14.07.2000

Die Bombardierung der RTS-Studios

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Die Bombardierung der RTS-Studios

IN den frühen Morgenstunden des 23. April 1999 bombardierten Flugzeuge der Nato den Hauptsitz und die Studios der serbischen Radio- und Fernsehgesellschaft (Radio Televisija Sribje, RTS) im Zentrum Belgrads. Rund 120 Zivilisten arbeiteten zum Zeitpunkt des Angriffs im Gebäude.1 Mindestens 16 von ihnen wurden getötet und 16 weitere verletzt, die Nachrichtensendung wurde durch den Beschuss unterbrochen. Nach etwa drei Stunden nahm RTS das Programm wieder auf.

In einem Untersuchungsbericht des Internationalen Tribunals für Verbrechen im früheren Jugoslawien (ICTY) über die Nato-Bombardierungen heißt es: „Sollte der RTS nur aufgrund seiner Propagandafunktion angegriffen worden sein, könnte die Rechtmäßigkeit dieser Aktion von Experten des humanitären Völkerrechts angezweifelt werden. Es scheint allerdings, dass die Beeinträchtigung der Propagandatätigkeit des RTS für die Nato nur ein zweitrangiges (wenn auch komplementäres) Ergebnis ihres Hauptziels war: das Kommando- und Kontrollsystem der serbischen Armee zu neutralisieren und das Nervenzentrum des Apparates, der Milošević an der Macht hält, zu zerstören.“

In dem Bericht heißt es etwas weiter vorne (Absatz 55): „Die Medien haben zweifellos Einfluss auf die Moral der Zivilbevölkerung. Beschränkt sich dieser Einfluss darauf, sie in der Unterstützung der Kriegsbemühungen zu bestärken, stellen die Medien kein legitimes militärisches Ziel dar. Werden die Medien genutzt, um zu Verbrechen anzustacheln, wie etwa in Ruanda, können sie zu einem legitimen militärischen Ziel werden. Stellen die Medien ein Nervenzentrum dar, das einen Kriegstreiber an der Macht hält, und verlängern sie damit die Kriegstätigkeit, können sie unter die Definition eines legitimen militärischen Zieles fallen.“

Amnesty international wollte den Gründen für diesen Angriff nachgehen und hat Vertreter der Nato in Brüssel befragt. Der Organisation wurde bestätigt, dass der RTS sehr wohl aufgrund seiner Propagandafunktion angegriffen wurde. Amnesty bemühte sich um Präzisierung einer vom damaligen Nato-Generalsekretär Javier Solana im Mai 1999 erhaltenen Antwort, in der dieser behauptet hatte, die RTS-Anlagen würden „als Relaisstationen und Sender genutzt, um die Tätigkeit von Armee und Polizeisondereinheiten der Bundesrepublik Jugoslawien zu unterstützen“. In Beantwortung der Nachfrage schreibt die Nato, der Hinweis auf Relaisstationen und Sender habe sich auf andere Teile der RTS-Infrastruktur bezogen, die ebenfalls angegriffen worden seien, nicht jedoch auf die Bombardierung des RTS-Hauptsitzes.

Auch im Bericht des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums über die Luftangriffe wurde die Bombardierung der RTS-Studios damit gerechtfertigt, es handle sich um „Anlagen, die zu propagandistischen Zwecken benutzt wurden“. Relaisstationen kommen in diesem Bericht nicht vor.2 In einem Interview der BBC äußerte der britische Regierungschef Tony Blair durch die Blume, der Angriff auf den Sender sei auch deshalb erfolgt, weil die von ihm verbreiteten Videoaufnahmen von Opfern der irrtümlichen Nato-Angriffe (beispielsweise die Bombardierung des Konvois von Zivilpersonen in Djakovica) auch von westlichen Sendern übernommen wurden, was innerhalb des Bündnisses die Unterstützung für den Krieg untergraben habe. „Das ist eines der Probleme, wenn man in einer modernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft Krieg führt. Uns war klar, dass diese Bilder auftauchen und eine instinktive Sympathie für die Opfer bewirken würden.“3

Das Propagandaargument benutzte kürzlich auch General Wesley Clark, Oberkommanierender der Nato-Truppen in Europa zum Zeitpunkt der Operation Allied Force. In einer Rede vor dem Brookings-Institut am 8. Juni 2000 erklärte er: „In den heutigen Nachrichten gab es Kritik am Angriff auf die serbischen Medien. Natürlich war es ein umstrittenes Ziel. Doch der serbische Medienapparat hat den Krieg geschürt. Es war ein entscheidendes Instrument, mit dem Milošević die serbische Bevölkerung kontrollierte. Zudem trug das Fernsehen Angst, Hass und Instabilität in die benachbarten Regionen. Folglich war es ein legitimes militärisches Ziel, das Juristen mehrerer Länder ebenso wie das Internationale Strafgericht für rechtmäßig erklärt haben. Dennoch war unser Gewissen natürlich durch das Wissen entlastet, dass unsere gewählten politischen Vertreter die Verantwortung für diesen Schlag übernahmen.“

