Das System Fujimori
Von KARIM BOURTEL *
AM 28. Mai 2000 wurde der seit zehn Jahren amtierende peruanische Präsident Alberto Fujimori nach einem zweiten Wahlgang wieder gewählt. Der Wahlsieg ist umstritten. Fujimori hat gewonnen, obwohl die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ihre Wahlbeobachter zurückzog, die USA eine scharfe Verwarnung aussprach und sein Widersacher Alejandro Toledo sich weigerte, am zweiten Wahlgang teilzunehmen. Doch der Wahlbetrug allein erklärt noch nicht die Entwicklungen in diesem Lande, das durch extremes Elend gekennzeichnet ist. Denn es sind gerade die Armen, die für Fujimori gestimmt haben. Sie sind zu Geiseln eines Regimes geworden, das seine dürftigen Sozialprogramme an die Bedingung politischer Gefolgschaft knüpft. Und viele Peruaner sehen in Fujimori noch immer den Mann, der die Hyperinflation besiegt und den Terror des Leuchtenden Pfads bezwungen hat.
Am Vorabend der ersten freien Wahlen nach zwölf Jahren Militärdiktatur, in der Nacht zum 17. Mai 1980, tauchte der Leuchtende Pfad in Chuschi auf, einem Dorf im Departement Ayacucho: „Fünf maskierte Personen drangen in die Wahlbüros ein, um Wahlregister und Urnen zu verbrennen. Die Aktion begann um zwei Uhr morgens, nach einer halben Stunde war alles vorbei.“1 Das war die erste Aktion jener Guerilla, die Peru die beiden schwärzesten Jahrzehnte seiner Geschichte bescheren sollte: 25 000 Tote, 15 000 Verschwundene und über 600 000 Flüchtlinge, die sich in den pueblos jóvenes (jungen Dörfern, wie die Siedlungen im Elendsgürtel von Lima heißen) niederließen. Der Sachschaden, den die Guerilla anrichtete, beläuft sich auf sieben Milliarden Mark.
Acht Jahre nachdem Abimaél Guzmán alias Presidente Gonzalo am 12. September 1992 in Lima verhaftet wurde, ist der Leuchtende Pfad noch nicht wirklich vom Territorium oder gar aus dem Bewusstsein der Peruaner verschwunden.2 Der Terrorismus wird offiziell totgesagt. Aber das zeigt unter anderem nur, dass Präsident Fujimori inzwischen eine wahre Meisterschaft entwickelt hat, die traumatisierte Bevölkerung zu manipulieren und die Erinnerung an den Bürgerkrieg für seine Zwecke zu instrumentalisieren: „Am 28. Mai wird das peruanische Volk nein sagen zum Leuchtenden Pfad, nein zur Revolutionären Bewegung Tupac Amaru und nein zum Terrorismus“, verkündete Fujimori noch am 17. Mai bei einer Wahlveranstaltung in Ayacucho.
Die Befriedung des Landes ist nur noch ein rhetorischer Trick, um die Opposition zum Sündenbock zu machen. Drei Tage vor dem zweiten Wahlgang am 28. Mai 2000 tauchten im Norden des Departements Ayacucho Flugblätter auf, die den Oppositionskandidaten des Bündnisses Perú posible, Alejandro Toledo, mit einem Tuch vor dem Gesicht und einer Mütze mit der Aufschrift MRTA zeigten, dem Kürzel der Revolutionären Bewegung Tupac Amaru3 . Die Region, mit den Provinzen Huanta und La Mar, ist eines der Koka-Anbaugebiete, in denen die Guerilla besonders mörderisch aufgetreten war. „Gewalt, Gemetzel, Krieg und Tote. Toledo wählen heißt den Terrorismus wählen.“
Auf solche Propagandaparolen trifft man selbst noch in den Büros des Nationalen Landwirtschaftlichen Gesundheitsdienstes von Ayacucho (Senasa), der vom Landwirtschaftsministerium betrieben wird. Die chicha-Tageszeitungen – die billige, regierungsfinanzierte Boulevardpresse –, verbreiten ähnliche Botschaften: „Abimaél (Guzmán) pries die Gewalt, so auch der Verlierer (Toledo). Abimaél war ein Sohn seiner Mutter, so auch Choledo (ein Wortspiel aus cholo, einer abwertenden Bezeichnung für die indianischen Hochlandbewohner, und Toledo). Sie nehmen sich nichts.“4 Bei seinem Wahlkampfauftritt in Ayacucho malte Fujimori für den Fall seiner Wahlniederlage bedenkenlos die Rückkehr des Terrorismus an die Wand. Ein Lehrer, der abends für 350 Mark monatlich unterrichtet und deshalb zum Überleben tagsüber Taxi fährt, verliert die Fassung: „Der eigentliche Terrorist ist er! Die Streitkräfte haben noch mehr Leute umgebracht als Sendero Luminoso und die MRTA. In diesem Land gilt die Demokratie für ganze zehn Personen. Wenn jemand anderes öffentlich seine Meinung sagt, wird er sofort wegen Subversion angeklagt und eingesperrt.“
