11.08.2000

Eine freie Stimme in der arabischen Welt

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Eine freie Stimme in der arabischen Welt

OPPORTUNISMUS und Unterwürfigkeit prägen die Medien in den arabischen Ländern mehr als irgendwo anders auf der Welt. Die meisten großen Sender werden – mehr oder weniger direkt – von den politischen Machthabern kontrolliert, die ihnen eine unerbittliche Zensur auferlegen. Doch es gibt eine Ausnahme: Der noch junge Sender al-Jazira in Katar sendet rund um die Uhr via Satellit wichtige, gut recherchierte Informationen, wagt einen freien Ton und erspart sich Respektbekundungen gegenüber den Mächtigen – mit bahnbrechendem Erfolg.

Von DAVID HIRST *

Dienstagabend, Punkt fünf nach neun (Greenwich Meantime): Eine riesige und rasch anwachsende Anzahl arabischer Zuschauer sitzt in Europa, in Nord- und Südamerika, aber vor allem in der arabischen Welt selbst vor den Fernsehschirmen und verfolgt die Sendung mit dem Titel „Gegenrichtung“. Die arabische Version von „Brennpunkt“ ist das populärste Programm des panarabischen Satellitensenders al-Jazira. Der bietet seinem Publikum unzensierte Nachrichten und die freiesten Kommentare, die jemals in ihrer eigenen Sprache zu hören waren.

Mit diesem einfachen Rezept hat al-Jazira die politisch eingehegte und beaufsichtigte Rundfunk- und Fernsehszene des arabischen Raumes revolutioniert. Und damit dazu beigetragen, das Regime der Regierungen über die Herzen und Köpfe ihrer Untertanen zu erschüttern, das diese mittels der von ihnen beherrschten Massenmedien aufrechterhalten wollen.

Moderiert wird die Sendung von Faisal al-Kasim. Der Spross einer kinderreichen Bauernfamilie aus der syrischen Provinz Dschebel Arab war schon immer von den Medien fasziniert. Heute hat der 39-Jährige einen Kultstatus erlangt, den er sich nicht hätte träumen lassen, als er im Alter von 14 Jahren erstmals Radio Damaskus besuchen durfte. Und wahrscheinlich auch später nicht, als er sieben Jahre lang für den arabischen Dienst des BBC-Hörfunks arbeitete, der in der Zeit vor der Gründung von al-Jazira in der arabischen Welt wohl die meistgehörte und zuverlässigste Quelle für Nachrichten und Meinungen gewesen ist.

Vor fünf Jahren vollzog sich in Doha, der Hauptstadt von Katar, eine unblutige Palastrevolution.1 Als Scheich Hamad bin Chalifa al-Thani seinen Vater stürzte, bekam der Rest der Welt kaum etwas davon mit. Schließlich ist Katar mit seiner einheimischen Bevölkerung von rund 100 000 Menschen das kleinste arabische Land und Doha die vielleicht ödeste Hauptstadt auf dieser Welt. Aber dann begann der 43-jährige neue Machthaber recht bald, die politische Szene aufzumischen. Er brachte eine „Demokratisierung von ganz oben“ in Gang und errichtete einen panarabischen Fernseh-Satellitensender.

Das war allerdings nichts ganz Neues in der arabischen Welt von heute, die mit ihrer Stimmenvielfalt einem modernen Turmbau zu Babel gleicht. Jede arabische Regierung muss sich heute einen eigenen panarabischen Kanal zulegen, jenseits der zahllosen – fast immer nichts sagenden und überflüssigen – lokalen Medien, die von ihr kontrolliert und manipuliert werden. Dominiert wird diese neue PR- und Kommunikationskultur von Saudi-Arabien. Die saudische königliche Familie und ihre Geschäftskumpane geben Milliarden Dollar für gigantische, an westlichen Vorbildern orientierte „Offshore“-Sender aus, wie den Londoner Sender MBC oder Orbit und ART, die in Rom stationiert sind.

Damit gilt auch für die arabische Welt das Prinzip des „offenen Himmels“, und tatsächlich gibt es für das neue Medium – technologisch gesehen – keine Grenzen. Nur was die ausgestrahlten Inhalte betrifft, hat sich sehr wenig geändert: dieselbe alte Propaganda, dieselben Nachrichtensendungen mit braven, oft unterwürfigen Verlautbarungen über das Tun von Präsidenten, Monarchen oder Emiren. Kasim spricht von einem „Begrüßungs- und Verabschiedungsjournalismus“, der darin bestehe, dass „die Leute aufgezählt werden, die der Landesfürst im Berichterstattungszeitraum empfangen und wieder verabschiedet hat“.

