14.07.2000

Der Aufstieg des „Doktor Baschar“

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Der Aufstieg des „Doktor Baschar“

Von ALAIN GRESH

VOR wenigen Wochen noch war „Doktor Baschar“ Präsident der Gesellschaft für Informationswissenschaft und bekleidete den Rang eines Obersten. Heute ist er General, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Generalsekretär der Baath-Partei und seit dem 10. Juli auch neuer Staatspräsident. Der ganze Prozess lief so reibungslos ab, als sei er noch vom Vater des „Doktors“ selbst gesteuert worden, also von Präsident Hafis al-Assad, der dreißig Jahre lang die uneingeschränkte Regierungsgewalt in Syrien ausübte.

In gewisser Weise trifft das auch zu. Hafis al-Assad hat den Schock der Ereignisse vom Februar 1984 nie ganz verwunden. Damals war das Regime verwundbar und erholte sich nur mühsam von den Jahren des Aufstands der Muslimbrüder (1979 – 1982), den es mit äußerster Härte niedergeschlagen hatte. Und dann verschwand der Präsident für Wochen von der politischen Bühne. Es kursierten sogar Gerüchte, er sei tot. Als es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Verteidigungsbrigaden unter Führung von Rifaat al-Assad, dem Bruder des Präsidenten, und Teilen der Armee kam, sah es so aus, als verliere die alawitische Minderheit, die alle wichtigen Posten im Machtgefüge besetzt hielt, den inneren Zusammenhalt. Es drohte ein Bürgerkrieg.

Als der Präsident die Amtsgeschäfte wieder aufnahm, zog er die Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft und schickte seinen Bruder ins Exil. Es folgte der Beschluss, seinen ältesten Sohn Bassel zum Nachfolger aufzubauen. Nach seiner Vorstellung konnte allein ein Mitglied der Familie Assad die Grabenkämpfe innerhalb der alawitischen Gemeinschaft verhindern und den Fortbestand des Regimes sichern. Bassels Aufstieg in der Hierarchie der Macht fand ein jähes Ende, als der charismatische Mann am 21. Januar 1994 mit seinem Sportwagen tödlich verunglückte.

Damit war die Nachfolgefrage wieder offen. Bereits im Februar 1994 sprach General Bahjat Soleiman, ein früherer Offizier der Verteidigungsbrigaden von Rifaat al-Assad, der sich auf die Seite des Präsidenten geschlagen hatte, von der „nationalen Berufung“ Baschars, des zweiten Sohns des Präsidenten. Der junge „Doktor Baschar“ wurde aus London zurückgerufen, wo er seine Ausbildung zum Augenarzt absolvierte, und machte sich trotz anfänglicher Bedenken geduldig daran, seine Autorität zu festigen. Sein langer Aufenthalt im Ausland – eine Ausnahme in den Führungszirkeln des Regimes – und seine kühle und bedächtige Art, in der er eher seinem Vater als seinem Bruder Bassel ähnelte, haben sich in den sechs Jahren seit seiner Rückkehr nach Damaskus als äußerst hilfreich erwiesen. Er machte sich mit einer Reihe von politischen Problembereichen im Bereich der internationalen Beziehungen und der Innenpolitik vertraut. Wer auch nur den geringsten Widerstand gegen seinen geplanten Aufstieg erkennen ließ, wurde schrittweise kaltgestellt. Zugleich umgab er sich mit einer Prätorianergarde, die auf die Treue zu seinem Vater, auf die alawitische Solidarität und auf die rückhaltlose Unterstützung seiner Ziele eingeschworen war.

Die ersten Sporen verdiente sich Baschar im Libanon, wo Syrien seit Jahrzehnten Tausende von Soldaten stationiert hat, während der Süden des Landes zur Konfliktzone mit Israel wurde. Seit Frühjahr 1995 war er mit den libanesischen Angelegenheiten befasst, wobei er es verstand, den eigentlich zuständigen syrischen Vizepräsidenten Abdel Halim Chaddam nach und nach auszumanövrieren. Baschar machte klar, dass es für die zahllosen Bitten um Schlichtung und Vermittlung nur einen Adresssaten geben konnte – seine eigene Person. Die Wahl von General Emile Lahoud zum libanesischen Staatspräsidenten im Oktober 1998 und der darauffolgende Sturz von Ministerpräsident Rafik Hariri, ließen bereits die Handschrift von „Doktor Baschar“ erkennen.

