichkeit der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger haben, tatsächlich in den Genuss ihrer Rechte zu kommen und am demokratischen Leben teilzunehmen. Der Philosoph Jürgen Habermas erklärt: „Rechte können die Frauen nur in dem Maße zu einer privatautonomen Lebensgestaltung ermächtigen, wie sie zugleich eine gleichberechtigte Teilnahme an der Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestimmung ermöglichen, weil nur die Betroffenen selbst die jeweils ,relevanten Hinsichten‘ von Gleichheit und Ungleichheit klären können.“5

Der Grundsatz der politischen und staatsbürgerlichen Gleichstellung, der sich daraus entwickelte, stützt sich auf den Gedanken der gleichberechtigten Teilnahme, aber auch der gleichberechtigten oder paritätischen Repräsentation. Parallel dazu oder als Folge davon wurde die Gleichstellung von Frauen nicht mehr als automatisches Ergebnis oder als Funktion der wirtschaftlichen Gleichstellung gesehen, sondern als gewissermaßen unabhängiger Raum für Forderungen und als eine eigene Notwendigkeit.6 Zu dieser veränderten Einstellung vieler Frauenorganisationen kommt noch eine pragmatische Überlegung: In Politik und Rechtsprechung existieren mehr Möglichkeiten für Reformen als in der Wirtschaft.

Trotzdem ist selbst in diesem Bereich die allgemeine Bilanz alles andere als positiv. Die Berichte von amnesty international bestätigen die fortdauernde Verletzung der politischen und Bürgerrechte, von der Frauen und Männer gleichermaßen betroffen sind, wie auch die Rechtsverstöße, unter denen insbesondere Frauen zu leiden haben.

Darüber hinaus ist trotz der Bedeutung, die der politischen Gleichstellung und Demokratisierung allgemein zuerkannt wird, und trotz des kontinuierlichen Einsatzes von Frauengruppen dafür, zu gewährleisten, dass die Gleichstellung sich auch auf die Frauen erstreckt, die Beteiligung und Repräsentation von Frauen in den Zentren der Macht nach wie vor gering. So stehen den durchschnittlich 39 Prozent Frauen in den Parlamenten der skandinavischen Länder ganze 14 Prozent im Europa der OECD gegenüber (ohne die skandinavischen Länder) sowie 15 Prozent in Nord- und Südamerika und in Asien, 11,5 Prozent in Afrika und gerade einmal 4 Prozent im Nahen Osten.7

Die Gründe dafür sind natürlich von Land zu Land verschieden. Der zusammenfassende Bericht der Vereinten Nationen und viele der einzelnen Regierungsberichte betonen das Fortbestehen einer patriarchalen Ideologie, die unter anderem die Aufteilung der Hausarbeit bestimmt. Demnach funktioniert die Gleichberechtigung also deshalb nicht, weil Frauen Kinder bekommen und großziehen und weil sie für die Familie kochen. Da drängt sich doch die Frage auf, ob die skandinavischen Länder vor dem Aussterben stehen – und ob es in der Mehrzahl der Länder tatsächlich den politischen Willen gibt, Hindernisse zu überwinden und auf dem Papier wie auch in der Realität den Grundsatz der politischen und rechtlichen Gleichstellung abzusichern.8

In diesem Zusammenhang als Beispiele erwähnt seien die US-amerikanische Regierung, die bis heute die Konvention gegen jede Art der Diskriminierung von Frauen nicht unterschrieben hat, und das kuwaitische Parlament, das den Frauen das Stimmrecht verwehrt. Auch das jordanische Parlament hat sich über den Gleichstellungsgrundsatz hinweggesetzt und zum wiederholten Mal gegen eine Änderung von Artikel 340 des Strafgesetzbuchs gestimmt, der Strafminderung für Mörder vorsieht, sofern es sich um ein Verbrechen im Namen der „Ehre“ gehandelt hat. Und in Afghanistan werden die Menschenrechte der Frauen insgesamt mit Füßen getreten.