Ein paar Sender haben inzwischen mehr Spielraum für seriöse politische, soziale oder ökonomische Themen, aber nirgends kommen sie auch nur in die Nähe der Standards, die in demokratischen Gesellschaften als selbstverständlich gelten. Die Programme bestehen überwiegend aus eher schlichten Unterhaltungssendungen: endlose ägyptische Seifenopern, synchronisierte ausländische Filme, Quiz- und Gewinnspiele, Talkshows und Revuen mit Tanz, Gesang und einer kleinen Prise Sex. Das ganze Programm scheint darauf angelegt zu sein, das arabische Publikum vom Nachdenken über politische Themen abzuhalten. Und obwohl bekanntermaßen innerhalb der „arabischen Familie“ viel Streit und Zwietracht zwischen den einzelnen Staaten herrscht, achtet man an der Medienfront weitgehend auf die Einhaltung der „Charta der arabischen Ehre“, also jener 1965 von der Arabischen Liga erlassenen Verfügung, die vor allem die damals zwar notorisch korrupte, aber zugleich aufmüpfige libanesische Presse zum Schweigen bringen sollte.

Etwas völlig Neues war die Entscheidung des Herrschers von Katar, dass die neue Fernsehstation unabhängig sein sollte, obwohl sie zu Beginn von der Regierung finanziert wurde. „Wir haben keine Armee und keine Panzer“, meinte ein junger Katari, „wir haben nur al-Jazira.“ Aber mit dem Sender schaffte es der fast unbekannte Kleinstaat im hintersten Winkel der Golfregion, die ganze arabische Welt zu erobern – und zwar mit dem Wort, und nicht mit dem Schwert. Diese Leistung wird von kaum 300 Angestellten erbracht, die sich in einem Gebäude drängen, das wie eine etwas bessere Nissenhütte in der Wüste steht. „So eine Streichholzschachtel – und von hier aus machen die den ganzen Ärger?“, staunte der ägyptische Präsident Mubarak, als er einmal unangemeldet bei al-Jazira vorbeischaute.

Den größten Anteil am Triumph dieses David hat ironischerweise der Goliath der arabischen Medienlandschaft: die saudische Monarchie. Der „große Bruder“ der Golfstaaten hatte über seinen Orbit-Kanal zunächst den neu gegründeten arabischen Dienst des BBC-Fernsehens finanziert. Als aber die BBC 1996 darauf bestand, einen kritischen Film über die saudische Monarchie zu senden, kündigten die Saudis den Vertrag. Kasim und weitere 19 arbeitslos gewordene Mitarbeiter ließen sich durch die guten, aber keineswegs extravaganten Gehälter und das Versprechen voller Pressefreiheit nach Katar locken. Das Versprechen wurde – zur Verwunderung der meisten Mitarbeiter – weitgehend gehalten. Die Redaktionspolitik von al-Jazira war so lax, dass Kasim fast keine Anweisungen für seine Programminhalte bekam. „Ich kann hier tatsächlich Themen aufgreifen, von denen ich während meiner BBC-Zeit nicht im Traum angenommen hätte, dass ich sie bringen könnte.“

Live-Sendungen unterlaufen die Zensur

UM den Kern der ehemaligen BBC-Mitarbeiter bildete sich ein Team, in dem fast jedes arabische Land repräsentiert ist. Heute sendet al-Jazira seine Programme rund um die Uhr. Der Sender hat sich einen Markt erschlossen, auf dem neben den unvermeidlichen Trivialsendungen auch präzise und ernsthafte Informationen gefragt sind. „Normalerweise geht man ja davon aus, dass Teenager und Hausfrauen nicht auf so komplizierte Sachen stehen“, meint Kasim. „Aber ich weiß aus den Briefen, die ich bekomme, dass das bei uns durchaus der Fall ist.“ Mit seinem Qualitätskonzept hat der Sender seine Konkurrenten allesamt in die Tasche gesteckt. Eine Umfrage ermittelte unlängst als schärfsten Konkurrenten – allerdings mit großem Abstand – die saudische MBC und dahinter bizarrerweise die von London aus arbeitende ANN, die im Besitz von Rifaat Assad ist, dem abtrünnigen Bruder des verstorbenen syrischen Präsidenten. Aber an al-Jazira reicht kein anderer Sender heran, auch nicht der Gigant des ägyptischen Staatsfernsehens.

