15.09.2000

„Rapido“ – der schnelle Weg in die Verblödung

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„Rapido“ – der schnelle Weg in die Verblödung

Von BERNARD STIEGLER *

WÄHREND die Doping-Praktiken im Sport immer mehr Empörung auslösen, übersieht man gern, was sich „La Française des jeux“ – Sponsor einer der umstrittenen französischen Radsportmannschaften – jüngst ausgedacht hat: eine neue Lotterie namens „Rapido“, für die der Staat inzwischen elektronische Lottoterminals eingerichtet hat. „Alle fünf Minuten eine Ziehung“, lautet die Werbebotschaft. Und: „Gewinnchancen eins zu fünfeinhalb“ – wer will da widerstehen. Eine wahre Geschichte über die neuesten technischen Errungenschaften und wie sie zur allgemeinen Verblödung beitragen.

Wer „Rapido“ spielt, wird keineswegs hinters Licht geführt: Dass die Gewinnchancen bei dieser vergleichsweise primitiven Variante des Lotto genau eins zu fünfeinhalb stehen, erfährt jeder Teilnehmer gleich zu Beginn. Wer will, kann sich also ausrechnen, dass die Wahrscheinlichkeit zu verlieren 5,5-mal so hoch ist wie die zu gewinnen. Irgendwie scheint das ganz seriös. Aber würden wir einen Heroin- oder Crack-Dealer als seriös bezeichnen, bloß weil er seine Kunden – die rechtlich als seine „Opfer“ gelten – darauf hinweist, dass die Substanzen, die er ihnen verkauft, zwangsläufig zu schweren Abhängigkeiten und folglich zum Verlust ihres Urteilsvermögens führen werden?

Eine ähnliche Abhängigkeit erzeugen Stoffe, die man Gifte oder toxische Substanzen nennt. Muss man da „Rapido“ nicht als ein gesellschaftliches Gift betrachten, das viel schlimmere Auswirkungen hat als die Verabreichung von Anabolika an Sportler und Bodybuilder? Der Mischkonzern La Française des jeux, der noch eine Reihe weiterer „toxischer Angebote“ wie Morpion, Millionaire, Black Jack, Astro, Loto Foot und Super Loto anbietet, hat 1999 einen Umsatz von 37,8 Milliarden Franc erzielt.1 Zum Vergleich: Die französische Loterie nationale war 1977 gerade auf ein Umsatzvolumen von 2,8 Milliarden Franc gekommen. Von den „Rapido“-Einnahmen gehen 10,6 Milliarden an den Staat, der davon wiederum 1,05 Milliarden für die Sportförderung ausgibt. Und der Rest? Was geschieht mit den 27,2 Milliarden, die nicht in die Staatskasse wandern? Wie viel von dieser Summe wird an die Spieler ausgeschüttet?

Wer jeden Monat nur drei Stunden seiner Lebenszeit darauf verschwendet, an einem jener öffentlichen Orte, die auch staatliche Einnahmequellen sind, Rapido zu spielen, und dabei alle fünf Minuten 10 Franc einsetzt – also 360 Franc im Monat – wird nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung 115,20 Franc verlieren. Das sind 38,40 Franc pro Stunde, das 1,2fache des staatlich festgelegten Mindeststundenlohns in Frankreich. Oder anders gerechnet: Er verspielt 2,12 Prozent seines Monatslohns, vorausgesetzt, dass er tatsächlich eine volle Stelle hat und den Mindestlohn erhält. Wer jede Woche drei Stunden spielt – und genau das sollen nach dem Willen der Lotteriebetreiber wie des Finanzamts möglichst viele Menschen tun – hat nach dieser Rechnung 8,9 Prozent seines Monatslohns verloren. 5 000 solcher Lotterieterminals will La Française des jeux einrichten. Sie befinden sich in aller Regel in kleinen Bars mit Tabakladen, wo die Ergebnisse der neusten Ziehungen über den Bildschirm ausgestrahlt werden. Da es sich um elektronische Annahmestellen handelt, kann jeder Spieler, ob er sich nun in Paris, Brest, Nizza oder auch in den französischen Überseegebieten befindet, ganz sicher sein, dass sein Lottoschein (für die Ziehung A werden 8 Ziffern zwischen 1 und 20 angekreuzt, für die Ziehung B eine Ziffer zwischen 1 und 4) innerhalb weniger Sekunden in der Informationszentrale der Gesellschaft in Vitrolles registriert wird. Die meisten Spieler sind Menschen, bei denen nicht viel an Steuern zu holen ist und die der Staat durch die Lotterie zu einer „freiwilligen“ Abgabe bewegt. Von „freiem Willen“ kann man hier allerdings nur sprechen, wenn man eine sehr begrenzte Auffassung von individueller Freiheit und kollektiver Willensbildung hat. Aber besteht der freie Wille nicht gerade darin, sich der Unterwerfung unter deterministische Mechanismen und den blinden Zufall zu verweigern? Kein freier Wille ohne die Freiheit, und die gibt es nur, wenn der Kausalität noch ein Spielraum verbleibt.