Die Ideologie der Patriarchen

GLEICHZEITIG stellt der Bericht der Vereinten Nationen fest, dass national wie international durch die Globalisierung (verstanden als Deregulierung und Liberalisierung der Finanz- und Arbeitsmärkte) die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten wie auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern weiter zugenommen hat: „Die wachsende Ungleichheit in der wirtschaftlichen Situation verschiedener Länder wie auch innerhalb der Länder hat in Verbindung mit einer zunehmenden ökonomischen Abhängigkeit der Staaten von äußeren Faktoren deren Möglichkeit, sozialen Schutz und die Umsetzung des Aktionsprogramms zu gewährleisten, eingeschränkt. Dass immer mehr Frauen von Armut betroffen sind, untergräbt die Bemühungen, eine größere Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen.“9

So hat sich die Globalisierung negativ auf die Reproduktionsfunktionen der Frauen ausgewirkt, und zwar zum großen Teil durch die Kürzung der nationalen Budgets für das Gesundheitswesen und die Privatisierung der medizinischen Dienste. Vielerorts, vor allem in den Sektoren mit weiblichen Arbeitskräften, hat sie sich auch durch niedrigere Löhne und schlechtere soziale Absicherung bemerkbar gemacht.10 Nach den Zahlenangaben des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften waren von den zwei Millionen Menschen, die in Thailand während der Asienkrise 1998 ihre Arbeit verloren haben, 80 Prozent Frauen. Der vorläufige Bericht der Vereinten Nationen lässt auch erkennen, dass sich die mit der Globalisierung einhergehenden Praktiken auf eine patriarchale Ideologie stützen, die zwar schon vorher existierte, aber von der Globalisierung integriert, wenn nicht sogar durch sie gestärkt wurde.

So sind von drei wichtigen Globalisierungsphänomenen – Zunahme der sweat shops (Billiglohnfabriken), der Teilzeitstellen und der gänzlich ungesicherten Arbeitsverhältnisse – vor allem Frauen betroffen, insbesondere Immigrantinnen und Frauen im Süden. Der Globalisierung ist es also gelungen, eine Arbeitsteilung und ein Wertesystem zu integrieren und sich zunutze zu machen, das unter anderem auf der Abwertung von Frauenarbeit beruht.

Die nationalen Berichte und die Zusammenfassung machen für das Scheitern der Regierungen bei der Umsetzung des Pekinger Aktionsprogramms deren Unfähigkeit (eher noch als ihren mangelnden politischen Willen) verantwortlich, eine Unfähigkeit, die von der Globalisierung selbst herrührt. Sicher darf man den globalen sozioökonomischen Kontext nicht außer Acht lassen, und häufig entzieht er sich der Kontrolle durch die einzelnen Staaten, denen jedoch gerade die Aufgabe zukommt, den Menschenrechten im Allgemeinen und den wirtschaftlichen und sozialen Rechten im Besonderen zur Durchsetzung zu verhelfen.11

Doch man muss auch betonen, dass das Versagen der Regierungen in diesem Bereich nicht neu ist und dass politische Faktoren, an erster Stelle der Kalte Krieg und die ideologische Polarisierung, sie lange ins Abseits verbannt haben. Nichts wäre deshalb ungünstiger für die Mobilisierung, als die Achtung der Menschenrechte für Frauen (wie für Männer) dem Ende oder der Selbstzerstörung der Globalisierung unterzuordnen.

Die Geschichte der Menschheit beweist, dass die optimalen politisch-ökonomischen Bedingungen für die Verwirklichung der Menschenrechte nicht zu haben sind. Initiativen sind sofort möglich und könnten sich um zwei Pole herum entwickeln: zum einen die erneute Bekräftigung der internationalen Verpflichtungen der Staaten und ihrer politischen Aufgabe und zum anderen eine detaillierte Erarbeitung von internationalen Verpflichtungen der großen multinationalen Konzerne und Finanzinstitutionen in Sachen Menschenrechte.

Dieser zweite Pol rückt seit kurzem immer stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es geht darum, rechtlich (auf nationaler und internationaler Ebene sowie im Zivil- und Strafrecht) und faktisch zu erreichen, dass den multinationalen Konzernen und Finanzinstitutionen bestimmte Pflichten zukommen und dass sie verantwortlich gemacht werden können für Rechtsverletzungen im Zusammenhang mit ihren ökonomischen oder finanziellen Aktivitäten.12 Vor allem müssen sie sicherstellen, dass ihre Politik oder die von ihnen betriebenen Aktivitäten nicht (direkt oder indirekt) gegen die Menschenrechte verstoßen.

