Eine Art gegenseitiger Entwicklungshilfe
HUMANITÄRES Engagement ist offenbar die wichtigste Form der internationalen Solidarität. Seit neuestem gibt es jedoch auch auf lokaler Ebene ein Art Engagement, wie man es bislang kaum kannte: Gemeinsam mit hilfsbedürftigen Gemeinden in Armutsländern des Südens und des Ostens haben französische Kommunalverwaltungen verschiedene Entwicklungsprojekte auf die Beine gestellt und dauerhafte Partnerschaften aufgebaut. Für die Beteiligten sind die Programme zugleich so etwas wie eine Schule des solidarischen Handelns. Sie könnten zum Beginn eines Prozesses werden, der nicht die Liberalisierung der Geldbewegungen fördert, sondern die Solidarität von Bürgerbewegungen.
Von MICHEL RAFFOUL *
An ihre Reise nach Palästina wird sich Nadine noch lange erinnern. Als die junge Frau aus Romains-sur-Isère vor einem Jahr beschloss, sich auf ein ungewisses Auslandsprojekt einzulassen, hatte sie eine Reihe von ABM-Jobs hinter sich, aber noch keinerlei Erfahrung mit Renovierung und Erhalt von Häusern. Nun begann sie mit einer Gruppe französischer Maurer bei der Instandsetzung palästinensischer Wohnbauten in der Gegend von Bethlehem mitzuarbeiten. Nadine hatte sich entschlossen, ihr Leben zu verändern – ohne viele Worte oder großartige Erklärungen, nur mit der ruhigen Gewissheit eines Menschen, der es als befreiend empfindet, sich für andere einzusetzen. Zehntausende Franzosen haben eine ähnliche Entscheidung getroffen. Dabei gelten humanitäre Großtaten heutzutage keineswegs mehr als schick. Seit einigen Jahren ist das öffentliche Interesse für internationale Hilfsaktionen ebenso am Schwinden wie Solidaritätsdemonstrationen oder die Unterstützung für Dritte-Welt-Initiativen und Nichtregierungsorganisationen.
Das heißt jedoch erstaunlicherweise keineswegs, dass die Öffentlichkeit von benachteiligten Bevölkerungsgruppen nichts mehr hören will. Problematisch geworden scheint nur die Form des Engagements. Das Interesse hat sich fast unmerklich zu den weniger spektakulären, jedoch transparenteren und realistischeren Projekten verlagert, die langfristig konkrete Ergebnisse versprechen. Diese Entwicklung begünstigt eine neue Form der internationalen Zusammenarbeit, die immer noch von der Zivilbevölkerung und den NGOs ausgeht, nun aber von deren lokalen Vertretern getragen wird.1
In jüngster Zeit engagieren sich immer mehr Kommunen und Regionen mit Unterstützung der Bevölkerung in internationalen Hilfsaktionen für benachteiligte Gemeinden in der Dritten Welt und in Osteuropa. Diese Gemeinschaftsaktionen koordinieren eine Vielzahl von Initiativen für konkrete Entwicklungsprojekte vor Ort. Sie bemühen sich um zusätzliche nationale oder internationale Kredite, aber auch um glaubwürdigere und wirksamere Formen der Zusammenarbeit.
Inzwischen haben sich diese Gemeinden neue Ziele gesteckt. Sie halten zum Beispiel effektivere Verwaltungsstrukturen für wichtiger als einen Solidaritätsbasar oder den Bau eines Brunnens. Damit wirken sie gestaltend auf die lokale Ebene ein. Diese neue Form solidarischen Handelns ist flexibler als die Hilfe von Regierungen und internationalen Organisationen und – bei aller Unauffälligkeit – auch dauerhafter als so manche NGO-Initiative.
„In der breiten Öffentlichkeit sind diese Projekte noch immer nicht bekannt“, meint Christian Watremez fast entschuldigend. Watremez ist Stadtrat von Romains-sur-Isère und für die internationalen Beziehungen der Stadt zuständig. „Die so genannte dezentrale Kooperation ist Mitte der Achtzigerjahre entstanden, offiziell gibt es sie erst seit 1992.2 Bislang handelt es sich lediglich um ein Experimentierfeld für neue Ansätze und Erfahrungen.“
Ein Großversuch in Sachen internationaler Solidarität also, und zwar im wahrhaft globalen Maßstab: An der Unterstützung der fast 6 000 internationalen Programme in 114 Ländern sind heute alle Regionen Frankreichs, jedes zweite Departement und viele der großen und mittleren Städte beteiligt. Zu den Summen, die von den örtlichen Gruppen aufgebracht werden, legen Europäische Union und französischer Staat noch einiges dazu. Frankreich hat in diesem Jahr insgesamt 69,7 Millionen Franc für 319 Projekte bewilligt – im Vergleich mit 1994 ein Zuwachs von 62 Prozent. Insgesamt wurden von französischen Gebietskörperschaften für Auslandsprojekte bis heute fast 1,5 Milliarden Franc bewilligt.
