Ein Sarkophag für die Atomindustrie
Von YVES MARIGNAC *
IN der Nacht vom 14. zum 15. Juni unterzeichneten die deutsche Regierung und Vertreter der Industrie einen Vertrag über den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie. Doch auch vierzehn Jahre nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl haben die Menschen in Weißrussland, Russland und der Ukraine mit enormen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen zu kämpfen. Die in Aussicht gestellte Abschaltung des Reaktors Nr. 3 und das Abkommen über die Erneuerung des Betonsarkophags über dem havarierten Kraftwerk bringen zwar mehr Sicherheit; doch über die Finanzierung und die Einschätzung der Gesundheitsfolgen streiten die verschiedenen mit Tschernobyl befassten Gremien und Organisationen der UNO weiter.
„Das Wort ,Tschernobyl‘ würden wir alle gern aus unserem Gedächtnis streichen.“ Doch Kofi Annan weiß, dass dieser Traum nicht in Erfüllung gehen darf. Die internationale Gemeinschaft muss sich daran erinnern, dass auch nach 14 Jahren „die Katastrophe andauert“1 . Die Folgekosten der unmittelbar von der Katastrophe betroffenen Länder sind extrem hoch: Zwischen 1986 und 1991 stellte die UdSSR 5,7 Milliarden Dollar für die Schadensbekämpfung zur Verfügung. Die Ukraine, Weißrussland und Russland investierten 20 Milliarden Dollar. Die Folgen von Tschernobyl verschlingen über 20 Prozent des weißrussischen und bis zu 10 Prozent des ukrainischen Jahresbudgets.
In den drei Staaten leben 7 bis 9 Millionen Menschen in verstrahlten Gebieten, die etwa 155 000 km2 umfassen. Weißrussland hat etwa 70 Prozent des radioaktiven Niederschlages abbekommen. In der Ukraine wurden die Bewohner im Umkreis von 30 km um Tschernobyl evakuiert, und das Gebiet wurde zur Sperrzone erklärt, etwa 400 000 Menschen wurden umgesiedelt. 60 000 bis 80 000 Personen waren in die Aufräumarbeiten in der Unglückszone involviert.
Die Gesamtfolgekosten werden für einen Zeitraum von 30 Jahren auf mehrere hundert Milliarden Dollar geschätzt. Die drei Staaten, die alle in einer ernsten Wirtschaftskrise stecken, vermögen nicht einmal den dringlichsten Erfordernissen Rechnung zu tragen. „Von unserem Budget für das Jahr 2000 können wir 300 Millionen Dollar abzweigen, dabei wären 1,3 Milliarden Dollar erforderlich“, erklärt Wolodomir Choloscha, der stellvertretende Minister für Katastrophenschutz.
In der Gegend um Borodjanka wurden 6 000 evakuierte Personen angesiedelt. Der stellvertretende Bürgermeister der Stadt erklärt, dass 3 000 Personen (bei einer Bevölkerung von 56 000) nach dem Gesetz über die Folgen von Tschernobyl als strahlengeschädigte Invaliden eingestuft wurden; sie leiden in der Mehrzahl an Schilddrüsen- und Magenerkrankungen (Gastritis) und an Leukämie. Die ihnen laut Gesetz zustehende Nachversorgung und medizinische Behandlung ist finanziell nicht abgesichert.
In den offiziellen Erklärungen bemüht man sich um ein Gleichgewicht zwischen Sicherheitsmaßnahmen und Hilfeleistung für die Opfer. Aber die Zahlen sagen nichts aus. Der von den G7-Ländern gegründete und von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung verwaltete Chernobyl Shelter Fund hat für die Errichtung des Sarkophags über dem zerstörten Reaktor mehr als die Hälfte der für die erste Phase erforderlichen 768 Millionen Dollar aufgebracht.
