Zauberkünstler in Sachen Diplomatie:Die Friedensstifter von Sant` Egidio
Von PHILIPPE LEYMARIE *
RUND 400 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben sich weltweit auf Konfliktvermeidung und -lösung spezialisiert. Die in den armen Stadtrandvierteln Roms entstandene Gemeinde Sant` Egidio ist jedoch eine der wenigen, die religiöses, karitatives und internationales Engagement miteinander verbinden, und sie hat mittlerweile mit ihrer „Paralleldiplomatie“ schon auf allen Kontinenten zur Lösung ethnischer und religiöser Konflikte beigetragen. Vom 24. bis 26. September organisiert Sant` Egidio ein internationales Friedensgebet, an dem mehrere hundert Menschen aus allen Religionen teilnehmen werden.
Rom, die Hauptstadt des Katholizismus, befindet sich nach wie vor im Taumel der Jahr-2000-Feierlichkeiten und scheint darüber vergessen zu wollen, dass sich gleichzeitig die Amtszeit des Papstes dem Ende zuneigt1 . Seit Jahresbeginn ziehen Scharen von Gläubigen durch die zum Jubiläum aufgemöbelte Ewige Stadt, um – je nach Berufsgruppe, sozialer Schicht und Herkunftsland – ihren Glauben in zahlreichen Versammlungen, Prozessionen, Homilien, Segnungen und Offenbarungen2 kundzutun. Die übliche sommerliche Touristeninvasion, aber auch die Aufsehen erregende Gay Pride, die Anfang Juli gegen den Willen des Vatikans in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung durchgeführt wurde, haben dazu beigetragen, der Altstadt einen globalen Anstrich zu verleihen.
Auf diesem provinziellen Boden, aber getragen von universellem Geist, entstand auf Initiative Andrea Riccardis die Gemeinde Sant` Egidio. Der junge Mann aus bürgerlichem Hause – sein Vater war Direktor einer Bank – interessierte sich trotz seines toleranten, den Christdemokraten fern stehenden familiären Hintergrunds mehr für das Evangelium und die Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils3 als für das Kapital. Die Hochgesänge der glühenden Achtundsechziger fand er „zu abstrakt“ oder „überholt“, aber mit einer Kirche, die er als „distanziert“ empfand, wollte er sich auch nicht abfinden.
Anstatt dem Rat der Maoisten zu folgen und in die Fabrik zu gehen, machte sich Riccardi mit seiner Vespa auf und besuchte die armen Vororte und Barackensiedlungen. „Die Erfahrung war traumatisierend“, meint er im Rückblick. „Als ich diese Vororte und das harte Leben dort näher kennen lernte, begriff ich, dass die Dritte Welt in Rom liegt. Es ist Betrug, wenn die Stadt ihre Armen nicht zeigt. In unseren Augen waren die Stadtrandviertel eine große Wüste, in der das Volk Gottes dazu bestimmt war, Seinen Ruf zu erhören und in das Gelobte Land zu ziehen. Zusammen mit den Frauen, die noch stärker von der Ausgrenzung betroffen sind, mit Arbeitern und arbeitslosen Jugendlichen begannen wir, freie, autonome christliche Gemeinden in den Vororten aufzubauen.“
Dreißig Jahre später zählt die Gemeinde rund 30 000 Mitglieder. Sie verteilt sich auf 25 Stützpunkte in Rom und ist außerdem in rund dreißig Ländern der Welt präsent, wo sich insgesamt 300 Basisgruppen zum Geist von Sant`Egidio bekennen. Durch die „Freundschaft mit den Armen“ – nach wie vor eine der Grundlagen dieser Gemeinde, die nach einem ehemaligen Kloster in Rom benannt ist, das ihr als Hauptsitz dient – lernte sie „besser zu begreifen, dass der Krieg die Mutter aller Armut ist“. Um zu verhindern, dass ihre humanitären Hilfsprojekte durch Kämpfe zerstört würden, übernahm Sant` Egidio in Mosambik, Guatemala, Algerien und im Balkan die Rolle eines „Förderers“ oder „Vermittlers“ in Bruderkriegen.
Die „aufgeklärten Diplomaten“ von Sant` Egidio, diese „Kreuzritter des Jahres 2000“, für die „alle Konflikte nach Rom führen“, diese „Diplomaten ohne Grenzen“, „Friedenserfinder“ oder „Botschafter ohne Rang“ haben zahlreiche Medien in ihren Bann gezogen4 und sich bei vielen Staatschefs, Kriegsherren und Politikern weltweit den Ruf von Zauberkünstlern erworben. „Es gibt auf dieser Welt Menschen, die beten, andere, die wohltätig sind, und wieder andere, die sich auf diplomatischer Ebene engagieren. Die gelungene Verbindung aus diesen drei Tätigkeiten ist einzigartig. Das hilft den Leuten, auf dem Boden der Realität zu bleiben, wenn sie sich internationaler Fragen annehmen“, urteilt Jean-Dominique Durand, Kulturberater der französischen Botschaft beim Heiligen Stuhl.5
Ein ehemaliges Karmeliterkloster auf dem Platz Sant` Egidio im einst einfachen Stadtteil Trastevere, der heute zum eher schicken Viertel aufgestiegen ist, dient ihnen als Hauptquartier. Sie genießen es, Besucher durch die Räume des Klosters, den Kapitelsaal, die Refektorien und Keller zu führen und zeigen auch die Karmeliterkirche gern, in der zu Weihnachten alljährlich ein Armenbankett veranstaltet wird.