An der Armutsfront
NACHDEM der Leuchtende Pfad besiegt war und seine Anführer festgenommen worden waren, wanderte ein Teil der geflüchteten Bevölkerung seit 1992 in seine alten Dörfer zurück. Das Ausmaß der Migrationsbewegungen und der Druck von Nichtregierungsorganisationen führten im Oktober 1993 zur Einrichtung des Hilfsprogramms für Rücksiedelung und Entwicklung in Gebieten im Ausnahmezustand (PAR). Im Lauf der letzten fünf Jahre wurde eine Summe von umgerechnet sechseinhalb Milliarden Mark in die am stärksten betroffenen Departements investiert (Apurímac, Ayacucho, Huancavelica, Junín).5 Mit diesem Geld wurden 6 500 Familien repatriiert, Häuser, Schulen und sanitäre Infrastruktur instand gesetzt bzw. wieder aufgebaut und 670 000 zuvor nicht registrierte Personen erfasst. Betty Olano Cieza von der technischen Leitung des PAR, muss allerdings einräumen, dass ihre finanziellen Mittel unzureichend sind. José Manuel Ramírez, Sprecher der Menschenrechtsvereinigung Asociación pro Derechos Humanos (Aprodeh), meint: „PAR hat weder ein Programm für den wirtschaftlichen Wiederaufbau dieser zerstörten Regionen, noch verschafft es denen ihr Recht, die alles verloren haben. Dies Land braucht wesentlich mehr als nur eine Rücksiedelungspolitik.“
Angesichts dieses Vakuums mussten die Menschen, die mit neuen Erwartungen an das Leben und neuen Entwicklungsträumen in die Sierra zurückgekehrt sind, die für die Organisation ihrer Gemeinden notwendigen Ressourcen und Institutionen selbst schaffen. „Die Flüchtlinge sind in diesem Land die Letzten, die noch an den Fortschrittsmythos glauben“, meint Jaime Antesana, ein Soziologe mit Beraterstatus im Kongress. „Sie haben jetzt selbst eine regelrechte ländliche Revolution in den Andengebieten ins Rollen gebracht.“ Nach und nach haben die Gemeinden, die heute einen anerkannten Entwicklungsfaktor darstellen, ein staatsbürgerliches Bewusstsein entwickelt. Die Campesinos fordern ihren Platz in der Nation. Die Regierung Fujimori hatte diese Erwartungen überhaupt erst nach Jahren wahrgenommen, aber jetzt versucht sie, politisch davon zu profitieren.
Am Ortsausgang von Ayacucho endet der Asphalt. Hier beginnt das Reich der staubigen Pisten. Bis in den Distrikt Tambo sind es 120 Kilometer und drei Stunden Fahrt. Dort ist die Präsenz des Staates nurmehr symbolisch. Doch die „Bemühungen“ der Regierung Fujimori zur Verbesserung der Infrastruktur (eine Gesundheitsstation, eine Militärstation und ein paar ausgebesserte Straßen) haben ihr einem hohen Bekanntheitsgrad gebracht – denn niemand hatte je zuvor Derartiges unternommen. In diesen entlegenen Landstrichen bedeutet selbst eine Winzigkeit schon sehr viel. „Hier haben die Leute den Chino (Fujimori) gewählt. Er kennt uns und unterstützt uns. Und alles, was er ankündigt, das macht er auch. Er hat uns geholfen. Und außerdem – wer garantiert uns, dass mit einem anderen Präsidenten die Gewalt nicht wieder zurückkehrt?“
Im zweiten Wahlgang hat Fujimori in Tambo 71 Prozent der Stimmen erhalten. Dabei ist das Departement Ayacucho das zweitärmste des Landes; nur das benachbarte Huancavelica ist noch ärmer. Das durchschnittliche Monatseinkommen beträgt hier knapp 60 Mark, gegenüber ca. 170 Mark im Landesdurchschnitt. Die Lebenserwartung beträgt 56 Jahre, landesweit sind es 68 Jahre. Das ist im Übrigen ein allgemeines Phänomen: In ländlichen Gebieten leben 64 Prozent der Bewohner unterhalb der Armutsgrenze, während es in den Städten 25 Prozent sind.6