Die Störung der Regierungspropaganda kann die Moral der Bevölkerung und der Streitkräfte untergraben. Dennoch wird die Auslegung des I. Zusatzprotokolls zum Genfer Abkommen, (das nur solche Objekt als legitime militärische Ziele definiert, die „wirksam zu militärischen Handlungen beitragen“ und „einen eindeutigen militärischen Vorteil“ begründen), über die Grenze des Akzeptablen hinaus strapaziert, wenn ein Angriff auf einer solchen Grundlage gerechtfertigt wird. Die Bombardierung des Fernsehsenders zielte folglich sehr wohl auf ein ziviles Objekt. Nach den Statuten des in Rom gegründeten Internationalen Strafgerichtshofs stellt es ein Kriegsverbrechen dar, „bewusste Angriffe auf zivile Objeke zu unternehmen, die keine militärischen Ziele sind“.

Im Kommentar des Handbuchs der deutschen Bundeswehr heißt es: „Erhebt man die direkte Einwirkung auf den Kriegswillen der gegnerischen Bevölkerung zum legitimen Ziel militärischer Gewaltanwendung, so kann es im Ergebnis [...] keine Grenzen der Kriegführung mehr geben.“4 Die britische Verteidigungsdoktrin vertritt einen ähnlichen Ansatz: „Die Moral der Zivilbevölkerung des Feindes ist kein legitimes Ziel.“5

Das Gebot der Verhältnismäßigkeit

DER Angriff auf die RTS-Lokalitäten könnte sehr wohl das humanitäre Völkerrecht verletzt haben, selbst wenn man das Gebäude als militärisches Ziel betrachtet. Der Angriff könnte in der Tat das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzt haben, was nach dem I. Zusatzprotokoll einem „schweren Verstoß“ gleichkäme und als Kriegsverbrechen anzusehen wäre. Die Nato muss klar vorausgesehen haben, dass Zivilpersonen, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs im RTS-Gebäude befanden, getötet würden. Zudem war die Nato offenbar davon ausgegangen, dass der Angriff auf die Fernsehstudios die Programme nur kurzfristig unterbrechen würde.

Dazu General Wesley Clark: „Zum Zeitpunkt des Angriffs wussten wir, dass es auch andere Möglichkeiten des Empfangs des serbischen Fernsehens gibt. Es genügt nicht, auf einen Knopf zu drücken, und alles steht still. Dennoch hielten wir es für einen guten Schritt, und die politische Führung war derselben Meinung.“6 Die Nato hat, mit anderen Worten, wissentlich ein ziviles Objekt angegriffen und dabei 16 Menschen getötet, um mitten in der Nacht für rund drei Stunden die Sendungen des serbischen Fernsehens zu unterbrechen. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie dies mit dem Gebot der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein soll.

Die Nato könnte auch gegen eine weitere Forderung des I. Zusatzprotokolls verstoßen haben, die besagt, dass Angriffen „eine wirksame Warnung vorausgehen muss, es sei denn, die gegebenen Umstände haben dies nicht erlaubt“. Obwohl in der Öffentlichkeit häufig über die Möglichkeit eines Angriffs auf den RTS diskutiert wurde, waren die Erklärungen zu dieser Frage widersprüchlich. Am 8. April erklärten die Generäle Wilbey und Jean Pierre Kelche, dass der RTS sowie Spezialsender und Relaisstationen aufgrund ihrer Nutzung als „Propaganda- und Repressionsinstrumente“ legitime Ziele darstellten.7 Doch auf der Nato-Pressekonferenz des folgenden Tages erklärte Sprecher Jamie Shea: „Welche Gefühle auch immer wir gegenüber dem serbischen Fernsehen hegen, wir werden die Sender nicht direkt angreifen. In Jugoslawien sind die Relaisstationen des Militärradios oft mit den Fernsehstationen verbunden, aber wir greifen militärische Ziele an. Sollten Fernsehsender beschädigt werden, ist dies eine Nebenfolge. Eigentlich ist es nicht unsere Absicht, dies zu tun.“

Ebenfalls bekannt ist, dass Anfang April Eason Jordan, Vorsitzender von CNN International, einen Anruf eines offiziellen Nato-Vertreters erhielt. Der Mann sagte, es stehe ein Angriff auf den RTS bevor und er solle die CNN-Teams auffordern, sich vom Gebäude fern zu halten. Eason Jordan warnte davor, dass ein solcher Angriff angesichts der geringen Vorwarnmöglichkeiten unvermeidlich eine beträchtliche Zahl an Menschenleben fordern würde. Daraufhin bewirkte der Nato-Vertreter, dass der Einsatz abgeblasen wurde.