Der hart erkämpfte Frieden für Mosambik
AM liebsten aber weisen sie auf den sympathischen kleinen, von Bananenstauden überschatteten Hof hin, in dem zahlreiche Versöhnungsgespräche stattfanden und wo sich in den letzten Jahren Laurent Kabila aus dem Kongo, Peter Kagame aus Ruanda, Yoweri Kaguta Museveni aus Uganda und Denis Sassou-Nguesso aus der Republik Kongo ebenso aufgehalten haben wie die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright und ihr französischer Amtskollege Hubert Védrine, aber auch der gemäßigte Kosovo-Albaner Ibrahim Rugova, der ehemalige Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow und noch viele mehr.
Ein anderer Ort, der ihren Stolz und, wie sie betonen, nach wie vor ihre Daseinsberechtigung ausmacht, ist die so genannte Mensa in der Via Dandolo, eine „Armenküche“, die tagtäglich 1 800 Gratisessen ausgibt. Hier können die Ausgegrenzten der italienischen Hauptstadt, die Obdachlosen und die nicht selten illegalen Einwanderer auch Kurse besuchen und Bücher ausleihen, sie erhalten Hilfe bei Behördengängen oder können ein Postfach einrichten.
Nicht weit entfernt von Sant` Egidio finden sich die Mitglieder der Gemeinde Abend für Abend in der Basilika Santa Maria in Trastevere zum gemeinsamen öffentlichen Gebet ein, das nach dem Vorbild der Christen im Orient häufig gesungen wird und an dem regelmäßig viele Gläubige teilnehmen. „Wir waren die Extremisten der Kirche – die ,außerkirchlichen‘ Kräfte, so ähnlich wie es außerparlamentarische Kräfte gibt“, erzählt Andrea Riccardi über die Anfänge der Gemeinde. „Wir glaubten, sobald wir echte Christen wären, würde die Welt verändert und die Kirche reformiert sein.“ Dabei ist es bis heute geblieben.
Ihre Aura verdanken die ehrenamtlichen Mitglieder von Sant` Egidio – alle üben neben ihrer religiösen Tätigkeit einen Beruf aus – vor allem ihrem diplomatischen Geschick. Zu ihrer Grundausstattung gehören ein Adressbüchlein und das im Lauf von fast dreißig Jahren sozialem Engagement angereicherte Know-how, aber auch eine ausgereifte Dialog- und Vermittlungstechnik, die es ihnen ermöglicht hat, in Mosambik ein „Wunder“ zu bewirken und an anderen Orten der Welt so manchen Teilerfolg zu verbuchen.
Die unterdessen hofierten Experten in Sachen Diplomatie verwehren sich dagegen, fix und fertige Rezepte vorzulegen. Was sie anbieten, ist vielmehr ein Know-how und eine Art von „Grammatik“ des Vorgehens.6 Zu allererst gilt es, die Schwächen der Gemeinde in eine Stärke umzumünzen: „Sant` Egidio kann weder eine Armee mobilisieren noch dicke Schecks unterzeichnen“, erklärt Mario Giro, ein Funktionär des Internationalen Bundes freier Gewerkschaften (IBFG), eine der Stützen des Teams in der Arbeit vor Ort. „Ihr einziges Interesse ist der Frieden, ihre einzigen Waffen sind die Ernsthaftigkeit, die Kultur der Freundschaft und das Vertrauen, das sie den Krieg führenden Parteien Dank ihrer im Lauf der Jahre erworbenen Sachkenntnis einflößen.“
Weiter geht es darum, die beteiligten Kräfte in einem ersten Schritt zumindest so weit zu bringen, dass sie zugeben, demselben Land anzugehören. Diese gegenseitige Anerkennung ist unerlässlich. Denn um ein Gespräch zu beginnen, muss es immer mindestens zwei Parteien geben. Im Übrigen kann die Isolation einzelne Gruppen, Parteien oder Personen in den Wahnsinn treiben und zu Kriegen führen oder diese verlängern, wie in Mosambik, wo sich der Nationale Widerstand Mosambiks (Renamo) von Alfonso Dhlakama in seinen ethnischen Stammrevieren verschanzte, immer häufiger Ausflüchte suchte und die Grenzen der Gräueltaten immer weiter hinausschob – ähnlich den Aufständischen von Liberia und Sierra Leone in jüngster Zeit.7 Um Menschen in die Beilegung eines politischen Konflikts einzubeziehen, die in den Augen der internationalen Gemeinschaft als Aussätzige gelten, musste eine gehörige Portion Mut aufgebracht werden.