Maßregelung der alten Garde

DEN ersten offiziellen Besuch in der Region absolvierte er im Februar 1999 in Jordanien, im Laufe des Sommers fuhr er nach Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain und Oman. Im Oktober traf er mit dem iranischen Staatspräsidenten Mohamed Chatami zusammen, als dieser Damaskus besuchte. Bei dieser Gelegenheit wurde auch ein Besuch im Iran vereinbart, das Syrien als seinen wichtigsten Verbündeten sieht. Am 7. November 1999 schließlich empfing Baschar die internationalen Weihen. Bei seiner ersten „offiziellen“ Reise in ein Land außerhalb der arabischen Welt wurde er von Staatspräsident Chirac, der enge Kontakte zum israelischen Regierungschef Barak pflegt, im ÉlyséePalast empfangen. Einige Wochen später wurden nach einer Pause von mehr als vier Jahren die israelisch-syrischen Verhandlungen wieder aufgenommen.

Aber die Frage, wie es „Doktor Baschar“ gelingt, seine künftige Stellung zu sichern, wird nicht in der diplomatischen und geopolitischen Arena entschieden, die seinem Vater so viel bedeutet hatte. Die Armee und die Geheimdienste stellen in Damaskus das eigentliche Machtzentrum dar. Baschar hat einen Schnellkurs an der Militärakademie des Generalstabs absolviert und bereits Anfang 1999 den Rang eines Obersten erlangt. Dabei knüpfte er seine ersten Kontakte zu den jungen Offizieren, die zusammen mit den ihn unterstützenden Technokraten als die „Baschar-Generation“ gelten.1 Es geht ihm dabei vor allem darum, die verschiedenen Machtzentren zu neutralisieren, die seiner Ernennung skeptisch gegenüberstehen.

In einem Interview mit der Wochenzeitung El Wassat2 hat Baschar al-Assad im August 1999 ein Porträt jener „alten Garde“ gezeichnet, gegen die er antreten will: „Es sind Personen aus einer bestimmten Generation, die zu Reichtum und Macht gekommen sind und darüber eifersüchtig wachen – niemand soll ihnen das streitig machen.“ Er will jedoch kein pauschales Urteil fällen: Auch unter den Älteren gebe es einige, die „Großes für das Gemeinwohl geleistet haben und diese Errungenschaften verteidigen“, vor ihnen habe er Respekt. Das lässt bereits ahnen, was auf die Paladine des Regimes zukommt, die sich gegen die dynastische Erbfolge sperren: erzwungene Abdankung und Anklage wegen Korruption.

„Doktor Baschar“ begann seine Säuberungsaktion damit, die Machtüberbleibsel seines Onkels zu beseitigen. Im Herbst 1996 maßregelte er, damals noch ohne jede offizielle Position, unter dem Beifall der alawitischen Bevölkerung seine Cousins, die Söhne seiner Onkel Rifaat und Dschamil, die in der Hafenstadt Latakia und im alawitischen Hinterland mit verschiedene Eskapaden für Aufsehen gesorgt hatten.

Im Februar 1998 wurde Rifaat al-Assad seines Amtes als Vizepräsident der Republik enthoben, aus der Baath-Partei ausgeschlossen und endgültig ins Exil verbannt. Rifaat gab nicht gleich auf: Im Juli 1999 zeigte er sich beim Begräbnis von König Hassan II. in Marokko, einige Tage darauf machte sein Sohn Somar, der den Satelliten-Fernsehsender Arab News Network (ANN) leitet, einen Besuch bei Palästinenserpräsident Arafat in Gaza. Das löste aber nur die Schlussoffensive aus: Im Oktober 1999 besetzten syrische Truppen mit Panzern und Hubschraubern eine „illegale Hafenanlage“ in der Nähe von Latakia, die von Gefolgsleuten Rifaats betrieben worden war.

Die größte potenzielle Gefahr dürfte allerdings kaum von einem Onkel ausgehen, der seit langem im Exil lebt. Noch heute wird gerätselt, was in den drei Wochen nach dem 31. Dezember 1996 geschah, als mitten in Damaskus bei der Explosion einer Bombe in einem Autobus 15 Menschen starben, während sich Präsident Assad von einem chirurgischen Eingriff erholen musste. Man wird es vermutlich nie erfahren. Offiziell wurde die Türkei beschuldigt, hinter dem Anschlag zu stecken, aber damals war auch die Einschätzung zu hören, „gewisse Kreise“ hätten damit Baschar al-Assad treffen wollen. Jedenfalls ging „Doktor Baschar“ aus der Krise gestärkt hervor, und mit der festen Überzeugung, dass er unbedingt die „Dienste“ unter Kontrolle bekommen müsse und vor allem den mächtigsten Apparat, den militärischen Geheimdienst unter der Führung von General Ali Duba.

