14.07.2000

Rebellion gegen das koloniale Erbe

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Rebellion gegen das koloniale Erbe

Von SOLOMON KANE und LAURENT PASSICOUSSET *

Die Rebellengruppe Abu Sayyaf hält auf der philippinischen Insel Jolo 21 asiatische und europäische Touristen als Geiseln gefangen. Die Organisation will ein Staatsgebilde errichten, das nicht auf der willkürlichen Grenzziehung gründet, die im Zuge der Entkolonialisierung entstanden ist. Wie die Bewegungen und Gruppierungen, die auf dem malaysischen und indonesischen Archipel ähnliche Ziele verfolgen, beuten Abu Sayyaf den islamischen Glauben als politisches Instrument für ihre Zwecke aus. In der Tat ist der Islam das einigende Element zwischen den zahlreichen Ethnien im Süden der Philippinen.

Das heutige Zamboanga, eine ehemalige spanische Zitadelle, ist mit seinem Hafen die wichtigste Stadt im Westen Mindanaos. In dieser Region am Rande der Sulu-See lebt etwa ein Viertel der 75 Millionen Filipinos. Am 17. Mai diskutierten hier am frühen Morgen die einheimischen Fischer seelenruhig über die magere Ausbeute der Nacht, ohne die Gruppe von Männern und Frauen zu beachten, die von Militär eskortiert einem alten Kahn am Quai entstiegen. Die 85 Personen waren Moro-Flüchtlinge1 , durchweg Muslime philippinischer Nationalität, die aus Sabah, dem zu Malaysia gehörigen Teil Borneos stammten. Unter ihnen der 27-jährige Jusuf, der mit erschöpftem, verängstigtem Blick erklärt, die malaysische Polizei habe ihn und seine Gefährten nach einer Großrazzia von der Insel ausgewiesen. Bereits Mitte Mai waren an die zweitausend Moros von den Behörden in Kuala Lumpur deportiert worden, als Vergeltung für die Geiselnahmen, die seit drei Monaten den Sulu-Archipel im äußersten Süden der Philippinen erschüttern.

In der Grenzregion zwischen Malaysia, einem Bundesstaat mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, und den Philippinen, dem wichtigsten katholischen Land in Asien,2 operieren mehrere Separatistengruppen, die sich auf den Islam berufen. Während 30 Prozent der Bewohner der südlichen Philippinen Muslime sind (gegenüber 70 Prozent Christen), dominieren auf dem Sulu-Archipel (bestehend aus den Inseln Basilan, Jolo und Tawi-Tawi) die Muslime: 97 Prozent der Bevölkerung bekennen sich hier zum Islam.

In dieser Gegend kam es im März und April zu zwei Geiselnahmen durch die kleine Extremistengruppe Abu Sayyaf, die zunächst rund 30 philippinische Kinder und Lehrer, und anschließend 21 Touristen aus Asien und Europa kidnappten. Gegründet wurde Abu Sayyaf – wörtlich „Träger des Schwerts“ – zu Beginn der neunziger Jahre von Abdurajak Abubakar Janjalani, der in Saudi-Arabien islamisches Recht studiert und am Guerillakrieg in Afghanistan teilgenommen hatte (1998 wurde er auf den Philippinen von der Polizei getötet). Aus ihrem Versteck in den Palmenhainen der Insel Jolo proklamierten die bewaffneten Rebellen, denen auch Verbindungen zu den afghanischen Taliban-Milizen nachgesagt werden, sie wollten einen islamischen Bundesstaat errichten, und zwar in den Grenzen eines ehemaligen Sultanats, wie es einst vor der Kolonisierung durch die Spanier bestanden hatte.

Auf dem Sulu-Archipel, der je nach der Stärke oder Schwäche der englischen, spanischen und amerikanischen Kolonisatoren zeitweise zu Malaysia und zeitweise zu den Philippinen gehörte,3 herrscht eine ähnliche Situation wie in der indonesischen Provinz Aceh: Auch hier vollzieht sich die Suche nach der eigenen Identität in einem Klima der Gewalttätigkeit.

Mit ihren Geldforderungen geben die Geiselnehmer zu erkennen, dass ihr erstes Etappenziel darin besteht, ihren bewaffneten Kampf langfristig abzusichern. Nach übereinstimmenden Berichten aus Jolo ist das Lösegeld vor allem dazu bestimmt, die immer zahlreicher werdenden Guerilleros zu bezahlen, die sich der Rebellion anschließen. Zu Beginn der Krise sind innerhalb weniger Tage etwa tausend Bauern und Fischer dem Aufruf der Rebellen gefolgt. Das Geld könnte Abu Sayyaf auch dazu dienen, Waffen und Fahrzeuge anzuschaffen und den Bau eines leistungsfähigen, weitreichenden Nachrichtensenders zu finanzieren.

