11.08.2000

Schanghai – Chinas globale Stadt

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Schanghai – Chinas globale Stadt

EINST eine Kolonialenklave, in den Dreißigerjahren die fünftgrößte Stadt der Welt mit einem riesigen Hafen, war Schanghai in den Jahren der Mao-Ära (1949-1976) ins Abseits geraten. Seit China wieder am Weltwirtschaftsgeschehen teilhat, will seine politische Führung die Megalopolis aus ihrem Dornröschenschlaf aufwecken und in eine „Global City“ verwandeln, die mit den amerikanischen Pazifik-Metropolen mithalten kann. Für eine so spektakuläre Entwicklung nimmt man im Namen der Zukunft soziale Ungleichheit billigend in Kauf.

Von PHILIP S. GOLUB *

Stolz flattert die rote Fahne über den Gebäuden zu beiden Seiten des Huangpu. Vor dem Hintergrund der eleganten Bauten des so genannten Bundviertels1 aus den Dreißigerjahren weist ein bronzener Mao mit dem Arm in die Zukunft, als wolle er die neu gewonnene Souveränität und den Aufschwung Chinas nach einem Jahrhundert der Erniedrigungen durch westliche und asiatische Großmächte (1839-1945) unterstreichen. In diesem Laboratorium der chinesischen Modernisierung sind vom Kommunismus nichts als vieldeutige Zeichen übrig geblieben, in denen sich nationale Idee und revolutionärer Schwung vermengen. Ausdruck des auftrumpfenden Nationalismus eines Landes von kontinentalen Dimensionen, das sich unaufhaltsam und unwiderruflich Zutritt zur globalen Ökonomie und in die internationale Politik verschafft.

Anfang der Neunzigerjahre beschlossen Deng Xiaoping und seine Nachfolger nach langem Zögern2 , aus Schanghai die erste „globale Stadt“ Chinas zu machen. Man wollte eines der Nervenzentren des internationalen Systems errichten, wo sich Leitungsfunktionen konzentrieren, wo Waren- und Geldströme reguliert werden und wo dem Weltmarkt der Takt vorgegeben wird.3 Präsident Jiang Zemin und Ministerpräsident Zhu Rongji sind seither bestrebt, in Schanghai „postindustrielles“ Know-how und Dienstleistungen zu konzentrieren, und dazu die Hochtechnologie, das „hyperqualifizierte“ Humankapital und das Finanzkapital, das für die Umgestaltung der Stadt zur chinesischen Weltwirtschaftszentrale sorgen soll. Nur wenn das gelingt, kann die Metropole mit Tokio, vor allem aber mit Los Angeles und New York konkurrieren. Diese beiden Städte sind für die Chinesen Horizont und Inbegriff der Zukunft. Man misst sich nicht mehr an Europa mit seinen zersplitterten Energien, auch nicht am japanischen Nachbarn. Was zählt, ist allein der amerikanische Gigantismus.

Das erklärt die architektonische Imitationswut und das Wetteifern um das Machtsymbol des höchsten Wolkenkratzers: Indem man die Formen des ersehnten Objekts nachbildet, glaubt man sich dessen Kräfte anzueignen. In Pudong, einem Stadtviertel am Ostufer des Huangpo, das nach dem Willen von Premierminister Zhu Rongji ein Manhattan des Ostens werden soll, errichtet der Staat eigens eine Quartz-City. Die Skyline beherrscht zum einen der berühmte Fernsehturm, ein kitschiges, metallic-rosafarbenes Raumschiff, das aus einem amerikanischen Science-Fiction-Comic stammen könnte, zum anderen das Jinmao-Hochhaus, der höchste Wolkenkratzer Asiens (Baukosten: 540 Millionen US-Dollar). In dem eleganten grauen Gebäude, das eine fast bedrohliche Kälte ausstrahlt, sind mehrere Banken und natürlich ein Luxushotel untergebracht.

In der aktuellen dynamischen Gesamtsituation ist die chinesische Megacity, deren Internationalität und Prosperität ihresgleichen sucht, zum Symbol der Wiedergeburt des bevölkerungsreichsten Landes der Welt geworden, aber auch seines Strebens nach Reichtum und seines Traums von Größe. Nachdem Schanghai fast vierzig Jahre lang von der Zentralgewalt mit ihrem instinktiven Misstrauen gegen die kosmopolitischen Küstenstädte zu einem Schattendasein verdammt war, ist die Stadt heute zum Schaufenster für die von oben betriebene Politik der Öffnung und zu einer privilegierten Zone gesellschaftlichen Experimentierens geworden. Schanghai verkörpert heute die erstrebte und imaginierte Zukunft des modernen China. Als Symbol dieses Symbols steht ein riesiges vergoldetes Modell der Stadt in der Eingangshalle des Museums für Städtebau, das vor kurzem im Park des Volkes eröffnet wurde. Der Bau erinnert auf sonderbare Weise an einen Altar, der den Göttern des Mammon und der Macht geweiht ist. Aber zugleich denkt man unweigerlich auch an das New Yorker Rockefeller Center.

