Die Nato und das Völkerrecht
ZWISCHEN dem 24. März und dem 10. Juni 1999 führte die Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato) unter dem Codenamen Operation Allied Force einen Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. In der von der jugoslawischen Regierung erstellten detaillierten Bilanz wird die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung auf 400 bis 600 Personen geschätzt.
Die Nato hat keine offiziellen Schätzungen von zivilen Opfern oder getöteten Kombattanten der Bundesrepublik Jugoslawien bekannt gegeben. Die Streitkräfte des Atlantischen Bündnisses hatten im Verlauf der Luftangriffe kein einziges Opfer zu verzeichnen.
Die Auseinandersetzungen über diese Operation kreisen vor allem um die Frage, ob die Nato gesetzlich und moralisch legitimiert war, militärisch gegen einen souveränen Staat vorzugehen, um ihn an Menschenrechtsverletzungen gegen seine eigenen Bürger zu hindern. Es handelt sich um eine wichtige Diskussion, die insbesondere die Frage aufwirft, was die internationale Gemeinschaft in den Jahren hätte tun können und müssen, als amnesty international und andere Organisationen die Übergriffe im Kosovo in der Hoffnung kritisierten, die Krise vom März 1999 zu verhindern.
Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob nicht die Nato im Voraus das katastrophale Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen im Kosovo durch die jugoslawische Armee nach Beginn des Einsatzes hätte einschätzen und berücksichtigen müssen. Amnesty international ist sich des Dilemmas bewusst, maßt sich aber kein Urteil darüber an, ob der Rückgriff auf Gewalt im einen oder anderen Fall gerechtfertigt ist oder nicht.
Amnesty äußert sich folglich nicht zur Militärintervention der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien oder zu der Frage, welche politische Lösung es für das Kosovo-Problem geben könnte. Amnesty hat es sich vielmehr zur Aufgabe gemacht, die Nato-Militärintervention unter dem Gesichtspunkt des humanitären Völkerrechts zu begutachten. Dabei haben sie sich auf dieselben Kriterien gestützt wie bei ihren früheren Beobachtungen (etwa der jugoslawischen Streitkräfte im Kosovo oder anderer Krieg führender Parteien in aller Welt). Der von der Nato vielfach wiederholte Anspruch, an dem eigenen humanitären Auftrag gemessen zu werden, lässt sich auch als ein Plädoyer verstehen, man möge sie nach laxeren Kriterien beurteilen als die Bundesrepublik Jugoslawien. Keine überparteiische Organisation aber kann mit zweierlei Maß messen.
Die Nato hat alle Anschuldigungen zurückgewiesen, gegen humanitäres Völkerrecht verstoßen zu haben. Die Luftangriffe gegen Jugoslawien hält sie für die präziseste Operation in der jüngeren Geschichte: Nie zuvor habe man sich so sehr darum bemüht, die Zivilbevölkerung zu schonen. Das mag stimmen. Dennoch räumt selbst die Nato tragische Vorkommnisse ein, wobei es sich keineswegs nur um unvermeidbare Zwischenfälle gehandelt hat.
In seiner Untersuchung setzt sich amnesty international mit verschiedenen Aspekten der Bombardierungen auseinander, unter anderem auch mit den neun Angriffsaktionen, bei denen Zivilpersonen umkamen und womöglich gegen das Kriegsrecht verstoßen wurde. Es übersteige die Möglichkeiten von amnesty, Angriffe (wie den auf die Brücke von Novi Sad) zu untersuchen, die vielleicht illegal waren, dem aber offenbar keine Zivilisten zum Opfer fielen. Desgleichen sei amnesty außerstande, die globalen Auswirkungen der Bombardierungen auf die Zivilbevölkerung zu beurteilen. Aus den vorliegenden Fakten, die in erster Linie auf den öffentlichen Nato-Erklärungen und auf Diskussionen mit hochrangigen Nato-Vertretern in Brüssel vom Februar 2000 beruhen, geht deutlich hervor, dass bei der Wahl der Angriffsziele und der Kampfmethoden nicht immer die gesetzlichen Verpflichtungen eingehalten wurden.1
In einem Fall hat die Nato ein ziviles Objekt – den Sitz der serbischen Radio- und Fernsehanstalt in Belgrad – angegriffen und damit ein Kriegsverbrechen begangen. Im Zuge anderer Angriffe, etwa auf die Brücke von Grdelica, haben Nato-Streitkräfte ihre Bombardierung nicht eingestellt, obwohl offensichtlich Zivilpersonen getroffen wurden. Die Untersuchungen der Angriffe auf die Vertriebenen in Djakovica und Korisa zeigen, dass die getroffenen Vorkehrungen nicht ausreichten, um die Opfer unter Zivilisten auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Wenn sich die Nato-Streitkräfte an das geltende Kriegsrecht gehalten hätten, hätte es deutlich weniger zivile Opfer gegeben.