Die äußerst medienwirksame doppelte Geiselnahme, zu der noch die Bombenattentate der letzten Monate auf Mindanao und in der Hauptstadt Manila hinzukommen, sind nur die spektakulärste Seite einer langfristigen Entwicklung. Es handelt sich um das Wiedererstarken jener alten – vor allem islamistischen, aber auch kommunistischen oder einfach nur separatistischen – Bewegungen, die seit der Unabhängigkeit der Philippinen, Malaysias und Indonesiens die territoriale Einheit dieser Inselstaaten bedrohen.

Die Spannungsherde breiten sich zunehmend über die ganze südostasiatischen Inselwelt aus. Die Mitte der siebziger Jahre gegründete islamistische Bewegung Freies Aceh im Norden Sumatras träumt davon, ihre Anhänger nach dem Beispiel Osttimors in die Unabhängigkeit zu führen. Seit 1998 kommt es im indonesischen Teil Papuas (dem ehemaligen Irian Jaya) vermehrt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen und mit der Armee. In allen Fällen behaupten die Guerillas und ihre Sympathisanten, sie würden um den Erhalt ihrer kulturellen und religiösen Identität kämpfen und damit gegen die „interne Kolonisierung“, wie sie von den Zentralregierungen und der ethnischen Mehrheit praktiziert werde.

Seit die Philippinen 1946 unabhängig wurden, ist die Kluft zwischen den Religionsgemeinschaften in dem zunehmend zersplitterten Inselstaat immer größer geworden. Diese Kluft ist zugleich ein Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie: zwischen der ehemals von der spanischen Krone kolonisierten und christianisierten Bevölkerung, die entscheidend zum Aufbau des philippinischen Staates beigetragen hat, und den unbezwingbaren „Stämmen“ (aus Mindanao, Palawan und Sulu), die sich der spanischen Kolonisierung stets widersetzt hatten. Mit der Errichtung eines philippinischen Nationalstaats, dessen Identität auf den Werten der christlichen Mehrheit gründet, wurde die übrigen Bevölkerungsteile an den Rand des politischen und wirtschaftlichen Lebens gedrängt.

In einer Region mit wenigen Arbeitsplätzen, die noch dazu den Christen vorbehalten sind, fühlen sich die muslimischen Kämpfer heute von der zunehmenden demographischen Stärke der Katholiken bedroht. 14 der 20 ärmsten Provinzen des Landes liegen auf Mindanao und dem Sulu-Archipel. In diesem notleidenden Gebiet ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf sechsmal niedriger als im nationalen Durchschnitt, der knapp über 1 000 US-Dollar liegt. Nach offiziellen Angaben hat die Region die niedrigste Lebenserwartung (57 Jahre) und die höchste Analphabetenrate (25 Prozent) des gesamten Archipels.

Im übrigen resultiert die Geiselkrise – wie das jüngste Wiederaufleben der Spannung in dieser Zone – auch aus einem Interessenkonflikt und der Rivalität zwischen muslimischen Clans. Abu Sayyaf konkurriert mit einer älteren und einflussreicheren Organisation, der 1969 gegründeten, 15 000 Mann starken Moro National Liberation Front (MNLF), die ständigen Beobachterstatus bei der Organisation der Islamischen Konferenz hat.

Die Entführung westlicher Geiseln auf einer malaysischen Insel und ihre Verschleppungauf philippinisches Territorium durch Abu Sayyaf erfolgte wenige Tage nach Abbruch der Friedensverhandlungen zwischen MNLF und Regierung. Ende April hatte die Front eine groß angelegte Offensive gegen die reguläre Armee begonnen. Nach Aussage der Geiselnehmer sind ihre Geldgeber ehemalige Mitglieder der Front mit Sitz in Sabah, das seit 1963 zu Malaysia gehört und seinerseits immer stärker von separatistischen Bestrebungen erschüttert wird. Aus sicherer Quelle ist bekannt, dass die Moros von Sabah die Operation seit Februar geplant hatten, „als Vergeltung für die üble Behandlung und die willkürliche Ausbeutung, der unsere Leute auf den Werften und in den Fabriken Malaysias ausgesetzt sind“4 .