Dass sich der französische Staat für die dezentrale Kooperation interessiert, liegt auch daran, dass die neue Form so flexibel ist. Charles Josselin, Staatssekretär im Außenministerium für internationale Zusammenarbeit3 , erklärte Ende 1997 vor dem französischen Städtetag: „Die Wirkungsmöglichkeiten der lokalen Körperschaften sind praktisch unbegrenzt. Sie können tun, was ihnen beliebt, und genau das ist einfach großartig!“
In den laufenden Projekten der Entwicklungszusammenarbeit geht es zum Beispiel darum, die Stadtverwaltungen in Ländern des Südens in Bereichen wie Organisation oder Stadtplanung zu unterstützen. „Unsere Partner müssen vor allem lernen, wie man eine Regionalverwaltung aufbaut, wie Gesundheits- und Bildungswesen oder ein öffentliches Nahverkehrssystem funktionieren, wie man Wasser- und Stromversorgung oder ein Abwassersystem einrichten kann“, erklärt Nicolas Wit, stellvertretender Leiter der Vereinigung französischer Städte (CUF), in der viele der dezentral kooperierenden Gemeinschaften organisiert sind. Weitere Programme zielen auf die Bekämpfung der Armut, widmen sich humanitären Fragen oder versuchen, durch Kleinkredite der lokalen Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen.4
Damit ein Projekt von einer Gemeinde unterstützt werden kann, muss es in jedem Fall Langzeitcharakter haben, zudem müssen alle Umsetzungsschritte von den Partnern gemeinsam vollzogen werden. „Ein Programm, das nicht von den Beteiligten im Norden und im Süden gemeinsam entwickelt wurde, hat keine Chance“, erläutert Georges Charles, zweiter Bürgermeister der Gemeinde Champigny, die seit 1983 ein Hilfsprogramm für Nicaragua betreibt. „Alle müssen lernen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.“
Eine gute Schule für Engagement und Bürgersinn
IN der Praxis gab es dennoch einige Abstriche von den hehren Prinzipien. „Am Anfang haben wir vieles falsch eingeschätzt“, räumt François Le Diset ein. Der Vorsitzende der Association Evreux-Djougou (Bénin) betreut von Evreux aus seit über zehn Jahren eine Vielzahl von Entwicklungsprojekten. „Inzwischen entscheiden sich die meisten Gemeinden hier für gemeinsam entwickelte Langzeitprogramme, die soziale Verbesserungen oder die Einführung öffentlicher Dienstleistungen vorantreiben. Solche Aktivitäten sind den üblichen Formen staatlicher oder multilateraler Zusammenarbeit überlegen, weil sie sich stärker an den Bedürfnissen der Menschen im Süden orientieren und weil sie besser nutzen, was die Menschen im Norden zu bieten haben. Sie sind damit menschlicher und wirkungsvoller.“
Eigentlich sind die Gemeinden gar nicht berechtigt, sich um die Entwicklung der Infrastruktur in einer ausländischen Partnergemeinde zu kümmern. Fragen der internationalen Politik fallen in die ausschließliche Zuständigkeit des Staates. Aber seit 1992 gibt es ein Gesetz, das ihre Aktivitäten nachträglich legalisiert, zugleich aber auch ihren Handlungsspielraum eingrenzt. „Um ein internationales Projekt im Hinblick auf dieses Gesetz zu rechtfertigen“, meint Nicolas Wit von CUF, „muss eine Gemeinde im Norden schon ein gewisses Maß an Bürgersinn und Engagement zeigen. Nur wenn damit der soziale Zusammenhalt, die demokratische Mitwirkung und die kommunale Entwicklung gefördert werden, darf sie ein solches Projekt starten.“
Die Vertreter der Zivilgesellschaft, im Norden wie im Süden, die sich für diese Form der Zusammenarbeit stark machen, begreifen das nicht als Teil der diplomatischen Beziehungen. „Entscheidend sind die emotionalen Bindungen, die Intensität der Begegnung und das Verständnis, das sich entwickelt“, meint Francis Hennetin, einer der „Gründerväter“ der Bewegung in den Departements Provence - Alpes - Côte d’Azur und ehemaliges Mitglied der Association drômoise des chantiers d'animation de la vie locale, die auf lokale Tradition als Grundlage der Entwicklung setzt. „Solche Erlebnisse mögen im Vergleich mit den eigentlichen Aktionen unbedeutend erscheinen, aber in Wahrheit sind sie der entscheidende Antrieb – eine Erfahrung, die jeden Menschen verändert.“ Für die Gemeinden erweist sich diese Erfahrung als wertvoll, weil die Menschen erleben, wie sich Anteilnahme und Solidarität mit den Ärmsten in zielgerichtetes und dauerhaftes Handeln übersetzen lassen – eine gute Schule für Engagement und Bürgersinn, die auch die eigene Gemeinschaft nötig hat.
