11.08.2000

Niedliche Mutanten

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Niedliche Mutanten

Von IGNACIO RAMONET

WER kennt Pokémon nicht? Das Gameboy-Spiel von Nintendo hat die Welt im Flug erobert. Begleitet von Zeichentrick-filmen, Sammelkarten und dem üblichen Arsenal an Merchandising-Artikeln, begeistert Pokémon die Kinder und Jugendlichen auf allen fünf Kontinenten.

Das aus „pocket“ und „monster“ zusammengezogene Wort bezeichnet eine Art transgener Elfen, Kobolde des Biotech-Zeitalters, „Geschöpfe, die im Gras, im Gestrüpp, in Wäldern, Höhlen und Seen leben“1 . Es gibt 150 verschiedene Pokémon-Arten mit unterschiedlichen genetischen Merkmalen. Manche sind sehr selten, andere schwer zu fangen.

Das Ziel des Spiels besteht nämlich darin, möglichst viele Pokémons zu „schnappen“, sie zu zähmen und für Kämpfe gegen andere Pokémons zu trainieren. Wenn dieses ganze Programm nach Plan abgewickelt ist, werden sie dann eine genetische Mutation durchlaufen, ihr Äußeres verändern, sich verwandeln und – die Darwinsche Evolutionstheorie lässt grüßen – neue Fähigkeiten und Kräfte entwickeln.

Dass die „niedlichen Mutanten“ unsere Kinder faszinieren, kann nicht verwundern, leben wir doch in einer Zeit der biotechnologischen Revolution, des erfolgreichen Klonens von Lebewesen und der Invasion gentechnisch veränderter Organismen.

Die Technik der Erbgutmanipulation macht rasante Fortschritte. Gleichzeitig verbreitet sich diffuses Unbehagen angesichts einer Entwicklung, die das Klonen von Lebewesen, die Erzeugung transgener Tiere, die Sequenzierung des menschlichen Genoms, die Gentherapie, die Patentierfähigkeit des Lebens, die genetische Früherkennung von Erbkrankheiten und den Einsatz von Gentests zur Normalität erhebt.2

Erinnern wir uns: In den Sechziger- und Siebzigerjahren erklärten amerikanische Forscher, die zentrale philosophische Frage laute längst nicht mehr: „Was ist der Mensch?“, sondern nur noch: „Welche Art von Mensch wollen wir herstellen?“

Professor Marvin Minsky, einer der Väter der Computerwissenschaft, stellte unlängst folgende Prognose: „Im Jahr 2035 wird das elektronische Äquivalent des menschlichen Gehirns dank der Nanotechnologie vielleicht kleiner sein als eine Fingerkuppe. Das bedeutet, dass man in seinem Schädel beliebig viel Platz haben wird, um Add-Ins oder zusätzlichen Speicher zu implantieren. So werden die Menschen die Möglichkeit haben, nach und nach immer mehr zu lernen und ihr Repertoire durch neue Wahrnehmungstypen, neue Arten der Reflexion, neue Denk- und Vorstellungsweisen zu ergänzen.“3

Der amerikanische Theoretiker Francis Fukuyama behauptet sogar, dass wir „in zwei Generationen mit den Mitteln der Biotechnologie realisieren können, woran alle Sozialtechniker gescheitert sind. Die Geschichte der Menschheit wird dann endgültig an ihr Ende kommen, weil wir die Menschen als solche abgeschafft haben werden. Eine neue Geschichte wird dann beginnen, eine Geschichte jenseits des Menschen.“4

SEITDEM im Februar 1997 das Schaf „Dolly“ erfolgreich geklont wurde, wissen wir, dass das Klonen von Menschen nur eine Frage des unbefangenen Griffs zum Reagenzglas ist. Längst hat die Wissenschaft den Zukunftsroman eingeholt, denn anders als in Huxleys „Schöner Neuer Welt“ kamen die Erschaffer von Dolly ohne Befruchtung aus. Sie nahmen den Zellkern eines erwachsenen Schafs und pflanzten ihn in eine entkernte Eizelle von Dollys Mutter ein.

Seither hat man in Hawai Mäuse geklont, in Neuseeland und in Japan Schafe, in den Vereinigten Staaten und in Kanada Ziegen und so weiter und so fort. Kaum ein Jahr nach Dollys Geburt meinte das renommierte britische Wissenschaftsmagazin The Lancet, die Erzeugung geklonter Menschen sei ungeachtet aller moralischen Bedenken „unvermeidlich“, und die Mediziner seien gut beraten, dies „schon jetzt zu akzeptieren“.

Als dann die rund 3 Milliarden auf den 23 Chromosomen unseres Erbguts aufgereihten Basenpaare am 26. Juni 2000 restlos entschlüsselt waren, kündeten die Medien weltweit den Beginn eines neuen Zeitalters. Nun wird man endlich alle krankheitsverdächtigen Gene herausfiltern können. Der potentielle Nutzen für die Menschheit erscheint unermesslich. Kaum hat man das für eine Erbkrankheit verantwortliche Gen dingfest gemacht, steht der Entwicklung geeigneter Behandlungs- und Heilungsmethoden nichts mehr im Wege.

Doch die Risiken dieser Entdeckung und die möglichen Fehlentwicklungen sind noch längst nicht hinreichend ausgelotet. Die Gentechnik versetzt den Menschen in die Lage, das Tier- und Pflanzenreich wie nie zuvor seinem Domestizierungswillen zu unterwerfen: „eine moderne Version der Versklavung, der Inbeschlagnahme sämtlicher Naturressourcen nach dem Vorbild der Kolonialisierung“5 .

Die Patentierung von Genen läuft auf die Privatisierung eines Gemeinguts der Menschheit hinaus. Und der Verkauf der Entdeckung an die Pharma-Industrie – die sie zum alleinigen Nutzen weniger Privilegierter ausschlachten würde – birgt die Gefahr, dass dieser wissenschaftliche Fortschritt allerersten Ranges zu einer neuen Quelle der Ungleichheit wird.6

Überdies wird mit der Gentechnik eine Eugenik neuen Typs denkbar, an deren Ende so etwas wie ein transhumanes Wesen stehen könnte. Das Phantasma des „perfekten Kinds“, das dank Selektion mit einem tadellosen genetischen Code ausgestattet ist, lebt damit wieder auf.

Noch wagen wir kaum, uns die Perspektive klar vor Augen zu führen. Doch allmählich beschleicht uns die unsagbare Angst, auch wir Menschen könnten unter massivem Einsatz harter Biotechnologie fabrikmäßig hergestellt werden und zu mehr oder weniger menschlichen oder transhumanen Pokémons mutieren. Wird sich unsere Welt bald mit GVMs bevölkern, mit gentechnisch veränderten Menschen?

Fußnoten: 1 Vgl. http://themen01.exit.de/soaps/member/pokemoniaslexi/Links.htm. 2 Vgl. Transversales Science Culture, Jan/Feb 1999. 3 Le Temps (Genf), 24. November 1999. 4 Le Monde, 17. Juni 1999. 5 Jean-Yves Nau, „Brevets industriels pour matériau humain?“, Le Monde, 22. Juli 2000. 6 Vgl. The Economist, 1. Juli 2000.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2000, von IGNACIO RAMONET