Schach dem Stimmenkauf
Von CHICO WHITAKER *
IN Brasilien dürfte es bei den Kommunalwahlen am 1. Oktober Überraschungen geben. Seit dem 29. September letzten Jahres ist ein neues Wahlgesetz in Kraft, das Politiker von der Wahl ausschließt, die sich Wählerstimmen kaufen. Korruption durch Stimmenkauf war bislang ein durchaus probates Mittel im Wahlkampf. Eine Kampagne bemüht sich nun im ganzen Land, auch die Ärmsten der Armen von den Vorzügen der Nichtkäuflichkeit zu überzeugen – und hat nebenbei eine lebhafte Debatte über Sinn und Zweck demokratischer Prozeduren entfacht.
„Nutze jede Gelegenheit, die sich bietet“ – leicht ist man versucht zu glauben, mit diesen Worten sei die Lebenseinstellung eines Großteils der brasilianischen Bevölkerung beschrieben. Doch nachdem die Medien im Zuge der Demokratisierung die Machenschaften vieler Politiker ans Licht gezerrt haben, ging eine Welle der Empörung durchs Land – eine Empörung, die schon vor acht Jahren den Sturz des korrupten Staatspräsidenten Fernando Collor de Mello nach sich zog. Viele parlamentarische Untersuchungskommissionen wurden seither eingerichtet, und die Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft häuften sich. Auf verschiedenen Ebenen wurde versucht, das tatsächliche Ausmaß von organisiertem Verbrechen und Drogenhandel im Staate aufzudecken, über die nicht zuletzt korrupte Mitarbeiter in Legislative und Judikative ihre schützende Hand hielten.
Gegen die Manipulation demokratischer Wahlen durch Stimmenkauf war bislang noch niemand ernstlich vorgegangen. Da nicht wenige Politiker ihr Mandat dieser Praxis verdanken, kann das kaum verwundern. Und so kam ein diesbezügliches Reformvorhaben erst mit einiger Verzögerung in Gang. Tatsächlich ist der Kauf von Wählerstimmen in Brasilien wie in vielen anderen Staaten der Dritten Welt nichts Besonderes. Wo das politische Bewusstsein der meisten Bürger schwach ausgeprägt ist und demokratische Verfahren so grundlegend und systematisch verfälscht werden, bleibt die Demokratie zerbrechlich, kommt es immer wieder zu Verzerrungen der Wahlergebnisse. Dabei nährt sich die zynische Praxis aus dem perversen Fortbestand von extremer Armut und sozialem Elend: Menschen, die jederzeit bereit sind, ihre Stimmen gegen einen Teller Bohnen einzutauschen, sind als regelrechte „Reservearmee von Wählern“ zu bezeichnen.
Nun hat die Gesellschaft selbst reagiert. Die Verabschiedung des Gesetzes 9840/99 am 29. September 1999 ist ein bedeutsamer Erfolg, der den Endpunkt eines außergewöhnlichen Vorgangs in der Geschichte Brasiliens markiert.1 Erstmals kommt ein Instrument der direkten Bürgerbeteiligung zur Anwendung, das laut Verfassung von 1988 auch vorgesehen ist: das Volksbegehren im Bereich der Gesetzgebung. Der Gesetzesentwurf gegen den Wahlbetrug wurde dem Kongress in Form einer Petition vorgelegt, unterzeichnet von einer Million Wählern. Damit hatte 1 Prozent der Stimmberechtigten für das Bürgerbegehren votiert, der laut Verfassung vorgeschriebene Mindestanteil war erreicht.
Den Stein ins Rollen brachte 1997 eine Untersuchung der brasilianischen Bischofskonferenz. Die kirchliche Kommission für Gerechtigkeit und Frieden (CNDB) brachte im Rahmen ihrer Fastenzeitkampagne „Brüderlichkeit und Politik“ das Ausmaß ans Tageslicht, in dem noch bei den Wahlen 1996 Wählerstimmen gekauft wurden. Nach einer Reihe öffentlicher Anhörungen in mehreren Bundesstaaten, in deren Verlauf ergänzende Zeugenaussagen zusammengetragen wurden, begann man schließlich mit der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs und lancierte das Volksbegehren.
Eine Stimme hat keinen Preis, sondern Konsequenzen
EINE Million Unterschriften zu sammeln, das ist kein ganz einfaches Unterfangen. Insbesondere, da auch die Wahlausweisnummern der Unterzeichner angegeben werden mussten – wer steckt schon seinen Wahlausweis ein, wenn er das Haus verlässt. Die Unterschriftensammlung erforderte trotz der Beteiligung eines Netzwerks von über sechzig nichtstaatlichen Organisationen insgesamt fünfzehn Monate Arbeit.
