Die Liberalisierung kommt auf leisen Sohlen
Von SUSAN GEORGE und ELLEN GOULD *
DIE bombastisch angekündigte Jahrtausendrunde der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle ist im November vergangenen Jahres geplatzt. Jetzt hat die WTO die zentralen Verhandlungen über den Dienstleistungsverkehr wieder aufgenommen. Das Mandat hierzu erhielt sie bereits 1994 in Marrakesch aufgrund derVerabschiedung des Allgemeinen Abkommens für den Dienstleistungshandel (GATS).1 Was sich derzeit in Genf bei den Folgeverhandlungen zusammenbraut, entspricht exakt den Zielvorstellungen, die in Seattle eine Abfuhr erhielten: die Kommerzialisierung und Öffnung weiterer Bereiche der öffentlichen Dienste für die Verwertungsinteressen der multinationalen Konzerne.
Speerspitze dieser Offensive ist die Europäische Kommission. Sie und das WTO-Sekretariat scheuen keine Mühen, um die Wünsche der Großunternehmen zu erfüllen. Ungeachtet anders lautender Beteuerungen zielen die Liberalisierungsbemühungen auch und gerade auf den Gesundheits-, Bildungs-, Umwelt- und Kultursektor. Wie man dabei den Willen der Bürger und der nationalen Regierungen umgeht, ist in den einschlägigen Verhandlungsdokumenten nachzulesen. Das dort aufgezeigte Instrumentarium hat bereits weitgehend in die Praxis Eingang gefunden. Auf der Website der EU-Kommission ist nachzulesen, dass „die Kommission nichts unversucht lässt, der Wirtschaft durch fortschreitende Liberalisierung im Rahmen des GATS-Abkommens zu helfen. Aber sie braucht auch die aktive Unterstützung der Wirtschaft, um die EU-Politik auf die wirklichen Export- und Wachstumsinteressen unserer Dienstleistungsindustrien abzustimmen. [...] Das GATS ist nicht nur ein zwischenstaatliches Abkommen, sondern in erster Linie ein Instrument zum Nutzen des Wirtschaftsmilieus.“2 Kein Wunder also, dass der derzeitige EU-Außenhandelskommissar Pascal Lamy den Fahrplan seines thatcheristischen Vorgängers Sir Leon Brittan nicht um ein Jota geändert und dessen Mitarbeiter größtenteils übernommen hat.
Einer von ihnen, Robert Madelin, hat Anfang dieses Jahres Andrew Buxton, Aufsichtsratsvorsitzender der Barclays Bank und Präsident des European Services Forum (ESF), offiziell aufgeordert, die wichtigsten Dienstleistungsmärkte zu benennen, desgleichen die wichtigsten Handelshemmnisse in den „Bereichen Bauwirtschaft, Bildung, Umwelt, Gesundheit, Soziales und audiovisuelle Medien“. Und Madelin betonte: „Selbstverständlich ist die Kommission bereit, für alle branchenspezifischen Gespräche, die Sie und ihre Kollegen wünschen, geeignete Sachverständige und Diskussionsgrundlagen aufzubieten.“3
Ein weiteres Mitglied der Brittan-Mannschaft, der nach wie vor amtierende Hauptunterhändler für den Dienstleistungsverkehr, Michel Servoz, erklärte auf einem 1999 veranstalteten Symposion, „gewisse Sektoren nehmen offenbar an Bedeutung zu; hier würden wir gern ein höheres Maß an Verbindlichkeit sehen. Wir denken dabei an die Umwelt-, Bau-, Vertriebs-, Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen.“4 Bei anderer Gelegenheit meinte Servoz, der Gesundheits-, Bildungs- und Umweltbereich sei „reif für die Liberalisierung“.5
Dabei ist der Kommission durchaus klar, dass die EU zu den Gesundheits-, Bildungs-, Umwelt- und Kulturmärkten anderer Länder nur dann Zugang erhält, wenn sie ihre eigenen Grenzen öffnet. So erklärte Pascal Lamy vor dem US Council for International Business (USCIB): „Wenn wir unsere Zugangsmöglichkeiten zu diesen Auslandsmärkten verbessern wollen, können wir die Barrieren um unsere geschützten Sektoren nicht aufrechterhalten. Wir müssen bereit sein, über sämtliche Sektoren zu verhandeln, um zu einem ‚Big Deal‘ zu gelangen. Dies bedeutet für die Vereinigten Staaten ebenso wie für die EU schmerzhafte Einschnitte in einigen Sektoren, aber auch Vorteile in vielen anderen, und ich glaube, wir alle wissen, dass wir für unsere Ziele Opfer bringen müssen.“6
Der EU-Kommissar führte zwar nicht aus, welche Opfer er damit meinte, ließ aber keinen Zweifel daran, dass auch die Investitionen Gegenstand des Big Deal sein müssten. Angesichts der Ende 1998 gescheiterten Verhandlungen über ein Multilaterales Investitionsabkommen (MAI) ermahnte er seine Zuhörer allerdings zu mehr Fingerspitzengefühl: „Wir müssen äußerst vorsichtig zu Werke gehen. Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Nicht nur das MAI, auch Seattle ist gescheitert. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen.“ Eine dieser Konsequenzen ist sicherlich, dass man solche Abkommen besser hinter verschlossenen Türen aushandelt. Das WTO-Sekretariat wird dagegen nichts einzuwenden haben. Dass Lohnkürzungen zu den Hauptzielen des GATS-Abkommens gehören, wie es einem internen WTO-Papier heißt, wird man kaum in aller Öffentlichkeit ausposaunen wollen.