Auf der Geberkonferenz am 5. Juli 2000 in Berlin wurden von den veranschlagten Geldern 90 Prozent (715 Millionen Dollar) zugesagt. Abgesehen von den Kosten für den Sarkophag haben die westlichen Länder ungefähr 2 Milliarden Dollar investiert – ohne wirklichen Erfolg.2 Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Obwohl Tschernobyl die globalen Auswirkungen eines Reaktorunfalls vor Augen geführt hat, sind der dritte Reaktor und noch weitere 13 desselben Typs in Betrieb (11 in Russland und 2 in Litauen). Die Öffentlichkeit kennt die damit verbundenen Gefahren. Und die westliche Atomindustrie, die übrigens den Löwenanteil der Hilfsgelder einstreicht, weiß, dass sie einen neuerlichen Unfall im Osten wirtschaftlich nicht überleben würde.
Anlässlich des Besuchs von Bill Clinton in Kiew am 5. Juni hat der ukrainische Präsident Leonid Kutschma versprochen, den Reaktor Nr. 3 am 15. Dezember 2000 definitiv abzuschalten.3 Zum ersten Mal hat er die Schließung nicht von der internationalen Finanzierung der Fertigstellung der beiden Kernreaktoren K2/R4 in Chmelnitzky und Rowno abhängig gemacht, die den Produktionsausfall von Tschernobyl ausgleichen sollten. Die Ukraine hatte aus mindestens zwei Gründen keine andere Wahl:
– Sicherheitserfordernisse gebieten die Schließung des Reaktors. Zu Jahresbeginn beschränkten die ukrainischen Sicherheitsbehörden seinen Betrieb auf 200 Tage und bestimmten seine Schließung für den 15. November 2000.
– Die westliche Finanzierung von K2/R4 (1,5 Milliarden Dollar) scheint nicht mehr gesichert. Vor allem Deutschland gibt sich reserviert. Die EBWE, deren Beteiligung mit einen Sonderkredit unabdingbar scheint, hält sich bedeckt und bestätigt, dass es eher „ungewiss“ sei, dass die Ukraine die für die Gewährung dieses Kredites erforderlichen Kriterien kurzfristig erfüllen werde.
Außerdem hat die ukrainische Regierung zunehmend größere Schwierigkeiten, die Notwendigkeit des Reaktors K2/R4 zu rechtfertigen: Statt der offiziellen 3 bis 5 Prozent erzeugte der Tschernobyl-Reaktor Nr. 3 1999 nur 1,7 Prozent der staatlichen Energieproduktion.4 Dieser Verlust könnte durch die Inbetriebnahme von Heizkraftwerken ausgeglichen werden. Der Energieverbrauch der Industrie ist aufgrund der Wirtschaftskrise zurückgegangen; zudem würde eine Modernisierung der Industrieanlagen den Energiebedarf wesentlich senken.
Die von der internationalen Gemeinschaft verkündeten Erfolge auf dem Gebiet der Sicherheit sollten jedoch nicht blind machen für das Versagen im humanitären Bereich. Bei diesem so sensiblen Problem sind alle Zahlen umstritten. Allerdings zeigt die Konvergenz zwischen den offiziellen Erklärungen der zuständigen Behörden und den zahlreichen Untersuchungen sowie Zeugenaussagen deutlich genug, dass die gesundheitlichen, psychologischen und sozialen Bedingungen der betroffenen Bevölkerungsteile sich signifikant verschlechtert haben. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich in der Regel auf die Sterberate, aber es ist die Erkrankungsziffer, die immer beunruhigendere Ausmaße annimmt. Nach Aussagen des Leiters des Parlamentsausschusses für Umweltfragen, Samoilenko, werden in der Ukraine jedes Jahr 10 000 neue Invaliden als Folge der Katastrophe registriert.
Im Namen der reinen Wissenschaft
DIE UNO trat erst verspätet in Aktion und beschränkte sich lange auf die Auswertung der Zahlen. In seiner ersten Adresse an die UNO über den Vorfall am 14. Mai 1986 ersuchte Michail Gorbatschow lediglich um eine Verstärkung der internationalen Kooperation im Sicherheitsbereich unter dem Patronat der Internationalen Atomenergie-Organisation, IAEO. Erst am 26. April 1990 unterbreiteten die Sowjetunion, die Ukraine und Weißrussland der UNO einen gemeinsamen Resolutionsvorschlag für eine internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Katastrophenschäden. Das gleichzeitig unterbreitete Notprogramm umfasste 131 Projekte mit einem Gesamtbudget von 646 Millionen Dollar. Diese am 21. Dezember 1990 einstimmig angenommene Resolution spricht von „einer Strahlen- und Umweltkatastrophe und einer Notsituation bisher ungekannten Ausmaßes“. Der Tschernobyl-Fonds, der die fehlenden eigenen Geldmittel ersetzen sollte, hatte ein Jahr später erst 1 Million Dollar aufgebracht, dazu kamen 8 Millionen bilateraler Hilfsgelder.