Trotz dieses düsteren Panoramas hat Fujimori, der vielen als Mann der Vorsehung gilt, die ländlichen Gebiete und die Slums von Lima für sich gewonnen. Und diese Tatsache lässt sich nicht allein mit Wahlbetrug erklären. „Die Regierung hat das Thema der Gewalt propagandistisch eingesetzt“, sagt Grimaldo Ríos Barrientos, der Direktor des Zentrums für Bevölkerungsförderung und -entwicklung (Ceprodep). „Die völlige Konzentration der Debatte auf den Wahlbetrug hat jede Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Erwartungen der Bevölkerung oder mit der Entwicklung von Gemeinden und Lokalökonomien überlagert.“
Auch wenn Fujimori die städtische Mittelschicht gegen sich aufgebracht hat, in der es zur Zeit heftig brodelt, so muss ihn das kaum stören, denn die hohen Militärs stehen hinter ihm. Die Entmilitarisierung der Gebiete, in denen einen Monat vor den Wahlen der Ausnahmezustand ausgerufen wurde (neun Prozent des gesamten Staatsgebietes), hatte in diesem Land, wo „das Militär die einzige funktionierende Institution ist“, keineswegs einen tatsächlichen Rückzug der Streitkräfte zur Folge. Der Staat ist in den pueblos des Hochlands oft nur in Gestalt der Armee präsent, und nach den Traumata des Krieges wünschen sich offenbar nur wenige, dass sie abzieht. Diese eigentümliche Logik mag überraschen, denn längst nicht alle 25 000 Peruaner, die in den letzten zwanzig Jahren umgebracht wurden, gehen auf das Konto des „Terrorismus“. Der staatliche Kampf gegen die Subversion hatte ebenfalls viele willkürlicher Verhaftungen und Misshandlungen zur Folge – Folter, Morde und sogar Massaker. Doch „die Bauern sind viel zu sehr auf den Staat angewiesen, um sich gegen ihn aufzulehnen“, sagt Pedro Huamán, ein pensionierter Ökonom. „Und wie sollten sie die Militärs auch zur Rechenschaft ziehen? Die sind die Obrigkeit. Ihnen gehört alles, und sie kaufen alles. Wenn du dich beklagst, verschwindest du.“
Fujimori und das Oberkommando der Streitkräfte bescheinigen sich selbst das Verdienst, den Leuchtenden Pfad zerschlagen zu haben. Dabei ist aber sehr die Frage, ob dies ohne die Hilfe der Campesinos geglückt wäre. Ab Ende 1982 haben die Bauern teils aus eigenem Antrieb, teils unter Anleitung der Armee oder auch zwangsrekrutiert, eigene Verteidigungsstrukturen in Form von rondas campesinas (Bauernräten) oder Selbstverteidigungskomitees (Comites de Autodefensa - CADs) aufgebaut.7 Viele sind dabei ums Leben gekommen. Doch seitdem hat niemand etwas getan, um die „anonymen Helden“ des Konflikts materiell und moralisch zu entschädigen.
Zwar hat die Regierung im November 1991 das Gesetzesdekret 741 erlassen. Darin werden die CADs als eine „spontan und aus freien Stücken entstandene Bürgerorganisation zur Verteidigung der vom Terrorismus bedrohten Gemeinden“8 bezeichnet. Ein Jahr später verfügte das Oberste Dekret 077/DE92 in Artikel 10, dass „Tod, Verletzungen oder Invalidität eine Vorzugsbehandlung des Staates im Sinne einer Entschädigung oder Rente zur Folge haben“. Doch es sollte noch bis 1998 dauern, bis das Oberste Dekret 068-DE/SG die Höhe der Entschädigungssumme festlegte. Die Honorierung kommt also verspätet und überdies nur für die Opfer, die nach Veröffentlichung des Dekrets 077 getötet oder verwundet wurden, d. h. nach Oktober 1992. Dabei hatte der bäuerliche Widerstand schon 1984 begonnen. Zudem kommt das Geld nur den Männern zugute, die im Verlauf bewaffneter Auseinandersetzungen mit den „Subversiven“ getötet oder verwundet wurden, d. h. „wenn die CAD ausrückten, um die Terroristen zu verfolgen“, und nicht etwa, „wenn die Subversiven in die Ortschaften einfielen“.