Englisch sprechende Araber, die früher CNN eingeschaltet haben, verfügen heute über ein genauso gutes arabisches Medium, das ihre Probleme mit einem tieferen Verständnis und mit einer Leidenschaft und Detailkenntnis behandelt, die keine nichtarabische Institution je erreichen könnte. Die Einschaltquote ist sprunghaft in die Höhe gegangen. In Jordanien begann am Morgen nach einem besonders spannenden Programm ein wahrer Run auf Satellitenschüsseln. „Normalerweise bringen wir die Nachrichten als Erste“, meint Chefredakteur Salih Nam, „und fast immer sind wir die Ersten, die Analysen und Einschätzungen von wichtigen Fachleuten bekommen.“

Ein einmaliger Erfolg für al-Jazira war die Berichterstattung über die Bombardierung von Bagdad durch die britische und US-amerikanische Luftwaffe im Dezember 1998. Der Dauerrenner ist jedoch das aktuelle Nachrichtenprogramm. Im Unterschied zu anderen arabischen Sendern werden die Nachrichten bei al-Jazira als Live-Sendung ausgestrahlt, peinliche Fragen können also nicht herausgeschnitten werden. „Ich habe das vom anderen Ende angepackt“, erklärt Kasim, „weil ich das Gefühl hatte, es ist an der Zeit, auch oppositionellen Meinungen Gehör zu verschaffen. Die sind in den letzten fünfzig Jahren in der arabischen Welt praktisch mundtot gemacht worden.“ Damit gab es für die unendlich vielen Oppositionsgruppen auf einmal eine prominente Tribüne, die im ganzen arabischen Raum beachtet wurde. Kein Thema ist tabu – nicht einmal die Frage nach der Legitimität der Regime. Und selbst der Islam kommt nicht ganz ungeschoren davon.

In einem berühmt gewordenen Rededuell zum Thema Polygamie brachte die jordanische Feministin Tujan Faisal den Ägypter Safinaz Kazem, einen vom Marxismus zum Islamismus konvertierten Schriftsteller, so sehr in Rage, dass er mitten in der Diskussion aus dem Studio stürmte. Dasselbe tat der säkularistische Politiker Reda Malek, ein ehemaliger algerischer Ministerpräsident, als er von einem Islamisten attackiert wurde. Innerhalb der arabischen Welt ist Kasim – der außerhalb so gut wie unbekannt ist – inzwischen so prominent wie manch ein arabisches Staatsoberhaupt. Wenn er ein Land besucht, wird er in der Regel von den Leuten auf der Straße belagert wie ein Filmstar. Während seiner Sendungen sind die Straßen der arabischen Städte oft wie leer gefegt, wie zum Beispiel in seinem Heimatland Syrien an jenem Abend, als in seiner Sendung darüber debattiert wurde, ob Präsident Assad wohl „die Sache der Palästinenser im Stich lässt“.

Mit der Kairoer „Stimme der Araber“, die auf dem Höhepunkt von Nassers Popularität die ganze arabische Welt erreichte, lässt sich al-Jazira weder stilistisch noch inhaltlich vergleichen. Aber manche Leute glauben, dass seit Nassers Propagandastimme kein anderer Sender einflussreicher gewesen ist. Seine Berichte über die britisch-amerikanischen Bombenangriffe auf Bagdad haben vermutlich die syrischen Studenten im Dezember 1998 dazu gebracht, in die US-Botschaft von Damaskus einzudringen, und wohl auch das syrische Regime zu dem weisen Entschluss veranlasst, ihnen nicht entgegenzutreten. Wie man hört, sollen prowestliche arabische Führer bereits bei Präsident Clinton angerufen und ihn gewarnt haben: Wenn das so weitergehe, könnte es in den arabischen Ländern demnächst zu „Straßenaufständen“ kommen.

Das mag auch der Grund sein, warum der viel geschmähte Saddam Hussein als ungefähr einziger arabischer Führer bereit ist, die Angriffe von al-Jazira ohne große Proteste hinzunehmen – offenbar in der Annahme, dass ihm einfühlsame Berichte über das Elend seines Volkes mehr nützen, als ihm die heftigen Attacken auf seine Person schaden können. Andere Herrscher, allen voran Tunesiens Präsident Ben Ali, beschweren sich regelmäßig bei ihrem neureichen Kollegen in Katar. Der katarische Außenminister hat schon an die 400 offizielle Protestschreiben entgegengenommen. Die syrische Regierung streut den Verdacht, al-Jazira stehe in Diensten „des zionistischen Feindes“. In den Augen der Kuwaitis ist der Sender dagegen ein Instrument des Irak. Und Prinz Nayif, der saudische Innenminister, hält seine Berichte zwar für „ausgezeichnet und präzise“, fügt jedoch hinzu: „Als Ableger der BBC serviert er uns Gift auf einem goldenen Teller.“ Jordanien und Kuwait haben die örtlichen Büros von al-Jazira geschlossen. Algerien drehte während eines kritischen Beitrags den Strom ab. Saudi-Arabien setzte dem einzigen saudischen Mitarbeiter so lange zu, bis er aus der Redaktion ausschied. Saudische Unternehmen wurden – wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg – unter Druck gesetzt, dem Sender keine Werbeaufträge zu geben. Und die Arabische Liga schließt al-Jazira bei ihren Sitzungen von der Berichterstattung aus.