Lohnkürzungen sind in der Tat ein Lieblingsthema der WTO: Bei manchen „Umwelt-Dienstleistungen wie der Müllabfuhr dürfen bisher nur Staatsangehörige eingestellt werden. Solche Regelungen hemmen den freien Personenverkehr und hindern die Unternehmen, durch internationale Rekrutierung von Personal ihre Kosten zu minimieren.“7 Das GATS-Abkommen soll den transnationalen Arbeitgebern daher die Möglichkeit eröffnen, Arbeitskräfte zu importieren beziehungsweise in beliebigen Ländern einzusetzen. Das WTO-Sekretariat geht übrigens mit gutem Beispiel voran. Schon heute, verkündete WTO-Direktor Mike Moore vor versammelter Mannschaft, „spart Ihnen die WTO durch die Auslagerung von Übersetzungsdiensten viel Geld. Dank E-Mail vergeben wir Aufträge an Heim-Übersetzer in aller Welt.“8
Wie stellt es die WTO an, sensible Dienstleistungsbereiche unbemerkt von der Öffentlichkeit zu liberalisieren? Durch eine großzügige Auslegung der GATS-Vertragstexte, die eine ganze Reihe völlig „legaler“ Mittel bereithalten. So kann die WTO politisch sensible Dienstleistungen einfach anderen Sektoren zuordnen und das Klassifizierungsschema kurzerhand ändern. Die Nutzung von Daten über Patienten oder Studenten taucht dann eben nicht mehr im Bereich Gesundheit oder Bildung auf, sondern in der Datenverarbeitung; das Thema Krankenhausverwaltung oder Sozialversicherung findet sich plötzlich unter der Rubrik „Management“, „Buchhaltung“ oder „Unternehmungsdienstleistungen“ wieder. Weitere Möglichkeiten bietet der so genannte horizontale Ansatz. Danach würde eine für Buchhaltungsdienste beschlossene Regel beispielsweise automatisch für alle 160 aufgeführten Untergruppen gelten. Die EU-Kommission hat sich ausdrücklich für diesen Ansatz ausgesprochen.
Und schließlich kann die WTO die binnenwirtschaftliche Regulierungstätigkeit der nationalen Regierungen drastisch einschränken. Eine großzügige Auslegung des Artikels VI.4 des GATS-Abkommens eröffnet dem WTO-Rat für den Dienstleistungshandel die Möglichkeit, „notwendige Disziplinen“ für die Mitgliedstaaten zu erarbeiten, die ebenfalls „horizontal“ Anwendung finden würden. So schwingt sich die WTO zur Richterin darüber auf, welche binnenwirtschaftlichen Regierungsmaßnahmen „notwendig“ sind und welche „unnötige Hemmnisse für den Handel mit Dienstleistungen darstellen“. Sie entscheidet fortan, ob bestimmte „Qualifikationserfordernisse und -verfahren, technische Normen und Zulassungserfordernisse [...] nicht belastender sind als nötig“. Ein findiger Rechtsanwalt wird freilich stets weniger „belastende“ Maßnahmen konstruieren können als die von einer Regierung anvisierten. Und so darf man darauf vertrauen, dass die transnationalen Dienstleistungsfirmen ständig neue Klagen vor dem WTO-Streitbeilegungsorgan (DSB) anzetteln und finanzieren werden, um missliebige Regulierungsmaßnamen aus dem Weg zu räumen, auch und gerade in Bereichen, in denen sich die nationalen Regierungen sicher wähnen.
In der Tat wissen die Regierungen nicht immer, was Genf und Brüssel hinter ihrem Rücken aushecken. Der ehemalige WTO-Generaldirektor Renato Ruggiero hat dies mit aller Deutlichkeit unterstrichen: „Das GATS-Abkommen bietet Garantien für ein weit ausgedehnteres Rechts- und Regulationsfeld als das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT). Mit der Ausweitung des Niederlassungsrechts und des Prinzips der Inländerbehandlung auf ausländische Dienstleistungsanbieter bezieht sich das Abkommen auf Bereiche, die bislang noch nie als Gegenstand von Handelspolitik galten. Ich habe den Eindruck, dass weder die Regierungen noch die Unternehmen den Umfang dieser Garantien und die Tragweite und Bedeutung der von ihnen eingegangenen Verpflichtungen erkannt haben.“9
Aus diesem und aus vielen anderen Gründen ist es höchste Zeit, dass die Bürger von ihren Regierungen ein klare Verpflichtungserklärung verlangen: Gesundheit, Bildung, Umwelt, Kultur und zentrale öffentliche Dienstleistungen gehören in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der nationalen Regierungen und Parlamente. Zumindest in diesen Sektoren muss die WTO endgültig außer Gefecht gesetzt werden.
dt. Bodo Schulze
* Susan George ist Präsidentin des Observatoire de la Mondialisation (Paris), Vizepräsidentin der internationalen Initiative für eine Tobin-Steuer (Attac); ihre neueste Veröffentlichung: „The Lugano Report“, London (Pluto Press) 1999. Ellen Gould ist Forscherin am Transnational Institute (Amsterdam).