Und was den kollektiven Willen angeht, der ja dem Gesetz nach eine Grundvoraussetzung des „Gesellschaftsvertrags“ darstellt, so beruht er doch genau darauf, dass man solche Praktiken der Unterwerfung unterbindet. Einer derart reduzierten Auffassung von freiem Willen, die sich einfach darauf beruft, dass die Menschen sich „bewusst“ und „aus freien Stücken“ auf die soziale Ausplünderung einlassen, entspricht ein ebenso reduzierter Begriff von „Zukunft“: In dieser berechenbaren und durchkalkulierten Zukunft will der Staat für jeden, der beim Rapido gewinnt (und den besagten sozialen Niedergang nur am vollständigsten verkörpert), von allen übrigen Spielern enorme Summen kassieren, nachdem er sie erniedrigt und zu seinen Opfern gemacht hat.

Diese „Zukunft“ läuft auf ein groß angelegtes Täuschungsmanöver hinaus, sie bedeutet nicht nur den allgemeinen moralischen Niedergang, sondern den Verfall der Staatsidee selbst – schlimmer noch: Sie zersetzt die Idee des Gemeinwohls und würde in letzter Konsequenz die Abkehr von jeglicher Zukunft, sprich die totale Kapitulation bewirken.

Fette Profite aus falschem Bewusstsein

RAPIDO ist das Massenbetäubungsmittel des 21. Jahrhunderts, so wie es der Absinth im 19. Jahrhundert war, der damals auch unter dem Namen „Totschläger“ firmierte.2 Den reduzierten Vorstellungen von „Zukunft“ und „freiem Willen“ entspricht eine Schwundstufe der Freiheitsidee, die der Staat durch seine Praktiken ins Bewusstsein der Menschen einträufelt – was um so schändlicher und verlogener ist, weil diese Praktiken ganz offensichtlich eine „Nachfrage“ in den betroffenen sozialen Schichten befriedigen. Und: rein prinzipiell sind die Menschen natürlich „frei“, keiner muss in die aufgestellte Falle tappen.

Rapido und ähnliche Glücksspiele sind der Inbegriff all jener widerlichen Tricks, mit denen „modern“ denkende französische Unternehmer in den Achtzigerjahren angeblich die „Steuerlast“ senken wollten. Bei den Stammgästen der Kneipen in den Innenstädten und Vororten, die auf diese Weise mit der „Informationsgesellschaft“ vernetzt werden, dürften solche Spiele – zumal wenn auch noch Alkohol oder gar Crack im Spiel sind – verheerende Spuren in den Köpfen und in den Lebensläufen hinterlassen. Weil solche Verwüstungen sich jedoch langsam und unauffällig ausbreiten, keine drastischen Wirkungen zeigen und in gewisser Weise als angenehm empfunden werden, sind sie für moderne demokratische Gesellschaften, in denen die Menschenrechte beachtet werden, durchaus tolerierbar.

Spiele wie Rapido gehören zu den besonders einträglichen Geschäftszweigen, nicht nur für den Staat, sondern auch für die so genannten Programmanbieter, also insbesondere für das Fernsehen. Die Bekanntgabe der Lottozahlen zum Beispiel ist allwöchentlich ein entscheidender Augenblick, den die Massen gebannt verfolgen – und mit ihnen die Werbebranche.3 Durch die fortschreitende Verschränkung von Datenverarbeitung, Telekommunikation und audiovisueller Technik wird auch Rapido zweifellos weiterentwickelt werden und bald, ähnlich wie andere, längst eingeführte Spiele, zahlreiche „Ableger“ im Fernsehen bekommen. Und lange wird es nicht dauern, bis auch die vielfältigen Möglichkeiten des Internet und der Zukunftskalkulation ausgeschöpft werden – mit anderen Worten: bis die Massenverdummung weitere Blüten treibt.