Doch um die Initiative voranzubringen, hatte man sich ganz bewusst für diese offensichtlich schwierige Prozedur entschieden. Ihre geistigen Urheber versprachen sich allein von der Kampagne schon einen pädagogischen Nutzen. Denn die Praxis des Stimmenkaufs ist weithin akzeptiert, und viele Wähler sehen jedem neuen Wahlgang bereits in der Erwartung entgegen, den Kandidaten etwas aus der Tasche zu ziehen. Das Problem hat insofern eine gesellschaftlich-kulturelle Dimension. Die Unterschriftensammlung bot bereits die Gelegenheit für eine breite Diskussion über Sinn und Zweck einer demokratisch vollzogenen Stimmabgabe, getreu dem Slogan der Kampagne: „Eine Stimme hat keinen Preis, sondern Konsequenzen.“
Als der Gesetzentwurf dem Kongress schließlich vorgelegt wurde, durchlief er sehr schnell die verschiedenen Entscheidungsinstanzen, was sicher ohne das politische Gewicht von einer Million Unterschriften nicht der Fall gewesen wäre. Binnen fünfunddreißig Tagen debattierten Abgeordnetenhaus und Senat das Reformvorhaben, und fast unmittelbar nach seiner Verabschiedung wurde es von Staatspräsident Fernando Cardoso bestätigt – genau einen Tag vor dem Stichtag, der ihm bereits für die Wahlen im Herbst 2000 Gültigkeit verlieh.
Vermutlich waren sich nicht alle Parlamentsmitglieder über die Konsequenzen des Gesetzes bewusst, das sie da verabschiedeten. Aber es war ihnen auch schwer möglich, sich einem Gesetz zu verweigern, das lediglich zum Ziel hat, eine Straftat effizienter zu ahnden. Jeder Widerstand dagegen wäre einem Bekenntnis gleichgekommen, diese Straftat selbst begehen zu wollen.
Parlamentswahlen erfolgen in Brasilien nicht nach dem System der Listenwahl. Zunächst werden die Einzelkandidaten gewählt, die dann ihrerseits die Kandidaten ihrer Partei unterstützen. Über Stimmenkauf kann also durchaus von der Basis her das allgemeine Endergebnis stark beeinflusst werden.
Auch bisher galt der Stimmenkauf vor dem brasilianischen Gesetz als Straftat. Doch aufgrund der komplizierten Bestimmungen blieben die Maßnahmen der Justiz zumeist völlig ineffizient. Die ohnehin nur vereinzelten Verurteilungen wurden oft erst Jahre später ausgesprochen. Oftmals absolvierten diese korrupten Politiker dann schon ihre zweite erkaufte Amtszeit.
Das neue Gesetz stuft den Tatbestand, den Stimmberechtigten in Wahlkampfzeiten eine wie auch immer geartete Begünstigung oder Geld im Tausch gegen ihre Stimmen zukommen zu lassen oder auch nur anzubieten, nicht mehr bloß als Straftat ein, sondern ahndet ihn auch als Verstoß gegen das Wahlgesetz. Dieser zieht eine sofortige verwaltungsrechtliche Strafe nach sich, greift also viel schneller und führt zudem unverzüglich und automatisch zum Ausschluss von der Wahl beziehungsweise zum Entzug eines bereits erworbenen Mandats.
Das Gesetz beinhaltet einen weiteren innovativen Passus: Der Wahlausschuss kann auch die Kandidatur derjenigen annullieren, die den behördlichen Verwaltungsapparat zu Wahlkampfzwecken missbrauchen. Diese ebenfalls sehr gängige Praxis zog bislang lediglich eine Geldstrafe nach sich – Peanuts im Verhältnis zu den riesigen Gewinnen der Kandidaten. Darüber hinaus konnte der Kongress nach ein paar Jahren, also wenn die Strafen entlich verhängt werden sollten, immer noch mit einer Generalamnestie aushelfen. Gegen die jüngste Amnestie hat Staatspräsident Cardoso aufgrund des gesellschaftlichen Drucks sein Veto eingelegt. Das Parlament jedoch hat noch nicht entschieden, ob es seinem Veto folgen wird.
