11.08.2000

Sommer in Porto Alegre statt Winter in Davos

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Sommer in Porto Alegre statt Winter in Davos

WENN sich alljährlich im Winter Leute aus den Führungsetagen der Finanzwelt und internationalen Konzernen im Schweizer Ferienort Davos versammeln,1 hat das nichts von einem Sektentreffen: Die Veranstalter des Weltwirtschaftsforums haben stets Wert darauf gelegt, dass an ihren Diskussionen auch ausgewählte Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler teilnehmen, ebenso wie führende Politiker, ja sogar Gewerkschafter. Beide Gruppen von Gästen haben ihre klar definierte Funktion. Die einen sollen eine Veranstaltung, die der Huldigung des Profits dient, aufwerten und ihr kulturellen Glanz und eine emotionale Dimension verleihen, die anderen, Staatspräsidenten und Minister, sollen Flagge zeigen und den neuen Herren der Welt die Reverenz erweisen.

Im Jahr 2001 wird Davos Konkurrenz bekommen – durch eine Veranstaltung, die auf ihre Weise viel eher das Recht beanspruchen kann, die ganze Welt, und zwar die wirkliche, zu vertreten. Vom 25. bis 30. Januar 2001, zeitgleich mit dem Treffen in Davos, wird auf der Südhalbkugel, im brasilianischen Porto Alegre, das erste Weltsozialforum stattfinden. Dort erwartet man eine deutlich andere Auswahl von Teilnehmern: Gewerkschaftsführer, Vertreter von Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, von Menschenrechtsorganisationen, von kulturellen, ökologischen, feministischen Vereinigungen und Bürgerbewegungen aus allen Erdteilen. Es sollen also nicht nur alle kommen, die in Seattle dabei waren, sondern noch viele andere: Vertreter von kleinen und mittleren Unternehmen des Südens, die Opfer der Globalisierung geworden sind, Repräsentanten der Kirchen, Parlamentsabgeordnete und Gemeindevertreter. Zwei- bis dreitausend Teilnehmer sollen sich einfinden, jeder ein Hoffnungsträger.

Das Weltsozialforum ist gedacht als ein Ort des Austauschs und der Diskussion über die großen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen, technologischen und politischen Fragen, die sich der Menschheit stellen. Im Unterschied zur Konferenz von Davos sollen diese Themen allerdings nicht aus der Perspektive der Finanzwelt betrachtet werden, sondern unter dem Blickwinkel der Bürger in allen Ländern der Welt. Auch beim Weltsozialforum werden Intellektuelle und Kulturschaffende vertreten sein, nur werden sie hier keine Nebenrollen spielen, sondern sich inhaltlich beteiligen. Die Volksvertreter dürfen den Zusammenschluss der weltweit zunehmenden Gegenbewegungen in Augenschein nehmen und begreifen, dass sich etwas tut. Und die Minister und Regierungschefs, die bislang nur in Davos angetreten sind, können sich bei dieser Gelegenheit von der Existenz anderer Kraftfelder im Rahmen der Weltöffentlichkeit überzeugen.

Es ist kein Zufall, dass das erste Weltsozialforum in Porto Alegre, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul stattfinden wird. Die Stadt hat Formen der Bürgerbeteiligung eingeführt, die nach den Wahlen von 1998 auch im ganzen Bundesstaat Geltung erlangten und in vielen anderen Ländern als Beispiele direkter Demokratie aufmerksam verfolgt werden. Solche Initiativen sind es, die auf unspektakuläre Weise vorführen, wie eine andere Welt aussehen könnte.3 Das Sozialforum bietet die Chance, über weitere Ansätze dieser Art etwas zu erfahren und sie aufzugreifen, im nationalen und internationalen Rahmen. Le Monde diplomatique wird in Porto Alegre natürlich vertreten sein und von der Konferenz berichten.

I. R.

Fußnoten: 1 Siehe Ignacio Ramonet, „Davos“, Le Monde diplomatique, März 1996. Über die Vorgänge hinter den Kulissen bei der Tagung des Weltwirtschaftsforums von 1998 hat der amerikanische Journalist Lewis Lapham eine schonungslose Reportage veröffentlicht: „Die Agonie des Mammon: die Herrscher des Geldes tagen in Davos und erklären sich die Welt“, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 1999. 2 Das Weltsozialforum soll jedes Jahr zeitgleich mit der Konferenz in Davos stattfinden. Mit der Durchführung der Konferenz ist ein Organisationskomitee betraut, in dem alle großen Vereinigungen und Gewerkschaften Brasiliens vertreten sind. Außerdem gibt es ein internationales Unterstützerkomitee. Netzadressen: www.forumsocialmundial.org.br und in Frankreich attacint@attac.org. 3 Siehe Manière de voir Nr. 41 „Un autre monde est possible“ (September/Oktober 1998) und Manière de voir Nr. 52 „Penser le XXIe siècle“ (Juli/August 2000).

Le Monde diplomatique vom 11.08.2000, von I. R.