Von der Architektur der Vergangenheit blieb dabei nicht viel übrig: ein paar der lilongs, jener traditionellen Plätze und Gässchen, die über kurz oder lang auch noch verschwinden werden; oder das ehemalige französische Viertel mit seinem antiquierten Kolonialcharme, wo sich heute die neue Bourgeoisie und die chinesischen Remigranten aus dem Westen niederlassen. Es gibt auch noch vereinzelte Inseln der Tradition wie die Yu-Gärten, aber sie wirken in dieser Megacity bereits wie Fremdkörper.

Enklaven wie diese machen die radikalen Veränderungen nur noch spürbarer. In den neuen Vierteln fühlt man sich wie in Caracas, Houston, Los Angeles oder La Défense – wie überall und nirgends. Die Erinnerung verliert sich in einem Meer aus Beton, Glas und Stahl. „Wenn ganze Stadtviertel für Stadtautobahnen und Wolkenkratzer platt gemacht werden, werden die Spuren im Gedächtnis weitaus nachhaltiger und effizienter getilgt als von allen politischen Kampagnen der Mao-Ära.“4

Die Verlierer hausen neben der Fabrik

IM Herzen der Stadt ist der Bund zur Konsumhochburg geworden – der massenhafte Kommerz löst den Kult der Massen ab. An der Hauptverkehrsader Nanjinglu steht ein Riesenkaufhaus neben dem anderen. In Pudong, unweit vom Jinmao-Hochhaus, saugt der Supermarkt Carrefour von morgens bis abends einen dichten, nahezu erschreckenden Strom von Konsumenten auf.

Schanghai blickt nach vorn. Nostalgie und Fragen der Ästhetik stellen sich hier nicht mehr. Erwacht aus ihrer langen Lethargie, setzt die Stadt Energien frei und bietet ökonomische und soziale Aufstiegschancen. Die große Masse der Schanghaier würde in puncto Stadtplanung zweifellos Le Corbusier zustimmen, der nichts als Lug und Trug in den guten alten Zeiten sah. Und in der Tat gab es an den heruntergekommenen Wohnungen und den jetzt abgerissenen Elendsvierteln nicht viel Schönes oder Erinnerungswürdiges. Auch jener Greis schaut nicht gern zurück, obwohl er angesichts des Chaos eher verblüfft als nostalgisch bemerkt: „Ich finde mich hier nicht mehr zurecht, aber das ist nur gut so.“ Die Tage der Baudenkmäler, anhand derer sich die alte Geschichte der Stadt nacherzählen ließ, sind gezählt. Und die neue Geschichte, die es hier zu erzählen gibt, handelt von Beton und einer himmelhoch aufragenden Skyline.

Hätte man es anders machen können? Zheng Zuang, Historiker an der Akademie für Sozialwissenschaften von Schanghai und Stadtplanungsexperte, ist hin und her gerissen und verweist auf den Preis, den die Entwicklung gefordert hat: „Jedes Haus, jede Straßenecke war erfüllt von Geschichte. Der Verlust der Erinnerung wiegt natürlich schwer. Gleichzeitig herrschte ein dringender Bedarf an Wohnraum – man war einfach gezwungen, Bestehendes niederzureißen.“ Aus diesem Grunde wurden heruntergekommene Stadtviertel planiert und eine neue Infrastruktur errichtet. Statt das Alte zu restaurieren, entschied man sich für den Neuaufbau. Man brauchte menschenwürdigen Wohnraum für die fast 14 Millionen Einwohner, von denen die Hälfte Arbeiter sind. Rechnet man die Wanderarbeiter aus der ländlichen Umgebung hinzu, die seit Ende der Achtzigerjahre in die Stadt strömen, so beherbergt Schanghai heute knapp 17 Millionen Menschen.5

Funktionell gesehen lässt sich der Fortschritt nicht leugnen. Jeder anerkannte Einwohner Schanghais verfügt heute über mehr Wohnraum – durchschnittlich über neun Quadratmeter im Vergleich zu sechs vor zwanzig Jahren – sowie über Trinkwasser und elementaren Komfort.

Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen einer Urbanisierung zur Wohnraumbeschaffung, wie sie, wenn auch mit bescheidenen Mitteln, zwischen 1950 und 1990 durchgeführt wurde, und der seit den Achtzigerjahren im Zeichen der Liberalisierung betriebenen Entwicklung. In der ersten Phase baute der Staat am Hangpu, nicht allzu weit vom Stadtzentrum, und in den Vororten riesige Komplexe mit Sozialwohnungen – immer gleich neben den Fabriken. Diese ganz in grau errichteten Siedlungen mit dem euphemistischen Namen „neue Dörfer“ haben die Wohnsituation deutlich verbessert.

Danach brach ein wahrer Bauboom aus. Im Spekulationsfieber wurden Bürogebäude und glitzernde Türme errichtet, die heute halb leer stehen. Aus dem Reich der Notwendigkeit ging es unmittelbar in die Welt des Luxus und der Statussymbole. Nicht ästhetische Aspekte stehen hier im Vordergrund. Dass die Wolkenkratzer schöner aussehen als die riesigen Sozialbauten der Vorstädte liegt auf der Hand. Hier geht es um die soziale Dimension.

Der plötzliche Einbruch des Marktes und seiner alles beherrschenden Logik gaben der Stadtentwicklung eine andere Richtung. Die Privatisierung des Immobiliensektors und der Rückgang der öffentlichen Bautätigkeit haben zu „einer Ungleichverteilung von Besitz geführt und die Kluft zwischen arm und reich vertieft“6 . In der Stadt der Zukunft hat man Hunderttausende, ja Millionen Menschen aus dem Stadtzentrum ausgesiedelt. Damit kehrt Schanghai zu einer brutalen Spaltung der Gesellschaft zurück, die an die Kolonialzeit erinnert: auf der einen Seite die Neureichen, die im postindustriellen und im Dienstleistungssektor das große Geld verdienen, auf der anderen Seite die Arbeiterklassen.

Tatsächlich kann man von mehreren Arbeiterklassen sprechen: Da sind zum einen jene, die von den Vorteilen der Beschäftigung in staatlichen Unternehmen profitieren (soziale Sicherheit, Pensionen etc.), zum anderen die ständig wachsende Klasse der neuen Arbeitslosen, die entweder vom Privatsektor „freigesetzt“ wurden oder gerade „auf eine Anstellung warten“ (die so genannten xiagang, die in der Umstrukturierungsphase von den staatlichen Unternehmen entlassen wurden); und drittens die Klasse der zahllosen ländlichen Wanderarbeiter, die, angezogen von der allgemeinen Goldgräberstimmung, ihrem Elend zu entkommen suchen und sich in die Städte aufmachen. Sie stellen innerhalb der sozialen Schichtung, die sich derzeit herausbildet, das neue Subproletariat.

Um China in den Globalisierungsprozess einzubinden und von der enormen Zahl von Arbeitskräften zu profitieren, hat der Reformstaat den Arbeitsmarkt liberalisiert. Zu diesem Zweck hat er das unter Mao eingeführte Passsystem des huku, das die Menschen an ihren Wohnort gebunden hatte, gelockert und den Zuzug von Landbewohnern in Regionen gefördert, in denen Exportgüter produziert werden und die Bauindustrie floriert.

In der zweiten Phase soll die Umstrukturierung der öffentlichen Unternehmen die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes vorantreiben. Lu Ming, Ökonomieprofessor an der Universität Fudan, betont, durch die Liberalisierung des Marktes strebe die Regierung an, „den Arbeitsmarkt tatsächlich nach und nach zu deregulieren“, wobei sie ständig zwischen „ökonomischer Effizienz und sozialer Stabilität“ abzuwägen habe. In seinen Augen müsste man noch weiter deregulieren und „die Lohnkosten im öffentlichen Sektor senken“.

Vor dem Bahnhof finden sich täglich Tausende von Landflüchtigen ein, in der Hoffnung, dass die Anwerber von Bauunternehmen ihnen eine Arbeit anbieten. Jüngsten Schätzungen zufolge sind es drei Millionen Menschen in Schanghai, die so über die Runden zu kommen versuchen, die „Illegalen“ nicht eingerechnet. Man erkennt sie an ihren Gesichtszügen, an ihrer Art zu schauen, ihrer Kleidung und Sprache. Männer, Frauen und Kinder, zumeist aus den angrenzenden Provinzen (Jiangsu, Anhui etc.), mitunter aber auch aus ferneren Gegenden, schließen sich in Großfamilien oder ethnischen Verbänden zusammen, um das Geld für die Mietwohnung aufzubringen. Die gilt als unabdingbare Voraussetzung für eine befristete Aufenthaltsgenehmigung.