Als „verdummt“ kann ein Bewusstsein gelten, das ganz auf eine unmittelbare Zukunft ausgerichtet ist, wie sie sich etwa in der Formel „Gewinnchance eins zu fünfeinhalb“ ausdrückt. Diese Definition, die keineswegs alle Aspekte des Begriffs abdeckt, stellt kein abschätziges Werturteil über die Verdummten dar: Als Opfer, manipuliert, ihres freien Willens beraubt, verdienen sie Schutz, und überdies kann niemand sich vollständig der Verdummung entziehen. Wir leben in einer Zeit der Bauernfängerei, Rapido ist dafür nur ein besonders drastisches Beispiel.

Tatsächlich stellt Rapido, als eine neue „Dienstleistung der Informationsgesellschaft“, lediglich einen weiteren Aspekt jener Hyperindustrialisierung der Kultur dar, zu deren Folgen auch die durch die allgemeine Digitalisierung ermöglichte Verschmelzung von Technologien gehört. Diese kulturelle Hyperindustrialisierung bedeutet die Weiterführung und Verstärkung jener Phänomene, die Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ unter dem Begriff der Kulturindustrie gefasst haben.4 Durch die Integration von Fernseher und Computer wird der Fernsehapparat der Zukunft ein Instrument der „Tele-Aktion“ sein, und die Kulturindustrie wird zum Kernbereich der Industrie überhaupt wie auch der so genannten Informationsgesellschaft werden (siehe den Artikel von Mattelart auf S. 19).

Diese „Informationsgesellschaft“ wird, ob wir es wollen oder nicht, die bevorstehende Entwicklung prägen, in ihr liegt unsere Zukunft. Nur: Entwicklung ist nicht identisch mit Zukunft, es sei denn, wir wollten uns in ein unabänderliches Schicksal ergeben. Die Verwechslung von künftiger Entwicklung und Zukunft trägt entscheidend zu jener Verzerrung des Zukunftsbegriffs bei, die Modernität mit Abwendung und Preisgabe gleichsetzt – was zugleich auch einer der Gründe für die gegenwärtige politische Orientierungslosigkeit ist. Aber wer versucht, sich im Namen der Zukunft dem Fortschreiten der Entwicklung zu verweigern, sitzt einer Illusion auf, die kaum weniger schädliche Folgen zeitigt als das Unvermögen, beides auseinander zu halten. Eine solche Trotz- und Abwehrhaltung ist ebenso sinnlos wie gefährlich, nicht zuletzt weil der „Widerstand“ nie ausreichen wird. Es gilt nachzudenken, Vorschläge zu machen, sich erfinderisch zu zeigen und – zu allererst – Kritik zu üben, Kritik im ganz direkten Sinn des Wortes: Man muss klären, analysieren, verstehen und problematisieren.

Es wäre eine Kritik der Kultur- und Informationsindustrie vonnöten, deren Begrifflichkeit von einer „Ökologie des Geistes“ ausgeht. Ähnlich wie die industrielle Produktion von Gütern und Energie nach zwei Jahrhunderten der industriellen Revolutionen schließlich dazu geführt hat, dass Fragen der Ökologie zu einem Hauptproblem moderner Gesellschaften geworden sind, dürfte irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem aus der kulturellen Hyperindustrialisierung (mit ihren unerwünschten Schadstoffemissionen etwa in Form von „Rapido“) die Notwendigkeit einer „Ökologie des Geistes“ erwächst.