Die UNO bestätigte ihr Engagement durch sechs weitere, ebenfalls einstimmig angenommene Resolutionen, die letzte vom Dezember 1999. 1995 wurde das Büro zur Koordination humanitärer Angelegenheiten (OCHA) mit der Koordination eines neuen Hilfsprogramms in Höhe von 800 Millionen Dollar betraut. Nachdem mehrere Geldgeber-Konferenzen gescheitert waren, wurde das Programm auf 60 Projekte mit einem Gesamtwert von 80 Millionen reduziert. Heute sind es nur noch 9 Projekte, die vorrangig verfolgt werden, für die die UNO aber nicht die erforderlichen 9,5 Millionen Dollar von den Geldgebern erhalten konnte. Der Fonds hat bisher nur 400 000 Dollar plus 1,1 Millionen in Form von Zusagen aufgebracht. Von den G7-Staaten haben nur die USA einen Beitrag geleistet.
Das Tschernobyl-Programm der UNO umfasst drei Projekte pro Land, deren Dringlichkeit erwiesen ist und deren Finanzierung zum Teil durch die jeweilige Regierung erfolgt. Unter anderem geht es um die Modernisierung des Krankenhauses von Gomel in Weißrussland und um die Dekontaminierung von öffentlichen Einrichtungen wie Krippen und Schulen in dieser von den radioaktiven Niederschlägen schwer heimgesuchten Region. Andere Projekte betreffen die medizinische Nachbehandlung: medizinische Nachbetreuung des Räumungspersonals in der Ukraine, Schilddrüsendiagnostik für 500 000 russische Kinder sowie Programme zur Untersuchung der gesundheitlichen Auswirkungen auf Kinder von strahlenverseuchten Eltern.
Andere Projekte sehen die Erweiterung des Netzes von psychologischen und sozialen Rehabilitationszentren in den drei Ländern vor. Ein Dutzend dieser von der Unesco 1994 ins Leben gerufenen Zentren operiert in mehreren betroffenen Gemeinden. Oksana Garnets, die Koordinatorin des Tschernobylprogramms, unterstreicht die Notwendigkeit dieser Einrichtungen: „Die betroffenen Personen fühlen sich zu einem elenden Leben verdammt, sie leiden an einem Opferkomplex.“ Die Aufgabe der Zentren bestehe darin, „ihnen zu helfen, aus eigener Kraft ein neues Leben aufzubauen“. Der größte Teil des UNO-Hilfsprogramms wurde nicht in die Praxis umgesetzt. 1993 stellte der Generalsekretär mit Bedauern fest, dass „das Interesse der internationalen Gemeinschaft an den Folgen des Reaktorunfalls sich im Wesentlichen auf die Forschung beschränkt“5 . Diese Forschung kommt aber nicht der Bevölkerung zugute. Manchen Vertretern von Hilfsprogrammen geht es eher darum, den Ruf der Atomenergie zu verteidigen: Es soll vermieden werden, dass bestimmte Auswirkungen „ungerechtfertigterweise“ der Atomkraft zugeschrieben werden.
Ihre Aussage ist klar: Die Untersuchungen haben eine signifikante Zunahme von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen ergeben – etwa 1 800 Fälle sind eindeutig als Unfallfolge einzuschätzen. Bei anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen ist in manchen Fällen ein Zusammenhang mit der Verstrahlung nicht auszuschließen, aber auch nicht wissenschaftlich zu beweisen. Zu diesen Ergebnissen kam z. B. die Konferenz „Ein Jahrzehnt nach Tschernobyl“, die im April 1996 von der IAEO und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeinsam organisiert wurde.