Unter dem Regime (1965 – 1986) des philippinischen Diktators Ferdinand Marcos waren die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen kulturellen Gruppen durch die brutale Intervention der Armee und christlicher Privatmilizen zusätzlich verschärft worden.5 Die MNLF entstand zu Beginn dieser Periode. Mit der Verhängung des Kriegsrechts von 1972, das 200 000 Moros zwang, im malaysischen Staat Sabah Zuflucht zu suchen, verstärkten sich ihre Aktionen zu einer regelrechten Rebellion. Die ebbte erst 1976 mit der Unterzeichnung des so genannten Abkommens von Tripoli etwas ab. Doch wegen der christlichen Minderheit im westlichen Mindanao weigerte sich die Zentralregierung, den betroffenen Provinzen irgendeine Autonomie zuzubilligen.

Weitere zwanzig Jahre mussten die Moros sich gedulden. Im September 1996 wurde ein Abkommen unterzeichnet, und der gewählte Präsident Fidel Ramos versprach, Mindanao zu einer autonomen muslimischen Region zu machen. Seitdem geschah jedoch nichts, um die Wirtschaft von Mindanao und Sulu voranzubringen. Wenn die ehemaligen MNLF-Rebellen den Versprechen der Regierung anfangs wirklich glaubten, so bewirkte die Arbeitslosenrate von 50 Prozent der aktiven Bevölkerung sehr bald, dass sich allgemeine Frustration breit machte.

„Die Moros haben dann wieder zu den Waffen gegriffen und sich den Separatisten von der Islamischen Befreiungsfront oder den Radikalen der Gruppe Abu Sayyaf angeschlossen“, erklärt ein Geschäftsmann aus Zamboanga, der ungenannt bleiben will. Ende Mai treffen wir auf Jolo mit Global zusammen, einem der fünf Mitglieder des mysteriösen Zentralkomitees der Al Arakatul Islamiir (Islamische Bewegung, neuer „Taufname“ von Abu Sayyaf); für ihn ist das Kidnapping nichts weniger „ein Mittel unter anderen zur Vollendung unserer Revolution“. In einem langen Selbstgespräch im Schein einer Petroleumlampe spricht der Revolutionär in seinem regionalen Dialekt über sein politisches Programm: „Es geht um den Aufbau eines islamischen Bundesstaats, der Jolo, Tawi-Tawi, Basilan, Mindanao und Palawan umfasst“ – also etwa 40 Prozent des heutigen philippinischen Staatsgebiets –, „ein Land, in dem wir gemäß unseren Bestrebungen leben können und nicht mehr unter der Vormundschaft einer Regierung, die unser Recht auf Differenz negiert.“

Bislang hat Manila diese Forderungen, kategorisch zurückgewiesen. Die Moro-Separatisten wissen ihrerseits nur zu gut, wie Osttimor sich im letzten Jahr aus dem indonesischen Staatsverband herausgelöst hat: „Die Diskussionen mit der philippinischen Regierung müssen in Anwesenheit der Vereinten Nationen und der Organisation Islamischer Staaten geführt werden“, fordert Global, „und nicht mehr ausschließlich mit den lokalen Politikern, zu denen wir keinerlei Vertrauen haben.“ Der ehemalige Student der Kriminologie an der Universität von Zamboanga vergisst auch nicht den Hinweis, dass der erträumte islamische Staat in der Vergangenheit schon einmal existiert hat, und zwar„lange vor der Ankunft eines gewissen Magellan, dieses portugiesischen Seefahrers im Auftrag Madrids, den Lapu-Lapu, einer der Helden unseres Pantheons, bekämpft hat, um unserem Land die Unabhängigkeit von den Eroberern aus dem Abendland zu bewahren . . .“

Die Spanier, die sich 1521 in Manila festsetzten, haben das Sultanat von Jolo niemals wirklich unterworfen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts radikalisierte sich der Widerstand der Moros gegenüber den neuen US-amerikanischen Kolonisatoren. Er richtete sich vor allem gegen die Landnahme, mit der die Zentralregierung – wie überall in Südostasien – die territoriale Integration und Assimilation von Bevölkerungsminoritäten bezweckte. Seitdem wurden die mehrheitlich muslimischen Provinzen im Westen von Mindanao immer wieder von Wellen christlicher Einwanderer überschwemmt, die den Moros das Land wegnahmen und sie gleich dreifach marginalisierten: kulturell, demographisch und bei der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.