Auf der anderen Seite muss auch – dem vorherrschenden internationalen Gerede zum Trotz – die politische Handlungsfähigkeit der nationalen Regierungen verteidigt werden. Obwohl die Globalisierung bestimmte Aspekte der Situation von Frauen, insbesondere in den am wenigsten entwickelten Ländern, erklären kann, so ist ihr doch nicht alles zuzuschreiben, schon gar nicht die Tatsache, dass einige Regierungen den Kampf, namentlich den gegen die Diskriminierung, inzwischen aufgegeben haben. So erklärt sie zum Beispiel nicht das Fehlen einer allgemeinen Ratifizierung der Konvention gegen die Frauendiskriminierung samt Zusatzprotokoll, die es Frauen und NGOs ermöglichen soll, gegen einen Staat zu klagen, wenn dieser die in der Konvention festgelegten Verpflichtungen nicht einhält.13 Sie erklärt auch nicht, warum nur vereinzelte Staaten Gesetze gegen diskriminierende Bestimmungen oder Praktiken erlassen haben, die das Recht von Frauen auf Eigentum, auf Landbesitz oder auf Kredite einschränken. Und sie erklärt auch nicht, warum in Skandinavien der Stundenlohn von Frauen 17 und in Großbritannien sogar 34 Prozent unter dem von Männern liegt.14

Eine Analyse der für die Peking-Bilanz-Konferenz vorgelegten Berichte lässt nämlich durchaus politische Gestaltungsmöglichkeiten erkennen, und zwar gerade in Bereichen, die – wie etwa der Arbeitsmarkt und die Arbeitsplatzsicherheit – starken äußeren Einflüssen ausgesetzt sind. In vielen Fällen jedoch haben die nationalen Regierungen angesichts ihrer Verantwortung schlicht kapituliert, was im Bereich der Gewalt gegen Frauen besonders skandalös ist.

Das Recht der Frauen auf Leben und körperliche Unversehrtheit wurde hintangestellt zugunsten der für die Regierungen wirklich „wichtigen“ Themen. Keine andere Rechtsverletzung hat so wenig Beachtung gefunden, so wenig Anlass zum Handeln gegeben. Ein betäubendes Schweigen umgibt die Ängste und Leiden vergewaltigter Frauen und Mädchen. Amnesty international dokumentiert diese Gewaltausübung von Tag zu Tag, ob sie in der Haft, während bewaffneter Konflikte, im Rahmen von Menschenhandel oder innerhalb der familiären oder gesellschaftlichen Umgebung stattfindet.

Einige Fortschritte waren freilich in den vergangenen fünf Jahren zu verzeichnen. Strafgesetze wurden reformiert, um Gewalt in der Ehe, Zuhälterei und Frauenhandel schärfer zu ahnden. Nationale und internationale Kampagnen zur Sensibilisierung gegen die Verstümmelung der Geschlechtsorgane wurden durchgeführt.15 Die Rechtsprechung in Sachen Menschenrechte hat sich weiterentwickelt.16 Die internationalen Tribunale für Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien und in Ruanda haben Anklageschriften veröffentlicht, in denen Vergewaltigung als Folter und als konstitutiver Bestandteil einer Politik des Völkermords eingestuft wird. Dank der kontinuierlichen Arbeit des Gender Caucus17 wurden in das im Juli 1998 in Rom verabschiedete Statut des Internationalen Gerichtshofs sexuelle Gewalt und an erster Stelle Vergewaltigung in die Definition von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen.

Doch diese Veränderungen, so notwendig und positiv sie auch sind, reichen als Antwort auf die entscheidenden Probleme der Frauen in der Welt nicht aus: sexuelle Gewalt als Kriegswaffe, die alltägliche Brutalität gegen Frauen und die Straffreiheit der Schuldigen. Dass es keine Kampagne zur Sensibilisierung in Bezug auf die Gewalt in der Ehe gibt, ist zumindest irritierend. Auf dem Alten Kontinent hatte der Antrag des Europäischen Parlaments, ein Europäisches Jahr gegen die Gewalt gegen Frauen auszurufen, keinen Erfolg, und die Kampagne zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit in Bezug auf die häusliche Gewalt blieb ausgesprochen wirkungslos.18 Außerdem weigert sich die internationale Gemeinschaft, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch immer, geschlechtsspezifische Verfolgung als juristische Grundlage für die Bestimmung des Flüchtlingsstatus anzuerkennen.19

Die Fortdauer dieser Barbarei geht in vielen Fällen einher mit einer fatalistischen oder nachsichtigen Grundhaltung. So wie die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern als „natürlich“ erscheint, wird auch die geschlechtsspezifische Gewalt als unabänderlicher Tatbestand beschrieben oder wahrgenommen, der sich jeder tief greifenden Veränderung gegenüber als resistent erweist und die internationale Verantwortung der Staaten nicht berührt.