Während der gesamten Operation Allied Force wurde seitens der Nato nie klargestellt, an welche der Normen des humanitären Völkerrechts ihre Truppen gebunden waren und wie sie eine gemeinsame Auslegung dieser Richtlinien während der Bombardierungen durchsetzen wollten. Nicht alle Nato-Mitglieder haben dieselben Verträge unterzeichnet. Die USA, deren Flugzeugen 80 Prozent aller Luftangriffe bestritten,2 haben das I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 nicht ratifiziert, ebenso wenig wie Frankreich und die Türkei. Nato-Sprecher Jamie Shea wiederholte während der gesamten Dauer der Bombardierungen, die Regeln der Kriegführung seien niemals zuvor so strikt eingehalten worden, bezog sich dabei aber nie explizit auf das I. Zusatzprotokoll.
Bei den Gesprächen in Brüssel betonten die Bündnisvertreter nachdrücklich, die einzelnen Mitgliedsländer seien nur an ihre jeweils eigenen gesetzlichen Verpflichtungen gebunden. Der Nato fehlt ein geeigneter Mechanismus, um die Einhaltung eines gemeinsamen Normenkatalogs durchzusetzen oder dessen einheitliche Auslegung zu gewährleisten. Von einer konsistenten Anwendung der Richtlinien kann also keine Rede sein.
Wie die Nato-Vertreter erklärten, präsentierte das Bündnis während der Operation Allied Force den Mitgliedern Listen ausgewählter Ziele. Die einzelnen Länder konnten einzelne Ziele ablehnen, wenn sie deren Bombardierung für einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht oder die eigenen nationalen Gesetze hielten. Wurde ein Angriffsziel von einem Land als illegal bezeichnet, kam es auf keine andere Liste, wie die Sprecher des Bündnisses beteuerten. Ob dies den Tatsachen entspricht, ist nicht eindeutig auszumachen. In mindestens einem Fall, dem Angriff auf die serbische Radio- und Fernsehanstalt, hielt man offenbar an der Operation fest, obwohl sich die Nato-Länder über ihre Rechtmäßigkeit uneinig waren.
„Wir müssen lernen, uns in den Grenzen zu bewegen, die unsere Koalitionspartner uns und sich selbst auferlegen“, erklärte General Michael Short, Kommandant der Nato-Luftstreitkräfte in Südeuropa. „Manche Nationen würden Ziele, die meine Nation angreifen würde, nicht angreifen. Nicht alle Nationen teilen unsere Definition von einem gültigen militärischem Ziel. Das gilt es zu berücksichtigen. Man muss wissen, dass alle in Großbritannien stationierten Flugzeuge bei der Beurteilung, ob das gerade anvisierte Ziel rechtmäßig ist oder nicht, an die Bestimmungen der Regierung des Vereinigten Königreichs gebunden sind.“3
„Alle Länder des Atlantischen Bündnisses haben im Rahmen der Nato gehandelt. Es gab eine Koordination und eine Diskussion über die Angriffsziele“, erklärte der französische Außenminister Hubert Védrine gegenüber der BBC. „Doch die USA haben darüber hinaus eine amerikanische Aktion durchgeführt. Dabei setzten sie nationale Gelder ein; die Entscheidungen kamen, wie die Kommandos, direkt aus den USA. Den europäischen Verbündeten waren diese zusätzlichen Einsätze nicht bekannt.“ Diese Behauptung wurde von der Nato bestritten.4
Selektive Ziele – selektive Moral
WÄHREND der gesamten Dauer der Luftangriffe verkündete die Nato wiederholt, sie übernehme „alle nur denkbaren Anstrengungen, um Kollateralschäden zu vermeiden“; ihre Piloten würden unter Einhaltung „strikter Regeln der Kampfführung“ operieren. Doch sie hat diese Regeln und die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien niemals preisgegeben. In Gesprächen mit Vertretern der Allianz wurde amnesty mitgeteilt, dass jeder Mitgliedsstaat zu entscheiden hatte, welche der von der Nato vorgeschlagenen Einsatzregeln für die eigenen Truppen Gültigkeit hatten. Mehr war dazu nicht zu erfahren.