Die Frauen verdienen ihr Geld als Straßenverkäuferinnen, die Kinder betteln und versuchen Blumen oder irgendwelchen Krimskrams loszuwerden. Wenn die Männer Arbeit finden, so meist im Baugewerbe – einer von Großunternehmen aus Taiwan und Hongkong beherrschten Branche. Sie genießen keinerlei Beschäftigungsschutz und leben von umgerechnet 70 Mark im Monat in der Provinz Guangdong. In Schanghai verdienen sie mehr als doppelt so viel. Sie errichten die Wolkenkratzer, bauen die Straßen, verrichten die schwersten Arbeiten. Unter grellem Scheinwerferlicht arbeiten sie nachts auf der Baustelle, ein paar Schritte entfernt von den schicken Bars und Privatclubs der Innenstadt.

Von den Schanghaiern verachtet, von den Behörden kraft eines neuen Systems der befristeten Aufenthaltsgenehmigung streng überwacht und von Fabrik- und Bezirkskomitees scharf kontrolliert, leben diese Arbeitsmigranten neben den „legalen“ Bewohnern – nicht mit ihnen. Ein Sperrgürtel trennt diese Hilfsarbeiter von den Menschen, für die sie die Stadt der Zukunft errichten.

Zwischen 1988 und 1995 hat der Staat die Lebensmittelsubventionen eingestellt und die Wohnbeihilfen auf ungerechte Weise umverteilt. 1997 erhielten lediglich 44 Prozent der registrierten Arbeitslosen eine – minimale – Unterstützung, durchschnittlich 49 Yuan, etwa ein Zehntel des Durchschnittsgehaltes. In Schanghai, wo die Gehälter und Beihilfen höher liegen, beziehen die xiagang zwar 300 Yuang im Monat, doch selbst damit führen sie ein Leben, das Lichtjahre entfernt ist vom schamlosen Luxus der Bourgeoisie. In der Huaihai-Xi-Straße haben Baulöwen soeben einen zehnstöckigen Privatclub mit Diskothek errichtet. Die Mitgliedschaft kostet jährlich 2 000 Dollar. Das sind 16 600 Yuan – so viel wie vier Jahre Arbeitslosenunterstützung oder zwei bis drei Jahresgehälter eines Gymnasiallehrers.

Und was mag die Zukunft bringen? Was erwartet die Arbeitsmigranten, wenn der Aufbau der neuen Stadt abgeschlossen ist? Werden sie wieder an den Rand der Gesellschaft zurückgedrängt, oder werden sie zusammen mit all den anderen die Vorstädte, die Dritte Welt vor der eigenen Haustür, bevölkern?

Sie werden kaum in das gewinnträchtige Gewebe einer Stadt integriert werden können, deren Politik darauf angelegt ist, die traditionellen Industrien in die ärmeren Provinzen auszulagern und aus ganz China Ingenieure, Akademiker und „Symbolproduzenten“ anzulocken. Die Stadtverwaltung wolle, so einer unserer Gesprächspartner, „so rasch wie möglich ein Niveau und einen Lebensstil erreichen, die es mit den Megacitys in den Industriestaaten aufnehmen können.“ Einstweilen entledigt sich der Staat seiner sozialen Aufgaben, wie es auch anderswo geschieht: Indem er „die Sorge um die Armen den Armen überlässt.“7

dt. Andrea Marenzeller

*  Journalist und Dozent am Institut für europäische Studien an der Université Paris-VIII.

Fußnoten: 1 Handelsviertel von Schanghai, das in den Dreißigerjahren errichtet wurde und sich am westlichen Ufer des Huangpu-Flusses erstreckt. 2 Der chinesische Staatsrat verkündete bereits 1986 einen „Plan für die Metropole Schanghai“ zur Umgestaltung der Stadt in eine „moderne sozialistische Stadt mit prosperierender Wirtschaft und fortschrittlicher Gesellschaft“. Doch wurde dieser Plan erst Anfang der Neunzigerjahre tatsächlich in Angriff genommen. 3 Vgl. Saskia Sassen, „Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities“, Frankfurt (Campus) 1996. 4 Christian Henriot und Zheng Zuan, „Atlas de Shanghai, Espaces et représentations de 1848 à nos jours“, Paris (CNRS éditions) 1999, S. 11. 5 Vgl. Jean-Louis Rocca, „China: Die Abwicklung des Sozialismus ohne soziales Netz“, Le Monde diplomatique, Februar 1999. 6 Vgl. „Policies for Poverty Reduction in China“, Entwicklungsprogramm der UNO und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), 1999. 7 So die treffende Aussage einer Wissenschaftlerin bei der ILO, die anonym bleiben wollte.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2000, von PHILIP S. GOLUB