Im Herbst 1998 brachte Baschar seinen Vater dazu, Abdullah Öcalan auszuweisen. Entgegen allen Dementis aus Damaskus hatte der Führer der kurdischen Arbeiterpartei PKK sich viele Jahre lang in Syrien aufgehalten. Mit der Ausweisung sollte nicht nur ein Krieg zwischen Syrien und der Türkei vermieden werden; der designierte Nachfolger des Präsidenten konnte damit zugleich einen Schlag gegen Öcalans Gönner Ali Duba landen. Im Februar 2000 wurde der Geheimdienstchef zum Rücktritt gezwungen, sein Amt übernahm General Hassan Chalil, der als zweitrangige Figur gilt. Der neue starke Mann in Bereich der militärischen Sicherheit ist mit Assef Schaukat ein Gefolgsmann von Baschar. Der alawitische General war einst von Bassel aus dem Präsidentenpalast verdrängt worden. Als der geschiedene Mann dann die Präsidententochter Buschra umwarb, fand er in Baschar einen Fürsprecher. Indem er erreichte, dass Schaukat „verziehen“ und die Heirat mit Buschra gestattet wurde, hatte Baschar einen mächtigen Verbündeten im Herzen des Systems gewonnen.

Auch andere lästige Figuren mussten abdanken. Im Sommer 1998 wurde der sunnitische Chef des Generalstabs, General Hikmat Schehabi, durch seinen alawitischen Stellvertreter Ali Aslan ersetzt. Im Juni 1999 musste der Generalstabschef der Luftwaffe, General Mohamed Chuli, das Feld räumen, ebenso erging es zahlreichen anderen Offizieren. Dennoch ist es einigen Vertretern der „alten Garde“ gelungen, über das Pensionsalter hinaus im Amt zu bleiben, darunter General Ali Aslan und Verteidigungsminister Mustafa Tlass. Als das entscheidende Kriterium erweist sich eben nicht das Alter, sondern die Loyalität.

„Doktor Baschar“ versteht es, seinen Ruf als Modernisierer zu pflegen, indem er die Informatik fördert und sich für das Internet interessiert. Auch kann er sein jugendliches Alter ausspielen – ein Trumpf in einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung noch jünger sind als er. Und er schickt sich an, bestimmte Privilegien abzubauen und Formen der Korruption zu bekämpfen. Im September 1998 sind zur allgemeinen Verblüffung die Bulldozer angerückt, um die illegal errichteten Villen einiger alawitischer Notabeln abzureißen. Ein paar Wochen später wurde General Baschir El Nadschar, der Leiter der Staatssicherheit, verhaftet und später zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Bildung einer neuen, verjüngten Regierung unter Mustafa Miro im Frühjahr 2000 signalisiert einen beschleunigten Kampf gegen die Korruption. Der vorherige Ministerpräsident Mahmut Zubi, der 13 Jahre amtiert hatte, wird am 10. Mai 2000 aus der Partei ausgeschlossen und begeht am 21. Mai Selbstmord. In den Tagen unmittelbar vor Bekanntgabe des Todes von Präsident Assad gerät einer der Symbolfiguren des Regimes ins Fadenkreuz der Beschuldigungen: General Hikmat Schehabi, seit 24 Jahren Generalstabschef der Armee. Aus „gut informierten Quellen“ in Damaskus verlautet, er werde der Korruption beschuldigt und man werfe ihm insbesondere vor, Mahmut Zubi gedeckt zu haben.3

General Schehabi bricht einen Krankenhausaufenthalt in Beirut ab und reist überstürzt in die USA. In der Presse heißt es, er sei bei seiner Abreise vom ehemaligen libanesischen Premier Rafik Hariri und vom syrischen Vizepräsidenten Chaddam verabschiedet worden. Am 8. Juni 2000 heißt es in einem Bericht der Tageszeitung Al Hayat aus Damaskus, dass „die Gesetze für alle gelten“. Aus der Umgebung des „Doktors“ verlautet zusätzlich, in Fragen der Korruption gebe es „keine Unterschiede“ und die korrupten Elemente würden „sich an ihre Posten klammern“. Wen sollten diese gezielten Indiskretionen treffen? Rafik Hariri? Vielleicht sogar Abdel Halimi Chaddam?