Das Dorf Taglibi gilt als Hochburg der Gruppe Abu Sayyaf. Die Pfahlhütten aus Bambus und Palmblätter lassen die Not der muslimischen Bevölkerung im Süden der Philippinen erkennen. Taglibi liegt pittoresk an einem weißen Sandstrand am blauen Meer, doch für seine Bewohner ist das Dorf alles andere als ein paradiesisches Fleckchen Erde. Kein Strom, kein fließendes Wasser, Straßen, die zunehmend versalzen; kein Straßenbelag auf dem „Highway“, wie sie die rund um die Insel führende Staubpiste nennen. „Hier kann man nur von der Kokosnussernte leben, von der Fischerei und vom Anbau von Maniok, aus dem wir Mehlfladen machen“, erzählt der Fischer Idjirani. Reis, via Sabah aus Vietnam importiert, gibt es nur an besonderen Festtagen. Als wäre das Leben nicht mühselig genug, muss noch ein Drittel aller Ernteerträge beim Panglima Ayudenee6 abgeliefert werden, dem Patriarchen einer der sechs großen Familien von Jolo, die 1910 von den Landreformen der amerikanischen Kolonialregierung profitierten und die Ländereien der Insel unter sich aufgeteilt haben.

Davor hatte das traditionelle Gewohnheitsrecht der Moros geherrscht, nach dem das Land dem gehörte, der es bebaute.7 Die Dorfbewohner erklären, dass auch das Meer der Begehrlichkeit der Mächtigen und Reichen ausgesetzt ist. „Aber während die Panglima sich nur ein bisschen bedienen, nehmen die Leute aus Manila alles“, stellt Idjirani fest. Der industrielle Fischfang in den angrenzenden Gewässern schränkt die Möglichkeit ein, seine sieben Kinder hinreichend zu ernähren. „Wenn die Fischkutter da gewesen sind, sind in der See nur noch die Algen übrig“, schimpft der Fischer. „Nennen Sie mir einen einzigen Grund, warum ich den Mudschaheddin von Abu Sayyaf nicht glauben sollte, wenn sie uns das Ende der Unterdrückung versprechen . . .“

dt. Matthias Wolf

* Journalisten

Fußnoten: 1 Der Name „Moro“ – Bezeichnung für zwölf ethnolinguistische Gruppen muslimischer Konfession, die auf dem Mindanao-, Palawan- und Sulu-Archipel leben – wurde von den Spaniern eingeführt in Anspielung auf die mittelalterlichen Invasionen ihres Landes durch die Mauren. 2 Der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung der Philippinen beträgt über 90 Prozent; 4,5 Prozent sind Muslime, der Rest gehört verschiedenen anderen Religionen an. 3 Malaysia ist eine ehemalige englische Kolonie, die 1957 ihre Unabhängigkeit erlangte. Die Philippinen wurden vom 16. Jahrhundert bis 1898 von den Spaniern beherrscht und bis 1941 von den USA. Im Zeiten Weltkrieg besetzten die Japaner die Inseln, die 1946 unabhängig wurden. 4 Die Moro-Emigranten in Sabah leben in äußerst unsicheren Verhältnissen. Größtenteils werden sie zu lächerlichen Löhnen von malaysischen und chinesischen Unternehmern aus Kota Kinabalu eingestellt, um die Häuser und Freizeitzentren dieser Küstenstadt zu bauen, die im Wesentlichen vom Tourismus, der Erdölproduktion und der Forstwirtschaft lebt. 5 Nach Schätzungen der philippinischen Regierung sind seit Beginn der siebziger Jahre etwa 120 000 Menschen den separatistischen und religionsbedingten Konflikten zum Opfer gefallen. 6 Die fünf Panglima – Nachfahren der Berater des letzten Sultans von Jolo – sowie der „Kriegsherr“ Tan (Oberhaupt einer Familie chinesischer Einwanderer, die es im Laufe von Generationen verstanden hat, mit Hilfe ihres Geldes zunehmend Einfluß auf die örtlichen politischen Verhältnisse zu bekommen) haben sich mit ihren Privatmilizen unablässig bekämpft. Auslöser für diese Clankriege war der Grundbesitz. 7 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es nur sehr wenige Moros, die genügend Englisch konnten, um die näheren Umstände der amerikanischen Landreform zu begreifen. Im Gegensatz zu den Panglima versäumten es die meisten armen Familien, ihre Anbauflächen registrieren zu lassen, was dazu führte, daß sie später enteignet wurden.

Le Monde diplomatique vom 14.07.2000, von SOLOMON KANE und LAURENT PASSICOUSSET