Nach dem neuen Wahlgesetz werden Kandidaten und Mandatsträger künftig automatisch aus dem Verkehr gezogen, so sie staatliche Behörden, Dienstfahrzeuge und Personal für ihren Wahlkampf missbrauchen. Diese Reform fällt bei den anstehenden Wahlen besonders ins Gewicht, da sie gerade auch die Wahl der Bürgermeister betrifft.
Allerdings ist es mit der bloßen Existenz eines neuen Gesetzes nicht getan. Damit die Wahlprüfer gegen straffällig gewordene Kandidaten einschreiten können, müssen entsprechende Anzeigen erstattet werden. Und es ist nicht selbstverständlich, dass Verstöße überhaupt als solche wahrgenommen und zur Anzeige gebracht werden. Den bevorstehenden Wahlprozess auf seine demokratische Korrektheit hin zu überprüfen und zu beobachten stellt eine weitere Herausforderung für die Kampagne dar, die mit ihrem Netzwerk bereits eine Million Unterschriften für den Kongress zusammengetragen hat. Die breite Bewegung verfolgt nun das Ziel, das Gesetz auch tatsächlich zur Anwendung zu bringen.
Auf der alljährlich im Frühjahr stattfindenden Bischofskonferenz verpflichtete sich der Klerus, die Kampagne zu unterstützen. An die knapp fünftausend Organisatoren und Aktivisten der Unterschriftensammlung wurden Aufrufe und Einladungen verschickt. Überall bildeten sich im Sommer 9840-Komitees, benannt nach der Aktennummer des Gesetzes. Die assoziierten Organisationen mobilisieren in ihren Medien, und auch die großen Zeitungen, Radio- und Fernsehsender beginnen darüber zu berichten.
Präzedenz-Urteile für die Demokratie
DIE Kommission für Gerechtigkeit und Frieden hat ein detailliertes kleines Handbuch über den Inhalt des Gesetzes und die zur Gründung von Komitees erforderlichen Schritte herausgegeben. In mehreren Bundesstaaten wird dieses Handbuch nun auf Anregung lokaler Aktivisten für den allgemeinen Gebrauch vereinfacht. Plakate und Autoaufkleber werden gedruckt. Durch intensive Bildungsarbeit sollen die zu erwartenden Widerstände in der Wählerschaft selbst überwunden werden. Viele werden das Verbot von Praktiken, aus denen sie einen unmittelbaren Nutzen ziehen, nicht unbedingt begrüßen.
Das Handbuch ist auch auf einer eigens für die laufende Kampagne geschaffenen Website im Internet abrufbar.2 Man findet dort Informationen über neue Initiativen, pädagogischen und juristischen Rat für die Komitees, Plakate und Publikationen, die nachgedruckt werden können. Die Website wird die Nachrichten über Regelverstöße, Anzeigen und die Urteile der Wahlausschüsse sammeln, auch für die kritischen Journalisten, die über ihren Bundesverband schon in Alarmbereitschaft versetzt wurden. Der Journalistenverband gehört zu den insgesamt sechzig Organisationen, die das Volksbegehren bereits unterstützten. Die brasilianische Anwaltskammer, ebenfalls an der Unterschriftensammlung beteiligt, hat das Handbuch an ihre regionalen und lokalen Sektionen weitergeleitet und die Empfehlung ausgegeben, den Komitees mit juristischem Rat zur Seite zu stehen.
Die katholische Universität Brasília hat zur Unterstützung der Komitees einen Internetzugang eingerichtet, auf dem ihre Wahlrechtsexperten befragt werden können.3 Sie sollen die juristischen Probleme ausräumen, die im Lauf der Aktion aufkommen werden.
Man rechnet damit, dass im Laufe des Wahlprozesses schon sehr frühzeitig einige Präzedenz-Urteile gefällt werden könnten. In manchen Bundesstaaten haben die Wahlausschüsse das Handbuch sogar an die zuständigen Richter versandt. Man hofft auf die abschreckende Wirkung früher Aburteilungen, damit Kandidaten, die außer der Verteilung von Geld und Vergünstigungen keinerlei politisches Programm anzubieten haben, von vornherein das Handwerk gelegt wird. Dies könnte den antidemokratischen Trend in Brasilien umkehren. Einen Trend, der um so gefährlicher für einen Staat werden kann, als er mit drastischer sozialer Ungleichheit und den daraus resultierenden Problemen zu kämpfen hat.
dt. Miriam Lang
* Geschäftsführender Vorsitzender der Brasilianischen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden. E-Mail: intercom@cidadanet.org.br.