„Ökologie“ meint hier Fragen der Bewohnbarkeit der Welt, einer Welt des Geistes im Sinne dessen, was Paul Valéry in „Die Krise des Geistes“ darunter verstanden hat.5 Und zur Ökologie des Geistes gehört strenges Nachdenken über die Umweltbedingungen des Geistes. Denn es gibt eine Umwelt des Geistes, ein Lebensmilieu, das sich entwickelt und dessen Grundlagen technischer Natur sind: vom scharfgeschliffenen Feuerstein über das vom Heiligen Geist empfangene biblion bis hin zum Silizium der Computerchips. Der Geist braucht den Buchstaben – oder einen anderen Träger, ein Medium. Dieses Medium ist heute das System der Massenmedien. Mit Hilfe der Kommunikationstechnik ist es zum Instrument industrieller Tätigkeit geworden, deren Umrisse sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts abzeichneten und die sich im 20. Jahrhundert zur computergestützten Umsetzung des Geistes entwickelten, zum System der Informationstechnologien und seiner Software, zu Expertensystemen, Suchmaschinen, Netzen und Echtzeit-Programmen. Heute erleben wir die „Konvergenz“ dieser beiden Systeme: die Vereinigung von Massenmedien und Digitaltechnik.

Ökologie im Namen des Geistes

MNEMOTECHNIKEN im engeren Sinne gibt es seit dem Ende des Neolithikums. Damals entstanden auch die ersten Schriften. Von jenem Punkt in der Menschheitsgeschichte an, den der Ethnologe André Leroi-Gourhan als den Augenblick der Äußerung bezeichnet hat (und den er mit dem Auftauchen des Australopithecus gekommen sah) konnte etwas bis dahin Unmögliches geschehen: die Erhaltung und Sammlung individueller Erfahrungsspuren. Denn die Erinnerung an Ereignisse, die jeder einzelne Mensch in seinem Gedächtnis bewahrt, geht nicht ein in das genetische Erbe – sie stirbt mit dem Individuum. Aber die Gattung Mensch hat technische Erinnerungshilfen hervorgebracht, die es ermöglichten, Ereignisse festzuhalten und an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Und damit konnte Kultur entstehen.

Geist wiederum ist die Qualität, die es ermöglicht, dass die Einzelerfahrungen von Lebewesen nicht nur von Generation zu Generation tradiert, sondern von allen geteilt werden. Es geht also nicht nur um das Festhalten von Tatsachen oder Ereignissen, sondern um die Weitergabe ungelöster Probleme und offener Fragen, von Vorstellungen, die es zu verteidigen oder neu zu bewerten gilt – in der Mathematik wie in der Kunst, in der Metaphysik wie in der Politik, in der Technik wie in der Religion.

„Geist“ ist die Fähigkeit, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Es ist kein Zufall, dass man Gespenster und die Seelen der Toten als „Geister“ bezeichnet. Aber stets benötigt der Geist ein Medium, eine vermittelnde Instanz, die dafür sorgt, dass Erinnerung in anorganischer Materie gespeichert wird. Weil die Erinnerung flüchtig ist und uns immer wieder im Stich lässt, sind die Informations- und Kommunikationstechniken entstanden, die jedoch den menschlichen Geist selbst verändern – bis zu jener paradoxen Zuspitzung, die wir heute erleben: Die industrielle Verwertung der Erinnerung droht die Selbsterkenntnis zu zerstören.

Wer derzeit die ökonomische Entwicklung steuern will, muss nicht so sehr die Produktionsverfahren und ihre Kosten beherrschen, als vielmehr die Märkte der Zukunft im Griff haben. Wirtschaftlichen Erfolg werden vor allem die erzielen, die es verstehen, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen. Deshalb geht die Entwicklung in den Massenmedien dahin, die besonderen Qualitäten audiovisueller Erzeugnisse (und gerade ihren flüchtigen Charakter) so zu nutzen, dass es gelingt, die Aufmerksamkeit des Bewusstseins für eine bestimmte Zeit zu binden – darin besteht das verkäufliche Produkt. Die Singularität des Vorübergehenden (einer Melodie oder eines Films) ergibt sich daraus, dass es zusammen mit dem Bewusstseinsstrom abläuft, dessen Objekt es ist. Durch diese Koinzidenz, die Einbindung der Zeit des Objekts in die Zeit des Bewusstseins, kann dieses Bewusstsein seine Zeit innerhalb der Zeit der von den Massenmedien verbreiteten Objekte „verleben“. Auf diese Weise ist die Zeit im Bewusstseinsstrom der Menschen zum Rohstoff der Kommunikationsindustrie geworden.

