Ein Grenzkrieg wird zur Strafaktion
Von JEAN-LOUIS PÉNINOU *
NACH zwei Jahren Krieg scheinen die Aussichten auf einen wirklichen Frieden zwischen Äthiopien und Eritrea immer noch nicht Erfolg versprechend – trotz wiederholter Einstellung der Kämpfe, trotz aller Vermittlungsversuche und der von der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) mühsam ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen. Auch das am 18. Juni 2000 in Algier unterzeichnete Abkommen ist keine Friedensgarantie.
Der Erfolg der äthiopischen Offensive gegen Eritrea im Mai dieses Jahres hat die militärische und humanitäre Situation am Horn von Afrika grundlegend verändert – und dabei deutlich gemacht, dass die Ziele der beiden Konfliktparteien unvereinbar sind. Zu Beginn des Krieges zählten die äthiopischen Streitkräfte ungefähr 50 000 Mann, zum Großteil aus jenen tigreischen Truppen hervorgegangen, die sieben Jahre zuvor Addis Abeba erobert hatten. Die etwa gleich starke eritreische Armee profitierte von ihrer zentralen gesellschaftlichen Rolle, die im kombinierten, 18 Monate dauernden Militär- und Zivildienst zum Ausdruck kommt. Der 1994 eingeführte Militärdienst zehrt, als eine Art „Schule der Nation“, noch vom Ethos des Guerillakrieges (1961 – 1991), und das erleichterte die eritreische Mobilisierung.
Im Mai 1998, zwei Wochen nach der Kriegserklärung durch das äthiopische Parlament, betrug das Kräfteverhältnis an der Grenze, wie der äthiopische Generalstabschef später zugab, eins zu drei zugunsten der Eritreer. Während des ersten Monats behielt Asmara bei allen Grenzkämpfen die Oberhand und eroberte die fünf „umstrittenen Gebiete“ fast vollständig. Doch nun zeigte sich, wie verschieden die Kriegsziele waren. Die siegreiche eritreische Armee baute ihren Vorteil nicht weiter aus, denn für Asmara handelte es sich um einen Grenzkonflikt. Man hatte besetzt, was man für sich beanspruchte. Also verschanzte man sich und wartete darauf, dass die Kartographen der UNO die Ansprüche auf die besetzten Gebiete bestätigen würden.1
Die Machthaber in Addis Abeba sahen dies völlig anders. Sie redeten nicht von „Grenzkonflikt“, sie führten von Anfang an „Krieg, um die eritreische Arroganz zu stoppen“. Zielstrebig wurde die Armee wieder aufgebaut. Dabei profitierte man von einem zweijährigen Quasiwaffenstillstand, der gelegentlich von kurzen, allerdings blutigen Angriffen unterbrochen wurde. Der Aufwand war gewaltig: Man reorganisierte die Armeeführung, erhöhte die Truppenstärke auf 300 000 Mann und orderte im Ausland, vor allem in Russland und in Bulgarien, modernstes Gerät wie Panzer, schwere Artilleriegeschütze, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber. Die spektakulärsten Fortschritte gab es bei der Luftwaffe, wo Äthiopien massive russische Unterstützung erhielt. Mehrere Moskauer Generäle und etwa hundert Offiziere wurden der äthiopischen Armeeführung zur Seite gestellt, die einen offiziell als Berater, die anderen als Söldner.
Der Umbau der äthiopischen Armee war sehr teuer, in zwei Jahren verschlang er fast eine Milliarde Dollar – ein Mehrfaches dessen, was die Versorgung der von einer neuen Hungersnot bedrohten Bevölkerung gekostet hätte. Auch auf der Gegenseite kaufte man eifrig Waffen ein, doch in Eritrea waren die Mittel knapper.
Die am 12. Mai 2000 von Äthiopien gestartete Offensive brachte den Durchbruch. Ihre systematische und entschlossene Durchführung demonstrierte das Wiedererstarken der äthiopischen Militärmacht und zeigte, wie weit die Führung in Addis Abeba ihre politischen Ziele gesteckt hatte.
Legitimation für die tigreische Führungsriege
IN einem zerklüfteten Gebiet, an der schlecht verteidigten Nahtstelle zwischen zwei eritreischen Frontlinien, überquerten Tausende von Männern den ausgetrockneten Fluss Mereb und kletterten nachts die steilen Hänge zum historischen Dorf Enda Aba Simeon hinauf. Einmal im Besitz der Anhöhe, ließen sie rasch neue Truppen in die Bresche nachrücken und rollten die feindlichen Linien von hinten auf. In weniger als zwei Tagen war Asmaras Niederlage an der Westfront besiegelt, und die äthiopische Armee stieß tief in die fruchtbare Ebene vor, die eine von Eritreas Kornkammern ist.