Freilich reagieren nicht nur die Regierungen so empfindlich. Wenn al-Jazira wieder einmal den Islam „beleidigt“ hat, hagelt es in der ganzen Region wochenlang lautstarke Proteste der islamischen Geistlichen.

Auch die Presse, einschließlich „oppositioneller Zeitungen“, reitet vehemente Attacken. Das gilt vor allem für Länder wie Ägypten, wo eine relative Pressefreiheit herrscht. Die führende ägyptische Wochenzeitung Akhbar al-Jaum startete sogar eine Kampagne gegen Kasims Bruder, der als Sänger in Ägypten lebt und arbeitet. Man wollte seine Ausweisung erreichen, und ein jordanischer Kolumnist hat wörtlich gefordert: „Diesem Mann sollte man die Zunge herausschneiden.“

Bislang hat das kleine Scheichtum Katar den Attacken aus dem arabischen Lager standgehalten. „Scheich Hamad lässt sich eben nicht gerne einschüchtern“, meint einer seiner Beamten. Das Außenministerium leitet sämtliche Beschwerden an al-Jazir weiter. Muhammad Jasim, der Geschäftsführer des Senders, meint trocken: „Wir antworten denen: Wenn Sie glauben, wir hätten etwas Falsches gebracht, haben Sie stets das Recht auf eine Gegendarstellung.“ Wie weit al-Jazira mit seiner Provokation der arabischen Regierungen, insbesondere gegenüber Saudi-Arabien, noch gehen kann, bleibt abzuwarten. Vor der historisch schon immer dominanten Macht, die im Umgang mit ihrem winzigen Nachbarstaat auch vor subversiven Methoden nicht zurückschreckt, hat Katar am meisten Angst.

Trotzdem sind die Grenzen der Berichterstattung in aller Regel weiter gesteckt als bei den konkurrierenden Sendern. Diese haben zwei Methoden, um sich zu wehren: Sie können auf noch mehr poppige und triviale Sendungen setzen. Nur hilft das offenbar nicht viel und lässt die Heuchelei, als die viele Araber die strengen islamischen Praktiken der Saudis ansehen, erst recht als schizophren erscheinen. Der mit saudischen Geldern finanzierte Sender MBC zieht demnächst, um seine enormen Kosten zu begrenzen, nach Dubai um. Warum er sich nicht in Saudi-Arabien selbst niederlässt, erklärt ein gemäßigt islamistischer Moderator so: „Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Wenn die saudische Geistlichkeit auf einem einheimischen Kanal halbnackte Frauen sehen würde, wie sie der saudische Satellitenkanal Orbit präsentiert, würden sie durchdrehen. Solange die Softpornos von jenseits der Grenze kommen, bleibt wenigstens der Schein gewahrt.“

Die zweite Methode der Konkurrenz heißt: Kopieren. Talkshows mit Titeln wie „Duell“ oder „Offen gesagt“ schießen wie Pilze aus dem Boden. „Sie imitieren sogar die Form meines Tisches“, sagt Kasim, „aber um inhaltlich gleichzuziehen, müssen sie sich noch ganz schön anstrengen. Nach meiner festen Überzeugung besteht das Haupthindernis für den Fortschritt in der arabischen Welt im Fehlen einer freien Presse. In unserer Gesellschaft ist der Dreck schon viel zu lange unter den Teppich gekehrt worden. Aber ich bin sicher, dass das nicht mehr lange so weitergeht.“ Für Kasim ist durch al-Jazira immerhin ein Silberstreif am Horizont erkennbar: „Eines Tages wird wohl eine freie Presse der arabischen Welt zu wirklich demokratischen Verhältnissen verhelfen.“

Aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Journalist in Beirut.

Fußnote: 1 Vgl. Françoise Sellier, „Katar nach allen Seiten offen“, Le Monde diplomatique, November 1997.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2000, von DAVID HIRST