Bekannt sind die Überlegungen bezüglich der Regeln für Bombardierungen aus großer Höhe. Um die Piloten vor der jugoslawischen Luftabwehr zu schützen waren die Flugzeuge ursprünglich angehalten, eine Höhe von 5 000 Metern nicht zu unterschreiten. Diese Grenze wurde in der zweiten Angriffsphase gesenkt. In der Folge gingen einige Flugzeuge bis auf eine Höhe von 2 000 Metern herunter. Wie Nato-Vertreter versicherten, kann eine in 5 000 Meter Höhe fliegende Besatzung nur feststellen, ob das anvisierte Objekt dem ausgewählten Angriffsziel entspricht. Dagegen ließen sich etwaige Bewegungen von Zivilpersonen in der Umgebung des Zieles nicht wahrnehmen. Diese Regel machte es den Besatzungen also faktisch unmöglich, gemäß ihrem Auftrag einen Angriff dann auszusetzen, wenn das Ziel durch veränderte Bedingungen am Boden kein legitimes mehr ist. Nach der Bombardierung eines Konvois von Zivilisten in Djakovica wurden die Regeln der Kampfführung dahingehend geändert, dass sich die Piloten visuell davon zu überzeugen hatten, dass sich in der Umgebung des Zieles keine Zivilpersonen aufhielten.
General Michael Short, der für eine BBC-Dokumentation über die Vorfälle in Djakovica am 14. April 1999 befragt wurde, gab folgende Aussage der Piloten wieder: „Nach ihrer Rückkehr sind sie zu mir gekommen und haben gesagt: Wir müssen die Aufklärungsflüge bis 1 700 Meter tief fliegen lassen, und die Bomber müssen die Erlaubnis haben, bis auf 2 500 Meter herunterzugehen. Während einer Bombardierung müssen wir sicher stellen, dass das Ziel zuerst geprüft wird, und danach auf 5 000 Meter steigen. Wir wissen, dass wir damit die Risiken beträchtlich erhöhen, aber niemand von uns möchte je wieder einen Traktor voller Flüchtlinge treffen. Das ertragen wir nicht.“5
Nach dem Angriff vom 7. Mai auf Niš und vom 30. Mai auf die Varvarin-Brücke wurden neue Regeln erlassen. Nach Niš verzichteten die USA erstmals auf den Einsatz von Splitterbomben, im zweiten Fall beschloss die Nato, auf die Bombardierung gewisser Ziele wie Brücken zu verzichten, wenn man davon ausgehen musste, dass sich in ihrer Umgebung viele Zivilisten befanden. Doch diese Änderungen erwiesen sich als ungenügend, um weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung zu verhindern. Diese grundlegenden Vorkehrungen hätten man schon zu Beginn der Luftangriffe beschließen müssen, um sicherzustellen, dass die Regeln der Kampfführung nicht gegen das Kriegsrecht verstießen.
Die Nato hielt sich auch nicht an die Vorschrift des I. Zusatzprotokolls, wonach Angriffen, durch welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden kann, eine wirksame Warnung vorausgehen muss. Nach Aussagen von Nato-Vertretern wollte man die Sicherheit der Piloten nicht aufs Spiel setzen. Dagegen erklärte Nato-Sprecher Jamie Shea: „Nie zuvor in der Geschichte wurden bei Luftangriffen so viele Maßnahmen zu Lasten der Armeeangehörigen und zugunsten der Zivilbevölkerung getroffen, auch wenn wir nicht in der Lage waren, eine 100-prozentige Perfektion zu erreichen – was niemand kann und je können wird.“6 Kaum jemand wird bestreiten, dass man unmöglich einen perfekten Krieg führen kann. Dennoch bewirkten die Regel über eine Flughöhe von mindestens 5 000 Metern und das Ausbleiben wirksamer Warnungen nahezu „zwangsläufig“ die nachträglich bedauerten „Irrtümer“ .
Präzise Auskünfte sind unumgänglich, wenn man die Opfer unter der Zivilbevölkerung möglichst gering halten möchte. Dies gilt zumal bei Luftangriffen aus großer Höhe unter Einsatz von Langstreckenwaffen. Die Nato konzentrierte sich auf die Planungsphase, von der Annahme ausgehend, dass sich die Umstände nicht ändern würden oder dass eine solche Änderung – beispielsweise durch sich dem Ziel nähernde Zivilpersonen –, von zweitrangiger Bedeutung sei. Gleichwohl unterliefen der Nato auch bei der Planung gravierende Fehler mit tödlichen Folgen. Das gilt etwa für den Angriff auf die kosovoalbanischen Flüchtlinge in Korisa oder auf die chinesische Botschaft in Belgrad.
