14.07.2000

Tretet ein in Ruhe und Frieden

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Tretet ein in Ruhe und Frieden

Von HANA JABER und MOUNZER JABER *

IN den frühen Morgenstunden des 25. Mai stauen sich auf der Straße der Heimkehr die Autos. Lückenlos reicht die Schlange von den südlichen Vororten Beiruts bis zu den befreiten Ortschaften an der Grenze zu Israel. Über einem sanft gewellten Hügelland steigt die Sonne auf. Die Schlange windet sich durch Ortschaften, die aus einem langen, schweren Schlaf zu erwachen scheinen. Die Alten, die aus den geöffneten Autofenstern schauen, nennen die Namen der Ortschaften, die sie erkennen; und die Jungen beginnen, die Namen, die ihnen bislang nur durch Gespräche vertraut waren, mit Dörfern zu verbinden. Mit den Rückkehrern freuen sich die Soldaten der UN-Friedenstruppe Unifil (United Nations Interim Forces in Lebanon), die seit 1978 nördlich der nun befreiten Zone stationiert sind. Sie stehen vor ihren Schilderhäuschen und grüßen die Vorbeifahrenden mit einem freundlichen Lächeln und augenzwinkerndem Einverständnis.

Das Ziel ist nahe, wenn auch noch nicht ganz erreicht, aber schon jetzt ist klar: Die Dörfer, die am Ende dieser schmalen, reparaturbedürftigen Straße des Südlibanon liegen, sind wie Früchte, die am äußersten Ende eines Astes hängen. Nun gibt es keine Straßensperren mehr an den Grenzposten der Zufahrtswege zu den nunmehr befreiten Gebieten. Von den Gebäuden, in denen sich die „zivile Verwaltung“ der Besatzer befand, sind nach der Sprengung durch die Hisbollahmiliz nur noch Steinhaufen übrig geblieben. Die Autos werden nicht mehr angehalten, man muss die zweihundert Meter bis zur Sperre nicht mehr zu Fuß zurücklegen; niemand muss mehr ein Verhör oder eine Durchsuchung über sich ergehen lassen, um anschließend in ein anderes Auto umzusteigen, das ein von der Besatzungsbehörde zugelassenes Nummernschild trägt. Am Eingang von Beit-Yahoun kann man sogar auf einem riesigen Schild folgende – von der Islamischen Widerstandsbewegung verkündete – Botschaft lesen: „Tretet ein in Ruhe und Frieden“. Dieses Koranzitat, das sich auf den Eingang zum Paradies bezieht, weckt seiner gelassenen Botschaft zum Trotz die Erinnerung an die vielen Toten, an die Massaker und Ungerechtigkeiten, von denen die Menschen spontan und unaufgefordert zu erzählen beginnen.

Bei aller freudigen Ungeduld über die bevorstehende Heimkehr fragen sich die Menschen, wie sie unter all den ländlichen Straßen die richtige Route finden sollen, die sie in ihr Heimatdorf zurückbringt. 22 Jahre lang haben sie hinter dieser Sperre gewartet, um endlich auf dem vertrauten Weg heimkehren zu können, und nun, da das Warten ein Ende hat, befürchten sie, sie könnten den Weg vergessen haben. Ihre Ungeduld , das heimatliche Dorf und ihr Haus wieder zu sehen, ist so groß, dass sie kaum einen Blick für all die „Fremden“ haben, die gekommen sind, um die symbolträchtigen Orte des Widerstands und der Besatzung aufzusuchen. Das Gefängnis von Chiam besuchen vor allem ehemalige Gefangene, die jetzt andere Besucher bis in kleinste über diesen Ort informieren. Dasselbe gilt für das berühmt-berüchtigte Gebäude der „Sicherheit 17“ in Bint-Dschbeil1 , wo besonders brutale Verhöre vorgenommen wurden.

Die Erinnerung an die Straßen in den Ortschaften ist noch ganz klar, die Erinnerungen an die Menschen verschwimmen. Aber sobald die Menschen ihr heimatliches Viertel betreten, werden die Gesichter doch vertrauter und die Blicke forschender. Diese leibhaftigen Heimkehrer werden mit Freudentränen empfangen und mit den schrillen Schreien der Frauen, die bei manchen arabischen Zeremonien üblich sind. Die zerfurchten Gesichter der Heimkehrer, die grauen Schläfen einstiger Schulkameraden, die Tatsache, dass altvertraute Nachbarn längst auf dem Friedhof ruhen – all das lässt ermessen, wie tief der Riss ist, den 22 Jahre israelischer Besatzung dem Leben dieser Menschen zugefügt haben.