Man wird es nie erfahren. Zwei Tage später meldet das staatliche Fernsehen das Ableben des Präsidenten Hafis al-Assad. Abdel Halimi Chaddam, der als erster Stellvertreter des Präsidenten im Prinzip die Amtsgewalt übernimmt, beeilt sich, die Dekrete zu unterzeichnen, die eine Verfassungsänderung vorbereiten (Senkung des Mindestalters für die Präsidentschaft auf 34 Jahre) und den „Doktor Baschar“ zum General und Oberbefehlshaber der Streitkräfte machen. Längst verfügt Baschar, und er allein, über die tatsächliche Macht. Er ist es, der die Begräbnisfeierlichkeiten inszeniert und dazu benutzt, sich von allen Autoritäten huldigen zu lassen. Er beteiligt sich aktiv an der Vorbereitung des Kongresses der Baath-Partei, der plangemäß vom 17. bis 21. Juni stattfindet. Und nach seiner Wahl zum Generalsekretär lässt er mehr als die Hälfte der 21 Mitglieder der „regionalen Führung“ auswechseln. Unter den neuen Mitgliedern sind eine Reihe seiner Vertrauten, insbesondere Ministerpräsident Mustafa Miro, Außenminister Faruk El Schareh und der aus Aleppo stammende Internetexperte Ghiyat Barakat. Auch das Zentralkomitee wird grundlegend umgebildet: Mehr als zwei Drittel der Delegierten werden neu berufen – nun gehören dem 90-köpfigen Gremium unter anderem sechzehn Frauen an, zuvor waren es nur drei gewesen. General Schehabi scheidet aus der „regionalen Führung“ aus, die Generäle Duba und Chuli aus dem Zentralkomitee.

Die Rolle der Militärs in der Partei ist allerdings gestärkt, sie stellen fast ein Drittel der 950 Delegierten in der Vollversammlung. Zwar sind nur noch drei statt vier Mitglieder der Streitkräfte in der „regionalen Führung“ vertreten, aber im Zentralkomitee hat sich ihr Anteil von zehn auf sechzehn erhöht. Hier sitzen unter anderem die Chefs der vier wichtigsten Geheimdienste sowie Generalstabschef Ali Aslan und seine Stellvertreter und der Kommandant der syrischen Truppen im Libanon, General Ibrahim al-Safi. Überdies gehören dem Komitee Maher al-Assad, der jüngere Bruder des künftigen Präsidenten, und Manaf Tlass, der Sohn des Verteidigungsministers an, beide Offiziere der Republikanischen Garde.

Hat „Doktor Baschar“ damit seine Machtbasis gesichert? Einstweilen hat er nur für den Zusammenhalt der alawitischen Gemeinschaft gesorgt, aber die Alawiten machen lediglich zehn Prozent der syrischen Bevölkerung aus, während zwei Drittel Sunniten sind. Deshalb ist Baschar al-Assad auch fest entschlossen, das Bündnis des Regimes mit der sunnitischen Bourgeoisie fortzuführen. Doch die Aufgaben, die auf ihn zukommen, sind nicht zu unterschätzen. Da ist vor allem die Frage des Friedens mit Israel. Baschar hat zwar versichert, er wolle den eingeschlagenen Weg weiter gehen, doch zugleich hat er die von seinem Vater formulierte Vorbedingung bekräftigt: Israel soll sich auf die Waffenstillstandslinien vom 4. Juni 1967 zurückziehen. Die entscheidende Herausforderung für Baschar al-Assad ist jedoch die tiefe wirtschaftliche und soziale Krise, von der ganz Syrien erfasst ist. Bei den Begräbnisfeierlichkeiten hat sich gezeigt, dass Baschar ein Hoffnungsträger für die Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen ist – die von einem besseren Leben, mehr Freiheiten und mehr Wohlstand träumt.

Die massive staatliche Propaganda war über viele Jahre hinweg auf eine oft unzeitgemäße Ikonographie festgeleg, in der Hafis al-Assad als der Führer, Bassel als das Vorbild und Baschar als die Zukunft erschien. Diese Dreifaltigkeit war eine Anspielung auf die drei heiligen Gestalten der Alawiten: Mohammed, der Prophet des Islam, sein Schwiegersohn Ali, der Märtyrer, und Salman al-Farsi, der erste Nichtaraber, der zum Islam übertrat. Nach der Überlieferung soll es Salman gewesen sein, der Mohammed den Rat gab, zur Verteidigung gegen die Ungläubigen einen Graben um Medina anlegen zu lassen. Das verhalf den Muslimen zum Sieg in der berühmten „Grabenschlacht“, die für das Heil des Islam von so entscheidender Bedeutung war. Wird es Baschar al-Assad gelingen, der syrische Salman, der Retter des Regimes, zu werden?

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Siehe dazu die Reportage von Joseph Smaha in Al Hayat, abgedruckt in Mideast Mirror (London), 18. Mai 1999. 2 Zitiert nach Mideast Mirror, 20. August 1999. 3 Al Hayat (London), 6. Juni 2000.

Le Monde diplomatique vom 14.07.2000, von ALAIN GRESH