Den eigenen Versicherungen zum Trotz war die Nato in mehreren Fällen außerstande, zu beurteilen, ob sie tatsächlich militärische Ziele angriff. Ihre Einschätzung erwies sich in mehreren Operationen als fehlerhaft. Unter solchen Umständen wächst das Risiko für die Zivilbevölkerung, von den Angriffen getroffen zu werden. Deshalb ist es umso wichtiger, wirksame Schutzvorkehrungen für zukünftige Angriffe vorzusehen.
In einem Schreiben an die Nato während der Operation Allied Force forderte amnesty international, mehrere der in diesem Artikel erwähnten Angriffe genauer zu untersuchen. Im Antwortschreiben der Nato-Vertreter hieß es, man habe bereits interne Untersuchungen angestellt, halte es aber nicht für „nützlich“, die Ergebnisse oder Details über die beteiligten Streitkräfte zu veröffentlichen. Es wurde betont, dass keinerlei Straf- oder Disziplinarmaßnahme gegen die an den beanstandeten Angriffen beteiligten Personen ergriffen würden. Im April 2000 gab die CIA jedoch bekannt, dass sie gegen mehrere Mitarbeiter wegen ihrer Rolle bei der Fehlidentifizierung der chinesischen Botschaft disziplinarische Maßnahmen ergriffen habe.
Die Nato hat erklärt, sie sei mangels direkter Informationsquellen in Serbien außerstande gewesen, die Zahl der durch die Bombenangriffe verursachten Opfer unter der Zivilbevölkerung herauszufinden. Trotz dieser fehlenden Informationsquellen konnten andere Untersuchungen, von denen der amerikanische Bericht über die Bilanz des Einsatzes im Kosovo zeugt, offenbar durchgeführt werden (US Department of Defence’s Kosovo After Action Report7 ). Auch bleibt unerklärt, warum in anderen, politisch weniger heiklen Fällen, bei denen Zivilpersonen zu Schaden kamen, Untersuchungen wie im Fall der angegriffenen chinesischen Botschaft unterblieben sind.
Am 13. Juni veröffentlichte das Büro von Carla del Ponte, der Chefanklägerin des Internationalen Tribunals für Verbrechen im früheren Jugoslawien, den Bericht einer internen Kommission über die Nato-Bombardierungen. Die Chefanklägerin akzeptierte die Schlussfolgerungen des Berichts, kein Strafverfahren gegen die Nato einzuleiten, auf der Basis folgender Argumentation: „Entweder ist das Gesetz nicht klar genug, oder die Untersuchungen haben nur geringe Aussicht, ausreichende Beweise zusammenzutragen, um eine Anschuldigung hochrangiger Persönlichkeiten oder anderer Personen zu erwirken, denen schwer wiegende Verbrechen zur Last gelegt werden.“
Amnesty international respektiert das Urteil der Chefanklägerin, zitiert jedoch einen Satz des besagten Berichts, wonach die Nato, auf „spezifische Fragen im Zusammenhang mit spezifischen Vorfällen“ nur eine „sehr allgemeine Antwort ohne Bezugnahme auf die spezifischen Vorfälle“ gegeben habe. Außerdem verweist derBericht darauf, dass „die Kommission nicht mit den Personen gesprochen hat, die an der Leitung oder Durchführung der Bombardierungen beteiligt waren“. Diese Tatsachen summieren sich zu einem Informationsdefizit, das die Kommission in ihrem Bericht selbst eingesteht. Dadurch wird aber noch nicht erklärt, welchen Schwierigkeiten das Büro der Chefanklägerin bei der Suche nach Beweisen gegen offiziellen Vertreter der Nato oder eines Mitgliedsstaates begegnet ist.
Dass die Nato sich weigert, bei der Beantwortung der Fragen des ITCY voll zu kooperieren, ist bedauerlich. Die Entscheidung der Chefanklägerin, kein Strafverfahren gegen die Nato einzuleiten, sollte nicht dazu führen, die im Bericht genannten Details und Nuancen zu übersehen oder die Empfehlungen außer Acht zu lassen, die von amnesty international (siehe Kasten) und andere Organisationen gemacht wurden, etwa in dem Bericht von Human Rights Watch vom Februar 2000.8
Die Nato muss aus der Operation Allied Force ihre Lehren ziehen, wie sich der im humanitären Völkerrecht vorgeschriebene Schutz der Zivilbevölkerung optimieren lässt. Das mächtigste Militärbündnis der Welt muss in dieser Hinsicht auch die höchsten Standards setzen.
dt. Birgit Althaler
* Berater bzw. Leiter der Abteilung Ermittlungen und Mandat des Sekretariats von amnesty international, London.