Nach einem letzten fruchtlosen Abwehrversuch vor der Provinzhauptstadt Berentu gaben die Eritreer das Tiefland komplett auf. Der überstürzte „strategischen Rückzug“ hinterließ zahlreiche Tote und Gefangene und trieb Hunderttausende von Zivilisten auf die Straßen. Die einen flohen Richtung Sudan, die anderen in hastig errichtete Auffanglager in der Region Keren nordwestlich von Asmara.
Ähnliches ereignete sich einige Tage später an der mittleren Front. Die Einnahme des Berges Aiga, der vom Osten her die ganze Region um die Grenzstadt Zalambessa beherrscht, zwang die eritreische Armee zur Aufgabe ihrer befestigten Verteidigungslinien am Fuße des Gebirges. Durch Erfahrung klug geworden, scheinen sich die eritreischen Soldaten diesmal geordnet zurückgezogen zu haben. Doch auch jetzt wieder wurden Zehntausende von Zivilisten zur Flucht Richtung Norden getrieben. Von einem „Grenzkonflikt“ konnte keine Rede mehr sein, die Eritreer hatten es mit einer regelrechten Invasion zu tun. Sie besannen sich auf die Guerillataktik: erst die Armee retten, dann Zeit gewinnen.
Aus diplomatischen Gründen hatten die äthiopischen Machthaber erst nach und nach erkennen lassen, dass sie die Absicht verfolgten, „die eritreische Armee zu zerschlagen“. Zwar wurde dieses Kriegsziel erst mit der Offensive vom 12. Mai offiziell, doch es war seit Monaten zu erkennen gewesen – insbesondere nach der Weigerung Äthiopiens im August 1999, einen Plan der OAU zu akzeptieren, der sich ausschließlich mit der Beilegung der Grenzstreitigkeiten befasste.
Wenn es in zahllosen Erklärungen hieß, man müsse die aus der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF)2 hervorgegangene Regierung von Asmara „bestrafen“, „ein für allemal züchtigen“, „die Macht der Shaabia3 kastrieren“, und wenn die äthiopische Diplomatie mit solcher Eindringlichkeit die „ständige Bedrohung“ hervorhob, die Eritrea „für alle seine Nachbarn“ darstelle, dann war das weit mehr als die übliche Kraftmeierei und Kriegsrhetorik für den internen Gebrauch, wie sie in den Zeitungen beider Hauptstädte seit zwei Jahren ausgiebig betrieben wurde.
Äthiopien will aus diesem Krieg als anerkannte regionale Macht hervorgehen. So, wie Südafrika an der Südspitze des Kontinents und Nigeria im Westen die Vormacht haben, so möchte Äthiopien, dass sein Standpunkt in Asmara und Djibuti ebenso viel Gewicht hat wie in den somalischen Kleinststaaten und im übrigen Gebiet des Horns von Afrika. Auch innenpolitische Überlegungen fanden Eingang in diese Zielsetzung.
Die politischen Grundlagen, auf die sich das 1991 an die Macht gekommene Regime stützt – starke Betonung des ethnischen Föderalismus und extreme Abschottung der von der tigreischen Volksbefreiungsfront (TPLF) monopolisierten Zentralmacht –, stößt auf starke Widerstände. Um sich als ethnische Minderheit (6 bis 7 Prozent) an der Macht zu halten, gerieren sich die Tigreer, als wären sie persönlich die Verkörperung des „imperialen“ Traums, obwohl sie in Addis Abeba beim Volk und bei den Eliten unbeliebt sind. Doch so wie im eritreischen Asmara schlagartig die Kritik an der einsamen Machtausübung durch Isayas Afeworki verstummte, als der Krieg ausbrach, so wurden in den Straßen von Addis Abeba die tigreischen Kämpfern bejubelt, in denen man am Tag zuvor noch bedrohliche Besatzer gesehen hatte.
Der tigreischen Führungsriege gehören sieben Mitglieder des Politbüros der TPLF an, alles ehemalige Guerillakämpfer. In den Jahren der „Reifung“ debattierten sie hauptsächlich darüber, wie sich die frühere tigreische Vormachtstellung aus den Zeiten des Königs Johannes IV. (1872 – 1888), wiederherstellen ließe. Lange Zeit überwog innerhalb der TPLF die Meinung, dass die Tigreer die Unabhängigkeit fordern sollten. Dieser Bestandteil ihrer Doktrin war der Anlass für den langen und bitteren Zwist, der von 1985 bis 1988 die TPLF und die eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) entzweite.
Die Eritreer wollten nämlich nicht, dass die TPLF für die Unabhängigkeit des Tigre kämpfte. Nachdem die prosowjetische Diktatur von Oberst Mengistu (1991 gestürzt) die äthiopische Revolution pervertiert hatte, war man davon überzeugt, dass ohne Machtwechsel in Addis Abeba die Unabhängigkeit Eritreas nie Wirklichkeit werden könne; andererseits konnte man aber auch nicht mit der Anerkennung durch die OAU und die UNO rechnen, wenn Äthiopien auseinanderbräche. Nach dieser Logik wäre die Unabhängigkeit Eritreas also nur zu gewährleisten, wenn Tigre auf die Unabhängigkeit verzichtet.