Die Überfälle des Leuchtenden Pfads haben in Tambo zwischen 1982 und 1994 264 Tote und 36 Invaliden zurückgelassen. Zudem gab es aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzung 85 Tote und 36 Kriegsversehrte.9 Doch in den Genuss der staatlichen Entschädigung kommen lediglich die Familien, die vier Tote oder mehr zu beklagen haben, und die müssen überdies nach Veröffentlichung des Dekrets gefallen sein. Das betrifft aber nur 1,15 Prozent der Opfer, und die müssen auch noch die erforderlichen Dokumente wie z. B. Todesurkunden vorlegen, die meist unmöglich zu beschaffen sind. Denn der Staat hatte sich in den Jahren der gewaltsamen Auseinandersetzungen aus den ländlichen Gebieten zurückgezogen und die Einwohner ihrem Schicksal überlassen.
Im April 1999 stiegen achtzig ronderos (Mitglieder der Bauernräte) in ihren Ponchos aus den Bergen nach Lima herab, um die Öffentlichkeit aufzurütteln: „Wenn es nur sechshundert Mark sind, aber bitte für alle . . . Auf die Summe kommt es uns nicht an. Was für uns zählt, ist die Anerkennung.“ Ein Reformprojekt für die Dekrete 077 und 068, das den Einwohnern von Tambo eine Entschädigung in Höhe von ca. 100 000 Mark ermöglicht hätte, verschwand genauso schnell in der Schublade, wie es ins Parlament eingebracht worden war. „In diesem Land werden nur Militärs ausgezeichnet“, kommentiert Antesana bedauernd. Doch trotz dieser brutalen Undankbarkeit werden die Ressentiments noch immer von der Erinnerung an die schrecklichen Jahre überlagert. Für Alberto Zigarbe Torres, ehemaliges Mitglied des Selbstverteidigungskomitees von Tambo, haben die Militärs nur „irrtümlich“ getötet. „Wenn sie nicht da gewesen wären, wer hätte uns sonst geholfen? Sie versuchen, uns zu verteidigen. Nein, niemand nimmt es ihnen übel.“ Für Fujimori sind solche Einstellungen ein Geschenk des Himmels.
Francisco Diez-Canseco Tavara, Vorsitzender des Friedensrates, ist der Meinung, dass „die Verhaftung von Guzmán zwar ein strategischer Sieg war, aber sie bedeutet für Sendero Luminoso noch lange nicht das Ende“. In der Provinz La Mar spuken die Subversiven immer noch in den Köpfen: „Verschwunden! Sie machen wohl Witze. Oben in den Bergen sind sie zu Hunderten“, sagt Huamán. Nach übereinstimmenden Augenzeugenberichten gibt es in der Region um den Río Apurimac, in den bergigen Gegenden und im amazonischen Teil von Ayacucho sowie im Hochland von Huallaga und von Libertad noch aktive Guerillagruppen. In allen diesen Gebieten wird intensiv Koka angebaut und geschmuggelt – die Quelle der finanziellen Mittel, die den Senderistas zum Überleben verhilft.
Am 9. April hat in Tocache eine Guerillakolonne den Zugang zu den Wahlbüros blockiert. Die Wähler mussten wieder umkehren. Nach Ansicht von Jeffrey Gamarra Carillo, Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation Ipaz, treibt die Fujimori-Regierung ein perverses Spiel: „Möglicherweise liegt es in ihrem eigenen Interesse, dass die Guerilla nicht verschwindet: Dieser Unsicherheitsfaktor ist nämlich sehr profitabel. Mit Hinweis auf die Gefahr kann man weiterhin Hilfe aus Washington beziehen und weitere Militärausgaben und militärische Präsenz rechtfertigen. Da ist vieles denkbar. In gewisser Weise ist Sendero Luminoso für die Regierung funktional geworden.“
Von der Befriedung zum wirklichem Frieden ist es ein Schritt, den Präsident Fujimori nie gegangen ist. Um ihn zu vollziehen, müsste er noch einmal auf die härtesten Zeiten der vergangenen zwanzig Jahre zurückkommen und die Verantwortung der Militärs bei den Massakern an Tausenden von Bauern eingestehen. Und der Staat müsste alle verfügbaren Ressourcen darauf verwenden, gegen die Marginalisierung des Hochlandes vorzugehen, aber auch gegen die Ausgrenzung der Millionen arbeitslosen Frauen und Männer, die sich in den pueblos jóvenes von Lima drängen (siehe den nebenstehenden Beitrag). Abgesehen von weiteren Unruhen, die womöglich aufgrund der letzten Wahlen bevorstehen, greift in Peru wegen seiner im Eiltempo durchgezogenen Wirtschaftspolitik die soziale Gewalt um sich. Ein weitsichtiger Experte sieht in darin das Resultat einer „Senderisierung“ des Landes: „Wenn Staat und Zivilgesellschaft nicht sehr schnell zu einem wirklichen Friedensdialog finden, braucht nur ein neuer Guerillaführer auftauchen, und dann ...“
dt. Miriam Lang
* Journalist