Die Befreiung des Südlibanon verlief unbestreitbar in friedlichen Bahnen, ohne Blutvergießen und ohne Revancheakte zwischen den verschiedenen Konfessionsgemeinschaften, wie sie die düsteren Spekulationen für die Zeit nach dem israelischen Rückzug vorausgesagt hatten. Zwar wurde das Haus von General Lahad, dem Chef der mit Israel verbündeten Milizen der Südlibanesischen Armee (SLA), niedergebrannt. Aber wenn man die Dauer der Besatzungszeit und den blutigen Hass bedenkt, der zwischen den Bewohnern mancher Dörfer herrschte,2 die ebenso blutigen Konflikte zwischen den politischen Parteien oder die brutalen Methoden der Milizen unter der Besatzung, dann blieb das Ausmaß der Ausschreitungen fast grotesk bescheiden.

Die Angst vor dem Feind ist gewichen, doch nun macht sich die Angst breit, von den eigenen Leuten gelyncht zu werden. Das gilt vor allem für die christlichen Dörfer, die man beschuldigt, mit den Besatzern kollaboriert zu haben. Trotz ständiger Besuche von Vermittlungsdelegationen der Hisbollah, die sich mit christlichen Würdenträgern und Vorstehern verschiedener Pfarreien zusammensetzten, und trotz der Appelle des libanesischen Präsidenten Emile Lahoud, der seine Landsleute wiederholt dazu aufrief, „innerhalb der Grenzen des libanesischen Gesetzes zu bleiben“, herrscht nach wie vor tiefes Misstrauen. Manche christlichen Dörfer sind praktisch leer: aus Rmeich z. B. sind 1 700 Menschen (Männer, Frauen, Kinder) nach Israel geflüchtet, in Dibl sind nicht viel mehr als 10 Bewohner zurückgebleiben, in Qlei a leben nur noch Alte und ein paar Kinder. Im Ganzen leben heute 7 000 libanesische Kollaborateure und ihre Familienangehörigen – überwiegend Christen – in Israel.

Kollaborateure fühlen sich als Opfer

DIE Besetzung des Libanon durch Israel, die offiziell am 14. Juni 1978 begann, steht im Kontext des mörderischen Bürgerkrieges, bei dem sich muslimische und christliche Dörfer an der Grenze zu Israel unerbittliche Kämpfe lieferten. Die besetzte Zone wurde nach der Libanon-Invasion von 1982 und nach den in mehreren Etappen erfolgten Rückzügen der Israelis noch ausgeweitet. Dieser Rückzug endete mit dem 10. Juni 1985. Seitdem hat das besetzte Gebiet die Funktion einer „Sicherheitszone“, die den Norden Israels schützen sollte. In diesem Gebiet von 1 200 Quadratkilometern (gegenüber 800 im Jahre 1978) lebten anfänglich etwa 600 000 Personen, doch in der Folge ging die Bevölkerungszahl unaufhörlich zurück, auf 65 000 bis 70 000 kurz vor der Befreiung.

Zu Beginn der Besatzung wurde Major Saad Haddad von Israel aufgefordert, eine Armee aufzubauen, die mit Israel verbündet sein sollte.3 So wurde am 17. Mai 1978 die Armee des Freien Libanon gegründet, die 1980 in Südlibanesische Armee (SLA) umbenannt wurde, als General Lahad die Führung übernahm. Diese bewaffnete Truppe bestand zwar zunächst vorwiegend aus maronitischen Christen, aber im Lauf der Zeit gelang es der israelischen Politik, die bestehenden Rivalitäten zwischen den Dörfern und Konflikte zwischen den Familienclans innerhalb der Ortschaften auszunutzen und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. Dadurch hat sich, vor allem in den achtziger Jahren, die Zusammensetzung der 3 000 Mann starken Armee den Bevölkerungsgruppen entsprechend austariert. Es entstand auch eine muslimische Miliz, die ihre Aufträge mit so durchschlagendem Erfolg durchführte, dass die Beteiligung der christlichen Milizen in vielen Fällen überflüssig wurde.