Die dezentrale Kooperation beschränkt sich nicht auf den seit Jahrzehnten praktizierten Transfer von Kompetenz – mit den bekannten Resultaten –, sie stiftet darüber hinaus eine Partnerschaft, von der beide Seiten etwas haben. Im Prinzip der Gegenseitigkeit liegt zweifellos ihr eigentlicher Wert. Wenn Gemeinden des Nordens Häuser im Süden bauen, stärken sie zugleich den bürgerlichen Gemeinsinn zu Hause. „Es geht nie um den gleichwertigen Austausch“, erläutert Yannick Lechevalier von der CUF, „sondern um eine Beziehung, bei der beide Seiten gewinnen. Wer sich engagiert, etwas tut, für Veränderung eintritt – der wird schließlich selbst verändert.“ Die Bürger können also Erfahrungen mit Gemeinschaftshandeln machen, die für Menschen, die öffentliche Verantwortung übernehmen wollen, nachgerade unverzichtbar sind. So helfen die benachteiligten Gemeinschaften ihrerseits den Helfern aus dem Norden, sich ihrer Fähigkeit bewusst zu werden, etwas für andere, aber auch für sich selbst zu tun. „Viele der Jugendlichen aus Einwandererfamilien, ob sie nun eine Zeit lang nach Djougou in Bénin gegangen sind oder nicht, fühlen sich einfach stärker anerkannt, seit man sich in Evreux für Afrika interessiert“, meint Hubert Legras, der in der Stadtverwaltung von Evreux für die Belange der dezentralen Kooperation zuständig ist. „Sie finden damit ihren Platz in der Stadt. Und wenn sie in der Verwaltung einer Gemeinde im Ausland mitwirken, beginnen sie zu verstehen, wie eine Stadtverwaltung funktioniert. Nach ihrer Rückkehr sind sie dann eher bereit, sich im eigenen Viertel zu engagieren.“
Zu den ersten Auswirkungen gehörte, dass sich die Einwohner stärker für die Integration von Zuwanderern einsetzten und dass die Verbände und Vereinigungen, die soziale Probleme in den Städten angehen, mehr Zulauf bekamen. Dieser Effekt – bei Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen wohlbekannt – erwies sich auch als sehr hilfreich bei der Entschärfung sozialer Konfliktsituationen. So hat Georges Charles, der stellvertretende Bürgermeister von Champigny, mit Jugendlichen aus dem Problemviertel Bois-L'Abbé (Arbeitslosenquote: 25 Prozent) ein Projekt in einem palästinensischen Flüchtlingslager bei Hebron gestartet. „Unsere nicht integrierten Jugendlichen erkannten sich in den Ausgestoßenen wieder, die sie dort trafen. Und ihr Engagement für andere hat ihnen geholfen, sich der eigenen Situation bewusst zu werden und ihr Leben zu verändern. Nach ihrer Rückkehr wollten sie hier ein gemeinsames Projekt beginnen. Daraus ist ein Bildungsprogramm für das Viertel entstanden. Viele von ihnen haben inzwischen ihre Ausbildung fortgesetzt oder wieder Arbeit gefunden.“ Im gemeinsamen Handeln mit anderen haben diese Jugendlichen gelernt, dass es sich lohnt, eine gute Ausbildung zu haben.