Die vor dem Angriff abgegebene Erklärung gegen die offiziellen serbischen Medien kann man nicht als wirksame Warnung an die Zivilbevölkerung betrachten. Westliche Journalisten berichteten, ihre Arbeitgeber hätten sie aufgefordert, sich vom RTS-Gebäude fern zu halten. Offenbar hatten auch einige jugoslawische Persönlichkeiten einen Angriff auf das Gebäude erwartet.8 Dennoch gab es seitens der Nato keinerlei Warnung, die einen unmittelbar bevorstehenden Angriff auf das RTS-Gebäude erwarten ließ.

In Presseberichten war zu lesen, dass die Entscheidung, RTS zu bombardieren, von der Regierung der Vereinigten Staaten gegen die Einwände anderer Nato-Länder beschlossen worden war. Dem britischen Journalisten Michael Ignatieff zufolge „waren sich in den Nato-Kommandostellen nicht alle Verbündeten einig.

Britische Juristen meinten, nach den Genfer Abkommen sei es verboten, Journalisten und Fernsehsender als Angriffsziele auszuwählen. Nach Auffassung der Vereinigten Staaten hingegen habe die Fernsehanstalt durch Sendungen, in denen Hass verbreitet würde, die rechtliche Immunität verwirkt, die ihr nach den Abkommen zustehe.“ Die Briten, so berichtet Ignatieff weiter, hätten sich wegen der vorhandenen Uneinigkeit über die Legitimität des Angriffs geweigert, die Bombardierungen der serbischen Fernsehstation mitzutragen.9 Laut Human Right Watch wurde der für den 12. April vorgesehene Angriff aufgrund der „französischen Missbilligung des Ziels“ verschoben.10

Der Fall der RTS-Bombardierung legt den Schluss nahe, dass die Nato bei Uneinigkeit über die Auswahl der Ziele die umstrittenen Objekte ohne Beteiligung des jeweiligen (den Angriff ablehnenden) Mitgliedslandes bombardiert. Dies aber entbindet die betreffenden Länder nicht von ihrer Verantwortung gegenüber dem humanitären Völkerrecht, denn sie sind Mitglieder des Bündnisses, das willentlich direkte Angriffe auf zivile Objekte durchgeführt hat.

Avner Gidron und Claudio Cordone

Fußnoten: 1 Inter Press Service (IPS), „NATO and Serbian TV Accused of Rights Crimes“, 19. bis 26. Oktober 1999. 2 US DoD, Kosovo/Operation Allied Force After Action Report, Bericht, der am 31. Juni 2000 dem Kongress vorgelegt wurde. 3 „Moral Combat – NATO at war“, BBC-Sendung vom 12. März 2000. 4 Stefan Oeter, „Kampfmittel und Kampfmethoden“, in: „Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten“, Hg. Dieter Fleck, München (Beck) 1994. 5 Zweifel über die Rechtmäßigkeit des Angriffs auf ein Ziel aufgrund seiner Propagandatätigkeit (unter direkter Bezugnahme auf die RTS-Räumlichkeiten) äußerte auch George Aldrich, Leiter der amerikanischen Delegation an der diplomatischen Konferenz, die zur Annahme des I. Zusatzprotokolls geführt hatte: „Wenn die Fernsehstudios nur deshalb angegriffen wurden, weil sie unter der Zivilbevölkerung Propaganda oder auch noch so groteske Lügen über den bewaffneten Konflikt verbreitet haben, wäre die Diskussion eröffnet, ob ein solcher Einsatz legitimerweise als Beitrag zu militärischen Handlungen betrachtet werden kann.“ Siehe „Yougoslavia Television Studios as Military Objectives“, in „International Law FORUM du droit international“, Bd. I, Nr. 3, September 1999, S. 150. 6 „Moral Combat – NATO at War“, BBC-Sendung vom 12. März 2000. 7 Nato-Pressekonferenz vom 8. April 1999. Siehe ebenfalls die Pressekonferenz des französischen Verteidigungsministers und des Generalstabschefs der französischen Armee vom 8. April 1999: „Wir haben beschlossen, Radiosender, Fernsehrelaisstationen und Fernsehsender zur Rechenschaft zu ziehen, denn es handelt sich um Propagandainstrumente des Regimes von Slobodan Milosevic, die in Richtung einer Verlängerung der Kampfhandlungen wirken.“ 8 Siehe Julian Manyon, „Death of Makeup Girl“, in The Guardian, London, 30. April 1999, und „Des Victimes du Bombardement de la Télévision serbe par l’OTAN se retournent contre Slobodan Milosevic“, in Le Monde, 1. November 1999. 9 Michael Ignatieff, „Virtual War“, Prospect, London, April 2000. Siehe auch : ders., Zivilisierung des Krieges, Hamburg (Rotbuch) 1999. 10 Human Right Watch, „Civilians Deaths in the NATO Air Campaign“, New York, Februar 2000, S. 26.

Le Monde diplomatique vom 14.07.2000, von Avner Gidron und Claudio Cordone