Parallel zu dem Prozess, in dessen Verlauf die „Armee des Südens“ immer stärker die soziale und religiöse Struktur der Region widerspiegelte, verfolgte Israel das Ziel, seine bewaffneten Kräfte in einem Umfeld von Kollaboration und Arbeitslosigkeit dauerhaft an sich zu binden. Diesem Ziel dienten persönliche Vergünstigungen, die u. a. den Angehörigen jedes Milizionärs das Recht auf Arbeit in Israel gewährte. Außerdem garantierte man den Milizionären die Beschäftigung in israelischen Institutionen innerhalb und außerhalb des libanesischen Territoriums. Schon zwei Jahre vor der Besatzung, seit dem 1. August 1976 wurde erstmals Arbeit in Israel angeboten, und zwar seitens der Tabakregie in Safed. Doch erst als der libanesische Staat 1987 damit aufhörte, die Ernten der Tabakanbauer aufzukaufen, gewann die Praxis der Beschäftigung und der systematischen Bevorzugung der Milizionäre an Bedeutung. In jenem Jahr stieg die Anzahl libanesischer Arbeiter in Israel auf 1 535 Personen, 1989 waren es bereits 2 300. 1996 arbeiteten 4 000 Personen in Israel.4

Von daher ist es verständlich, dass sich die Bewohner des Grenzstreifens – auch wenn sie freiwillig kollaborierten und in vielen Fällen reichlich dafür belohnt wurden – doch als Opfer fühlten und wohl noch heute fühlen. Und zwar als Opfer eines erbarmungslosen und immer dichter werdenden Kontrollsystems, das zwangsläufig zur Kollaboration führen musste. Den überstürzten Rückzug der israelischen Streitkräfte, der die vorab kaum informierte SLA in größter Verwirrung zurückließ, kommentierte Antoine Lahad mit der bissigen Feststellung, damit seien 24 Jahre Kollaboration in 24 Stunden zunichte gemacht worden. So überlässt also Israel die Bewohner des Grenzgebietes und die Rekrutierungsbasis der Armee einem traurigen Schicksal.

Dieses Schicksal versetzt vor allem die Bewohner der christlichen Dörfer in Unruhe. Im Namen dieser Menschen haben zwar die Vertreter des Klerus – von den einfachen Geistlichen bis zu den höchsten Würdenträgern – die Regierung aufgefordert, unverzüglich staatliche Truppen zu schicken5 – wenn schon nicht die Soldaten der Armee, so doch wenigstens die libanesische Gendarmerie und die für die innere Sicherheit zuständigen Polizeikräfte. Aber bislang ist eine spürbare Reaktion ausgeblieben. Beunruhigend ist auch die Tatsache, dass die Hisbollah und die Familien der Opfer die Strafen, die bisher von der libanesischen Justiz für Kollaborationsvergehen verhängt wurden, wegen ihrer Milde angegriffen haben, was zu vereinzelten Akten von Lynchjustiz geführt hat.

Die Hisbollahmilizen, denen die Zentralregierung die Rückkehr der besetzten Gebiete „in den Schoß der Legalität“ verdankt, stehen nun de facto vor der Aufgabe, das Sicherheitsvakuum zu füllen, um das sich die staatlichen Sicherheitskräfte bislang nicht gekümmert haben, obwohl seit dem Rückzug der Israelis schon mehrere Wochen verstrichen sind. Doch auf der von der Hisbollah organisierten Kundgebung in Bint-Dschbeil, an der 100 000 Personen – darunter der iranische Außenminister – teilnahmen, machte der Generalsekretär der Hisbollah, Scheich Hassan Nasrallah, unmissverständlich klar, dass er und seine Leute diese Aufgabe nicht übernehmen würden. Die gleiche Position vertritt sein Vertreter Scheich Naim El Kassem, der uns in einem Gespräch erklärte, die Hisbollah habe nicht die Funktion der Sicherheitskräfte und könne bei inneren Konflikten keinen Druck ausüben. Dabei wisse er sehr wohl, dass seine Organisation in diesem Bereich sehr wesentlich zur Deeskalation beigetragen habe.