Dieser strategische Dissens wurde aus verständlichen taktischen Gründen nie öffentlich ausgetragen. Die unvermutete Heftigkeit des jetzt ausbrechenden Hasses rührt aus jener Zeit der unterdrückten starken Spannungen. Die Führer der beiden Formationen kannten sich zwar persönlich, einige schon seit ihrer Studienzeit an der Universität von Addis Abeba, aber sie mochten sich nie sonderlich.
Der multiethnische Nationalismus der Eritreer vertrug sich schlecht mit dem monoethnischen der Tigreer. Auf den Landkarten, die in den Schulen der tigreischen Bewegung hingen, war bereits ein „Groß-Tigre“ eingezeichnet, das wesentliche Teile Eritreas mit einschloss, und in den Lagern der EPLF wusste man das. Als die EPLF 1985 aus Opposition gegen den „engstirnigen Nationalismus“ der TPLF dessen Versorgungskonvois die Durchfahrt in den Sudan verwehrte, stand man mehrere Male kurz vor der bewaffneten Auseinandersetzung. Es war mitten in der Zeit der Hungersnot, und Hunderttausende von ausgehungerten Tigreern schleppten sich auf den Straßen dahin.
Anfang 1988 kam es zur Versöhnung. Sie war vom gemeinsamen Interesse diktiert und wurde dadurch erleichtert, dass Meles Zenawi, der bisher für die Propaganda verantwortlich war, die Leitung der TPLF übernahm; er legte die tigreischen Unabhängigkeitspläne aufs Eis und setzte sich an die Spitze einer Koalition mit anderen äthiopischen Oppositionsbewegungen – die „Revolutionäre Demokratische Front des Äthiopischen Volkes“ (EPRDF)4 –, um in Addis Abeba die Macht zu ergreifen.
Meles Zenawi war unter den ersten jungen tigreischen Rekruten gewesen, die 1975 in den Lagern der EPLF ausgebildet wurden. Seine Mutter ist Eritreerin, und er dürfte zu den tigreischen Führern gehören, die die „eritreische Besonderheit“ am besten kennen. Dennoch herrscht zwischen EPLF und TPLF Misstrauen. Der eritreischen Führung war entgangen, wie sehr sie zum Hauptfeind ihrer ehemaligen Verbündeten geworden war. Nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten brauchte sie mehrere Monate, um sich den Wandel einzugestehen. Und sich mit der wenig erfreulichen Konsequenz abzufinden, dass das äthiopische Kriegsziel nicht die Eroberung der Grenzgebiete war, sondern die Aufkündigung der seit Mai 1991 geltenden Beziehungen von Gleich zu Gleich.
Eritrea steht praktisch vor einem zweiten Unabhängigkeitskrieg. Am 31. Mai erklärte der äthiopische Ministerpräsident selbstzufrieden: „Für mich ist der Krieg beendet.“ Die Gründe für diese Genugtuung waren in einem langen Kommuniqué zu lesen, in dem der äthiopische Generalstab behauptete, 14 der 24 Divisionen der eritreischen Armee seien aufgerieben worden und acht von den zehn verbleibenden erheblich geschwächt.
Diese Zahlen entsprachen so wenig der Wirklichkeit wie die widersprüchlichen und stark übertriebenen Erfolgsmeldungen, die regelmäßig von beiden Seiten verbreitet wurden. Die eritreische Armee war zwar schwer angeschlagen, aber eindeutig nicht „aufgerieben“ worden, und sie bewies dies in den folgenden Tagen mit einer Reihe von örtlichen Gegenoffensiven, die auch gewisse Erfolge brachten. Doch im Vorfeld des provisorischen Waffenstillstands, der angesichts der erlittenen großen Verluste und der bald einsetzenden Regenzeit unabwendbar war, wollte Äthiopien vorführen, wie hoch es seine Erfolge bewertete.
Doch seine Ambitionen machen Äthiopien blind. Dass Südafrika und Nigeria in ihren jeweiligen Regionen politische Riesen sind, verdanken sie ihrer wirtschaftlichen Macht. Äthiopien hingegen ist hoffnungslos arm. Es wird nicht in alle Ewigkeit auf das Welternährungsprogramm (WFP), die US Aid und die Lebensmittelvorräte der Europäischen Union zählen können, um seine Bevölkerung zu ernähren. Und es wird unter diesen Umständen nicht gleichzeitig seine Militärmacht ausbauen können, schon gar nicht unter Berufung darauf, dass „auch die Armen das Recht haben, Krieg zu führen“, wie Ministerpräsident Meles Zenawi kurz vor der Offensive den sieben sprachlosen UNO-Botschaftern erklärte, die ihn aufsuchten, um den Krieg aufzuhalten.
dt. Josef Winiger
* Journalist