Einige Beobachter haben diese Konferenz und die extrem vorsichtige Haltung der WHO heftig kritisiert. Letztere hatte 1959 einen Vertrag mit der IAEO unterzeichnet, der eine gegenseitige Absprache zur „Wahrung des vertraulichen Charakters bestimmter Dokumente“ beinhaltet, sobald eine Organisation sich in einem Bereich engagiert, der „für den Partner ein vorrangiges Interesse“ darstellt. Die IAEO hat als autonome Organisation die Aufgabe, „den Beitrag der Atomenergie für den Frieden, die Gesundheit und das Wohlbefinden auf der Welt zu vergrößern“. Michail Gorbatschow dankte in seiner Adresse an die UNO im Jahre 1986 der IAEO für ihre „objektive Haltung“ im Vergleich zur „feindseligen Einstellung“ der USA und anderer G 7- Länder.
Innerhalb der UNO mehren sich die kritischen Stimmen. Juri Subbotyn, Koordinator der WHO-Programme in der Ukraine, antwortete in Kiew auf die Frage nach den belegbaren gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Region, dass Schilddrüsenkrebs „die einzige wissenschaftlich bewiesene Folgekrankheit“ sei, fügte jedoch sogleich hinzu, dass andere Probleme auftreten können und kritisierte „die mangelnde Hilfsbereitschaft“ im Hinblick auf Programme zur Behandlung anderer Erkrankungen.
Das OCHA interessiert sich mehr für die Auswirkungen als für die Ursachen. Darum stößt sein Tschernobyl-Programm auch auf Kritik der offiziellen Experten. Ihrer Meinung nach dürfen die Hilfeleistungen für die Opfer nicht über die an sich „beschränkten Folgen“ hinwegtäuschen, die im Sinne der Wissenschaft dem Unfall zuzuschreiben sind.
Die Haltung des OCHA wird vom Wissenschaftsausschuss der UNO über die Auswirkungen von Strahlung (UNSCEAR) kritisiert. Der Ausschuss wird im November 2000 einen Bericht über die Folgen der Katastrophe veröffentlichen; wir verfügen über eine vorläufige Fassung. Der Ausschuss bestätigt darin, dass abgesehen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern „kein Beweis für eine größere Auswirkung der Strahlung infolge des Reaktorunfalls auf die öffentliche Gesundheit existiert“. Zwar bestreitet UNSCEAR nicht, dass zahlreiche Untersuchungen eine Zunahme sehr unterschiedlicher Gesundheitsbeschwerden festgestellt haben. Doch der Ausschuss bemängelt „methodologische Schwächen“, die einen Zusammenhang mit der Strahlung wissenschaftlich nur schwer begründen ließen.
In einem Brief an Kofi Annan attackierte Lars Holm, der Präsident der UNSCEAR, eine von der OCHA veröffentlichte Broschüre (mit einem Vorwort von Kofi Annan): Man solle der Mehrheit der Bevölkerung nicht einreden, dass sie gravierende Auswirkungen auf ihre Gesundheit zu befürchten habe, und die OCHA „schüre die Ängste der betroffenen Bevölkerung, statt sie zu beruhigen“.
Caroline McAskie, die stellvertretende Generalsekretärin der UNO für humanitäre Angelegenheiten und Koordinatorin des Tschernobyl-Programms, sandte trotzdem einen Brief an die japanische Regierung, die Gastgeberin des für Juli anberaumten G 7-G 8-Gipfels. Sie ersucht darin, dass „einige Prozente“ des Budgets für technische Sicherheit dem Fonds für humanitäre Hilfe zukommen sollten. Die entsprechende Bitte des OCHA auf der Berliner Sarkophag-Konferenz wurde von den Veranstaltern abgelehnt. Eine Person aus dem Umkreis des Tschernobyl-Programms sieht darin „die Macht der Atomlobby“ am Werk, die „im Namen der reinen Wissenschaft“ die Folgen der Katastrophe zu vertuschen sucht.
dt. Andrea Marenzeller
* Stellvertretender Direktor des WISE (World Information Service on Energy), Paris.