Trotz ihres triumphalen Einzugs und ihrer unbestreitbar bedeutsamen Rolle vermag die Hisbollah nicht die Gesamtheit des befreiten Gebietes zu kontrollieren. Zwar sind alle politischen Gruppierungen, die im Widerstand eine Rolle gespielt haben (libanesische Linke, Amal, Hisbollah) bestrebt, eine Eskalation der Lage zu verhindern. Sie schließen sich damit der offiziellen libanesischen und syrischen Linie an, die Situation zunächst zu beruhigen, um die Auswirkungen des israelischen Rückzugs aufzufangen. Tatsache ist aber auch, dass es schon in den ersten Tagen des Rückzugs zu Meinungsverschiedenheiten kam. Der einsetzende Wettlauf um politischen Einfluss war an der Flut von Plakaten abzulesen, die einen Vorgeschmack der künftigen Stimmung boten. In Bint-Dschbeil, wo am 27. Mai die Generalversammlung der Hisbollah stattgefunden hatte, ließ Parlamentspräsident Nabih Berri am 31. Mai eine in jeder Hinsicht außerordentliche parlamentarische Sitzung abhalten.

Damit wurden sehr schnell die Konturen der verschiedenen konfessionell geprägten Gemeinschaften sichtbar, wobei jede Bevölkerungsgruppe auf „ihre Widerstandsbewegung“ verweist: Die Drusen der Region Hasbayya auf ihre sozialistisch-progressive Partei, die Muslime der Region Arkoub auf ihre Vereinigung für islamische Projekte, die Christen auf die syrisch-nationalistische Partei, die Schiiten auf die Amal und die Hisbollah, wobei Letztere im gesamten Gebiet der befreiten Zone natürlich besonders stark vertreten ist. Die Hisbollah ist zwar unbestreitbar zur ersten schiitischen Partei des Landes geworden, doch es ist ihr nicht gelungen, sich zu einer umfassenden föderativen Rahmenstruktur für den gesamten Widerstand im Süden des Landes zu entwickeln.

Seit dem Ende der Achtzigerjahre ist die Widerstandsbewegung eindeutig islamisch geprägt und wird von der Hisbollah geführt. Sie hat immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ihr Hauptziel die Befreiung des südlichen Libanon ist. Doch mit der Perspektive der Befreiung und dem tatsächlichen Abzug Israels, ist die Hisbollah seltsam stumm geworden. Sie äußert sich nicht zu der kommenden Etappe und besteht unnachgiebig auf der Position, ihre weitere Strategien vom Verlauf der Grenzen zu Israel, Palästina und dem Golan abhängig zu machen. Damit wird deutlich, dass Fortsetzung oder Aufgabe der militärischen Operationen eng mit den syrischen und iranischen Orientierungen, sowie mit dem Fortgang der Verhandlungen zwischen Syrien und Israel zusammenhängen. Derzeit ruht sich die Hisbollah, die im Parlament über 8 der insgesamt 33 schiitischen Sitze verfügt, auf den Lorbeeren „ihres“ Sieges aus und lässt sich nicht einmal durch die herannahenden Parlamentswahlen aus der Reserve locken.

dt. Dorothea Schlink-Zykan

* Hana Jaber ist Forscherin am Institut für Mittel-Ost-Studien Cermoc (Amman), Mounzer Jaber lehrt als Historiker an der libanesischen Universität Zahlé und ist Autor des Buches „Die besetzte Zone des Libanon“ (in arabischer Sprache).

Fußnoten: 1 Ursprünglich war die „17“ die Bezeichnung einer Gruppe der palästinensischen Fatah, die für ihre schonungslosen Methoden bekannt war. 2 Der erste Konflikt entstand im Oktober 1976 zwischen dem schiitischen Dorf Hanine und den christlichen Dörfern Dibl und Rmeich. 3 Saad Haddad führte die Armee des Freien Libanon von 1978 bis 1984. 4 Die Gehälter der Beschäftigten in den israelischen Institutionen beliefen sich auf 21 Millionen Dollar im Jahr, einem Viertel der gesamten Einkünfte in der besetzten Zone. Mit den Gehältern der Milizionäre kommt man sogar auf die Hälfte der gesamten Einkünfte. 5 So fordert der Erzbischof der griechisch-orthodoxen Christen in Marjayoun die Präsenz des Staates mit all seinen Symbolen, und der Erzbischof der griechisch-katholischen Christen beklagt sich über die geistige Härte mancher Leute, die nicht zwischen Kollaboration und Bedürftigkeit zu unterscheiden vermögen. Siehe Al Nahar, 25. Mai 2000

Le Monde diplomatique vom 14.07.2000, von HANA JABER und MOUNZER JABER