Die Botschaft der in New York versammelten Organisationen ist deshalb sehr eindeutig: Gewalt gegen Frauen, ob in der Haft, in ihrer familiären oder gesellschaftlichen Umgebung, stellt eine Verletzung ihrer Menschenrechte dar und fällt in den Verantwortungsbereich der Regierungen.

Die internationalen Verpflichtungen beruhen unter anderem auf der Annahme, dass Staaten für den Missbrauch, der sich in der Privatsphäre vollzieht, verantwortlich gemacht werden können. Das mit den Menschenrechten verbundene Völkerrecht entstand im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Verträgen, die auf die Abschaffung des Sklavenhandels abzielten und also Privatpersonen betrafen. Dabei verpflichteten sich die Staaten, bestimmte Dinge zu verbieten – in diesem Fall den Besitz von Sklaven und die Beteiligung am Sklavenhandel.20

Staaten haben nicht nur die Pflicht, die Rechte von Frauen zu respektieren, sondern auch, sie zu schützen und zu gewährleisten, dass sie alle ihre Rechte in Anspruch nehmen können. Dafür sind unterschiedliche Interventionen erforderlich: Prävention gegen Missbrauch, Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung der Opfer (d. h. die jeweils notwendige gesetzliche, moralische, finanzielle und medizinische Unterstützung sowie in schweren Fällen auch Betreuung), eine systematische Untersuchung der Formen des Missbrauchs, die strafrechtliche Verfolgung der mutmaßlichen Täter, ihre Verurteilung und Bestrafung, die Bewilligung finanzieller Entschädigungen für die Opfer und die Bereitstellung der erforderlichen Dienstleistungen und Behandlungen. Dafür müssen zahlreiche Institutionen (Polizei, Justiz, Gesundheits- und Erziehungswesen) und auch die Medien mit einbezogen sein, die Strafgesetzgebung muss reformiert und eine einschlägige Ausbildung der Polizeidienste eingerichtet werden. Immerhin machen in manchen städtischen Regionen Frankreichs Fälle von ehelicher Gewalt über die Hälfte der Notrufe oder der Justizfälle aus.21

Die einzige positive Schlussfolgerung, die aus den Diskussionen zur Einschätzung der Nichtumsetzung des Pekinger Aktionsprogramms zu ziehen ist, kann in der unerbittlichen Erinnerung daran gesehen werden, dass nichts, aber auch gar nichts die Fortdauer von Diskriminierung und Brutalität gegenüber Frauen rechtfertigen darf und dass der Rückzug der Staaten aus der Verantwortung nicht geduldet werden kann. Freilich kostet es Geld, das System der Unterdrückung, Diskriminierung und Verfolgung auf Grund der Geschlechtszugehörigkeit anzugreifen. Aber vor allem braucht es einen Willen, der anscheinend weit knapper bemessen ist als die Budgets.

Nach Jahrzehnten der Forschung auf diesem Gebiet können die Regierungen sich nicht länger mit wohlfeilen Rechtfertigungen zufrieden geben. Wir haben zu wenig Frauen in den Parlamenten, in den Ministerrunden, bei den Friedensgesprächen, an den runden Tischen für den Wiederaufbau? Ach, dann haben ihre familiären und häuslichen Beschäftigungen sie wohl davon abgehalten ... Wo waren eigentlich die Regierenden in den letzten fünfzig Jahren, wenn ihnen jetzt plötzlich auffällt, dass die Reproduktionsfunktion der Frauen mit in Betracht gezogen werden muss? Oder wenn sie sich nach den wahren Ursachen der Gewalt gegen Frauen fragen? Wollen wir das 21. Jahrhundert wirklich damit zubringen, nur wiederzukäuen, was unsere Vorfahren im 20. Jahrhundert (und viele andere vor ihnen) bereits nachgewiesen hatten?

dt. Sigrid Vagt

* Leiterin des Generalsekretariats von amnesty international in London.