Diese Industrien verkaufen nicht Programme, sondern Einschaltquoten, Zuschauermassen für die Werbeblöcke – ihre Programme verfolgen einzig den Zweck, die Aufmerksamkeit des Bewusstseins zu binden und dann zu vermarkten. Sehr viel kostet sie nicht auf diesem Markt, die Stunde Bewusstseinszeit. Nehmen wir an, ein landesweiter Sender erreicht zwischen 19.50 Uhr und 20.50 Uhr 15 Millionen Fernsehzuschauer und fährt in dieser Stunde Werbeeinnahmen von drei Millionen Franc ein, dann hat das einzelne menschliche Bewusstsein auf dem Markt der Einschaltquoten einen Wert von 20 Centimes pro Stunde.

Ist dieser Zugang zum Bewusstsein erst einmal hergestellt, lassen sich damit Verhaltensänderungen im großen Maßstab bewirken und bestimmte Lebensweisen durchsetzen. Wir haben es vor allem dem amerikanischen Spielfilm zu verdanken, dass sich weltweit der American way of life durchgesetzt hat. So entsteht ein ökologisches Problem, das vergleichbar ist mit der Gefahr der Zerstörung der Natur durch ihre industrielle Ausbeutung.

Denn die Industrialisierung der Bewusstseinszeit birgt die Gefahr der Zerstörung des Geistes, seiner Qualität als Erbe vergangener Generationen und seiner Offenheit gegenüber der Zukunft und den kommenden Generationen. Die „Ökologie des Geistes“ wirft allerdings auch unzählige Fragen auf. Wie bei der Ökologie im gängigen Sinne besteht auch hier immer die Möglichkeit, dass aus diesem Ansatz eine Gesinnungspolizei und ein Konzept der extremen Rechten hervorgeht.6 Der allgemeine ökologische Diskurs braucht deshalb eine philosophische Auseinandersetzung mit der technischen Wirklichkeit, die bislang noch aussteht.7 In „La technique et le temps“ wird deutlich gemacht, dass der Gegensatz von Mensch und Technik als überholt betrachtet werden muss.8

Wird die Digitaltechnik, die derzeit die Kulturindustrie revolutioniert, in einen umfassenden Prozess der Verdummung durch den Computer münden? Der Erfolg von Rapido lässt es befürchten. Und die Tatsache, dass leitende Angestellte von Unternehmen immer häufiger über Symptome von „Informationsüberflutung“ (cognitive overflow syndrome) durch die elektronischen Datennetze klagen, spricht ebenfalls Bände. Diesen Kopfarbeitern verdreht der ständige Informationsfluss derart den Kopf, dass sie offenbar, genau wie die Rapido-Spieler, immer weniger in der Lage sind, zu denken und Entscheidungen zu fällen. Am Ende können sie nicht mehr arbeiten, weil sie sich zunehmend überfordert und völlig benommen fühlen – oder eben verblödet.

dt. Edgar Peinelt

* Philosoph und Schriftsteller. Autor von u. a. „La technique et le temps“ (Bde. I u. II), Paris (Galilée) 1994, 1996. Zwei weitere Bände erscheinen in Kürze.

Fußnoten: 1 Siehe den Geschäftsbericht 1999 von La Française des jeux (www.francaise-des-jeux.fr). 2 Siehe den Roman von Emile Zola, „Der Totschläger“, München (Winkler) 1986. 3 Siehe Daniel Schneidermann, „Lotovisuel public“, Le Monde (Fernsehbeilage), 16. Juli 2000. 4 Siehe Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, „Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente“, Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch Verlag) 1994. 5 Siehe Paul Valéry, „Die Krise des Geistes: 3 Essays“, Hrsg. von Herbert Steiner, Wiesbaden (Insel) 1956. 6 Siehe Guillaume Sainteny, „Les habits verts de l'extrême droite“, Libération, 24. Februar 1999, sowie Hervé Kempf, „L'écologie, entre nature et société“, Le Monde, 24. Dezember 1998. 7 Einen Beitrag dazu leistet Régis Debray mit seiner Mediologie – aber soweit mir bekannt ist, hat er bislang ausgerechnet zur Frage des Unterschieds zwischen künftiger Entwicklung und Zukunft nicht theoretisch Stellung genommen. Siehe Régis Debray, „Qu'est-ce que la médiologie?“, Le Monde diplomatique, August 1999. 8 Siehe Bernard Stiegler, „La technique et le temps“ (Bde. I u. II), Paris (Galilée) 1994, 1996.

Le Monde diplomatique vom 15.09.2000, von BERNARD STIEGLER