Die Programme im Ausland und der reziproke „Zugewinn an Bürgersinn“ bringen auch die Gemeinschaften im Norden auf neue Ideen. So hat es Kofi Yamgnane im bretonischen Saint-Coulitz nach mehreren Anläufen geschafft, einen „Ältestenrat“ nach schwarzafrikanischem Vorbild einzurichtet. Seitdem haben Städte wie Mulhouse, Roche-sur-Yon oder Albertville das Beispiel nachgeahmt. „Uns fiel auf, dass die Senegalesen in Bignona viel weiter gehende Formen der praktischen Mitbestimmung kennen als wir“, meint Jean-Paul Gandin von „Savoie solidaire“. „Also haben wir ein Komitee aus älteren Menschen gebildet, die jeweils ihr Stadtviertel vertreten. Eigentlich waren wir angetreten, den Menschen in Afrika zum Wandel zu verhelfen, und nun sind sie es, die einen Wandel bei uns bewirkt haben.“
Auf der Hochebene von Boos, östlich von Rohen, haben sich fünfzehn Dörfer über alle Parteigrenzen hinweg zusammengeschlossen, um den Bezirk Guibaré in der senegalesischen Provinz Bam zu unterstützen. Das Resultat kann sich sehen lassen: Mit Hilfe örtlicher Unternehmen und der Exekutive des Departements Seine-Maritime wurden jährlich 300 000 Franc aufgebracht. Das hatte auch zur Folge, dass die Gemeinden in diesem Teil der Normandie enger zusammenarbeiten, etwa im Bereich der Wasserversorgung oder der Schulverwaltung – ein einmaliger Fall in Frankreich. „Hier herrscht neuerdings eine ganz andere Atmosphäre“, meint Max Martinez, der Bürgermeister von Bonsecours. „Wenn heute in einem unserer Dörfer ein Afrika-Solidaritätstag organisiert wird, kommen bestimmt drei Viertel unserer Einwohner.“
Weiterhin ist zu vermerken, dass die Vertreter der reichen Länder im Süden nicht das erwartete Chaos, Misswirtschaft und Korruption entdecken. Sie müssen im Gegenteil anerkennen, dass dort mit geringen finanziellen Mitteln beachtliche Ergebnisse erzielt werden – dass sie also etwas lernen können. „Wenn man sieht, welche Anstrengungen die Palästinenser unternehmen, um Geld für Jugendsportveranstaltungen in ihrem Viertel aufzubringen – trotz 60-prozentiger Arbeitslosigkeit, einer so gut wie bankrotten Kommune, kaputter Infrastruktur und Lehrermangel – da fragt man sich doch, ob wir es hier so viel besser machen, wo nur der Spitzensport gefördert wird, aber nicht die Sportvereine in den ärmeren Vierteln“, meint Michel Hauchart aus Grande Synthe. „Natürlich wollen wir hier nicht solche Elendsverhältnisse, aber wir könnten von ihnen lernen, mit mehr Phantasie nach neuen Lösungen zu suchen.“
Für manche Gemeinden könnte das internationale Engagement sogar zum rettenden Impuls für die Lösung der heimischen Probleme werden. Romains-sur-Isère, eine Stadt von 33 000 Einwohnern, die nach dem Niedergang der örtlichen Schuhindustrie in schweren Wirtschaftsproblemen steckt (über 20 Prozent Arbeitslosigkeit, jährlich 30 Millionen Franc Sozialausgaben), bringt dennoch über 600 000 Franc für internationale Projekte in Palästina, Marokko, Tunesien und Armenien auf. „Die alten Städtepartnerschaften erschienen uns zu eng gefasst“, meint Frédéric Deshayes, zuständig für europäische und internationale Angelegenheiten. „Wir haben ein Projekt gestartet, in dem ehemalige Arbeiter der Lederindustrie tunesische Schuhmacher ausbilden. Das soll hier wie dort helfen, Menschen wieder in das soziale Leben einzugliedern.“
Im Laufe von zwanzig Jahren konnten mehr als 14 000 Menschen im Rahmen der dezentralen Kooperation ihre Erfahrungen austauschen. Und sie haben ansehnliche Resultate vorzuweisen. Das gilt vor allem für die jungen Menschen aus den ärmeren Vierteln, die sich aufgemacht haben, das Land ihrer Herkunft oder die Heimat ihrer Eltern zu entdecken. „Wenn sie von dort zurückkommen, erscheint es ihnen seltsam, sich als Franzosen zu bezeichnen“, sagt Frédéric Deshayes. „Aber die Reise hat ihnen die Chance geboten, sich neu zu verorten, eine Bindung herzustellen, und am Ende im eigenen Land, in Frankreich besser zurechtzukommen.“
Pierrick Hamon, Mitglied der Nationalen Kommission für dezentrale Kooperation im französischen Außenministerium5 , ist sehr angetan: „Die dezentrale Kooperation hat eine außergewöhnliche Fähigkeit bewiesen, globale Entwicklungstendenzen vorauszusehen. Sie besetzt eine Nahtstelle zwischen Dezentralisierung, Demokratisierung und Globalisierung.“ In diesem Sinne könnte die dezentrale Kooperation ein Gegenmodell zu den zunehmend globalisierten Geldbewegungen darstellen: eine Globalisierung der uneigennützigen und demokratischen Bürgerbewegungen. Kurz: das Gegenbild zu Seattle.
dt. Edgar Peinelt
* Journalist