Fußnoten: 1 Armut, Bildung und Erziehung, Gesundheit, Gewalt gegen Frauen, bewaffnete Konflikte, Wirtschaft, Macht- und Entscheidungsstrukturen, institutionelle Mechanismen zur Frauenförderung, Grundrechte, Medien, Umwelt, Mädchen. 2 „Proposed Outcomes Document“, E/CN.6/2000/PC/L, vorgelegt vom Vorsitzenden des Vorbereitungskomitees der Commission on the Status of Women (Kommission zur Lage der Frauen), März 2000. Die hier erörterte Version ist noch nicht die Endfassung, die erst bei der Versammlung in New York verabschiedet wurde. 3 Eine Übersicht über einige der in den vergangenen zwölf Monaten verzeichneten Reformen geben die von Equality Now zusammengestellten Informationen, „Words and Deeds: Holding Governments Accountable in the Beijing + 5 Review Process“, New York, Juli 1999, November 1999, März 2000. 4 Pierre Sané, „50. Jahrestag der Menschenrechtserklärung. Neutralität ist nicht genug“, Le Monde diplomatique, Mai 1998. Siehe auch „Femmes, le mauvais genre?“, Manière de voir, Zweimonatsschrift, hg. von Le Monde diplomatique, Nr. 44, April/Mai 1999. 5 Jürgen Habermas, „Faktizität und Geltung“, Frankfurt (Suhrkamp stw) 1998, S. 106. 6 Anne Phillips, „Which Equalities Matter?“, Cambridge (Polity Press) 1999. Es handelt sich um eine Erscheinung, die die Autorin für notwendig hält, die aber ihrer Ansicht nach jetzt korrigiert werden muss, denn sie hat zur nahezu völligen Vernachlässigung der wirtschaftlichen Gleichstellung geführt. 7 Inter-Parliamentarian Union, „Women in Parliament“, New York, 15. April 2000, website: http://www.ipu.org/. 8 Lobby européenne des femmes (LEF), „Les femmes et la prise de décision“, Brüssel, website: http://www.womenlobby.org/. 9 Vorgeschlagene Schlussresolution, „New challenges and trends affecting the full implementation of the Beijing Declaration and Platform for Action“, Paragraph 3. 10 Vorgeschlagene Schlussresolution, „Achievements and obstacles in implementation of the 12 critical areas of the PFA“, Paragraf 5 bis 22. 11 Nicolas Jacobs, „La portée juridique des droits économiques, sociaux et culturels“, Revue Belge de Droit International, 1999-1, Brüssel. Dem Autor zufolge liegt es in erster Linie an den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Bestimmung ihrer juristischen Reichweite, dass die wirtschaftlichen und sozialen Rechte immer noch nahezu vollständig vernachlässigt sind. 12 Vgl. „Liability of Multinational Corporations under International Law“, hg. von Menno Kamminga und Saman Zia-Zarifi (Universität Rotterdam), in Vorbereitung, website: http://www.multinationals.law.eur.nl/. 13 Die Konvention wurde von 165 der 188 Mitgliedstaaten der UNO ratifiziert, in vielen Fällen jedoch unter Vorbehalten, die den Nutzen der Ratifizierung einschränken. Das 1999 verabschiedete Zusatzprotokoll unterzeichneten erst 28 Staaten. 14 LEF, „Les femmes et l'économie“, Alternativbericht 2000, website: http://www.womenlobby.org/. 15 Siehe insbesondere die Kampagnen der Weltgesundheitsorganisation seit 1997. WHO, „UN Agencies call for end to female genital mutilation“, 9. April 1997. 16 Agnès Callamard, „Methodologie de recherche sexospécifique“, amnesty international und Centre international des droits de la personne et du développement démocratique, Montreal 1999; „Documenter les violations des droits humains par les agents de l'Etat: La violence sexuelle“, amnesty international und Centre international des droits de la personne et du développement démocratique, Montreal 1999. 17 Der Women's Caucus for Gender Justice in the ICC, der 1997 anlässlich eines Vorbereitungstreffens zur Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs gegründet wurde, setzt sich aus engagierten Frauen zusammen, deren Ziel die Integration der Frauen und der „geschlechtsspezifischen“ Probleme in die Verhandlungen um den International Criminal Court (ICC) ist. Siehe die Website www.iccwomen.org. 18 Lobby européen des femmes, „Unveiling the hidden data on domestic violence in the European Union“, LEF, Brüssel 2000; LEF, „La Violence à l'égard des femmes“, europäischer Alternativbericht 2000. 19 Agnès Callamard, „Refugee Camps, Power and Security: A Gendered and Political Analysis“, in: „Refugees: Perspectives on the Experience of Forced Migration“, hg. von Alastair Ager, London (Cassell) 1999. 20 Stephanie Farrior, „State responsibility for human rights abuses by non-state actors“, in: „Proceedings of the 92nd Annual Meeting“, American Society of International Law, Washington DC, April 1-4, 1998; S. 299-303. 21 „Rapport sur la mise en oeuvre par la France des recommandations du programme d'action de la quatrième conférence mondiale sur les Femmes“, Oktober 1999.

Le Monde diplomatique vom 16.06.2000, von AGNES CALLAMARD