Schwierig gestaltete sich auch die gegenseitige Anerkennung im Fall Algeriens, die schließlich in die „Plattform von Rom“ mündete. Denn zwischen den „Ausmerzern“, denen vorgeworfen wurde, „auf Seiten Frankreichs zu stehen“, und den als „Söhnen Irans und Afghanistans“ bezeichneten Islamisten, zwischen Traditionalisten und Modernen, zwischen Französisch und Arabisch sprechenden Menschen bestanden tief greifende Unterschiede in ihren Identitätsbezügen. Ebenso heikel war das Vorgehen im Fall von Burundi und Ruanda, wo die Hutu nicht mehr als vollwertige Bürger betrachtet werden, und auf dem Balkan, der die Last einer langen Geschichte trägt: Die Schlacht auf dem Amselfeld, mit der die Serben ihr Festhalten an der „unantastbaren“ Provinz Kosovo rechtfertigen, fand immerhin im Jahr 1386 statt.
Eine andere goldene Regel heißt Geduld aufbringen und Dauerhaftigkeit: „Eine Nichtregierungsorganisation hat doch Zeit“, erklärt Mario Giro. „Sie weiß, dass sie einen über Jahrzehnte entstandenen Konflikt nicht innerhalb weniger Tage lösen kann. Die offiziellen Diplomaten dagegen müssen unter dem Druck von Medien, Wahlen und öffentlicher Meinung Ergebnisse vorweisen – und engagieren sich folglich nur, wenn sie mit solchen rechnen können.“ Um in Mosambik zu einem Friedensvertrag zu kommen – das „Meisterwerk“ von Sant` Egidio –, waren elf Verhandlungsrunden vonnöten, die sich über 27 Monate hinzogen. „Die Zeitungen titelten: ‚Mosambik – die Verhandlungen treten auf der Stelle‘. Unterdessen spielte sich in den Restaurants von Trastevere einiges ab. Kein Detail, keiner der Beteiligten wurde vernachlässigt, und das ist entscheidend, wenn es darum geht, dass vor anstehenden Wahlen wirklich alle ihre Waffen niederlegen. In Angola flammte der Krieg dagegen drei Monate nach dem Abkommen von Bicesse wieder auf.“
Die Gemeinde ist überdies darauf bedacht, nicht isoliert zu handeln. Die offizielle Diplomatie soll auf keinen Fall umgangen werden. „Im Gegenteil: Sie muss einbezogen bleiben, damit sie das Interesse an einem gegebenen Fall nicht verliert. Das ist im Übrigen die einzige Möglichkeit, um Einfluss nehmen zu können“, kommentiert Mario Giro. Im Fall von Mosambik hatte sich die Gemeinde des moralischen Rückhalts und der finanziellen wie diplomatischen Unterstützung der italienischen Regierung versichert. Was den Kosovo betrifft, wurden vor dem Nato-Krieg, den die Gemeinde ablehnte, intensive Gespräche mit der Kontaktgruppe und der US-amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright geführt, die im ehemaligen Karmeliterkloster empfangen wurde.
Solche Synergieeffekte sind umso wichtiger, als sich die Friedensverhandler nicht damit begnügen, Dokumente auszuarbeiten und sie, wenn es denn gelingt, bis zur Unterzeichnung zu bringen. Schließlich ist der darauf folgende Prozess äußerst komplex und spricht Fragen der Entwicklung, der Demokratie und der Versöhnung an, ebenso wie Probleme mit der Deutung der jeweiligen Geschichte.
Die Gemeinde von Sant` Egidio stützt sich dazu auf ein Gerüst aus Garantien, Krediten und ähnlichen Vorkehrungen, in das nicht nur die „Peacemaker“, sondern auch die Staaten und die internationale Gemeinschaft einbezogen sein müssen. Don Matteo Zuppi, Pfarrer in Santa Maria del Trastevere und Verantwortlicher für afrikanische Fragen, saß in den vergangenen Monaten der Kommission „Frieden und Sicherheit, Umwandlung der Armee und Einstellung der Feindseligkeiten“ in Arusha (Tansania) vor, die den Rahmen für die Friedensverhandlungen in Burundi bot, die vom ehemaligen Präsidenten des Landes, Julius Nyerere, sowie von Nelson Mandela koordiniert wurden. Er misstraut dem Mythos, „dass eine NGO auf eigene Faust eine gewisse Ordnung herbeiführen könne“.
Dieses Arbeiten in Netzwerken gehört ebenfalls zu den Besonderheiten von Sant` Egidio. Alle Kanäle werden angezapft, alle Hebel in Bewegung gesetzt, alle Ressourcen der Zivilgesellschaft ausgeschöpft, selbst wenn „sich darin dann auch alles Mögliche findet“, wie der ebenfalls mit Afrikafragen betraute Mario Giro feststellt. Um in Mosambik den Frieden herbeizuführen, hatte die Gemeinde beispielsweise mehrmals Treffen zwischen dem Generalsekretär der italienischen KP, Enrico Berlinguer, und dem Erzbischof von Beira, Monsignore Jaime Gonçalvez organisiert, an denen Letzterer darlegte, wie in seiner Heimat die Führer der Befreiungsfront Mosambiks (Frelimo), die „natürlichen“ Freunde des KPI-Führers, katholische Seminare geschlossen und das Läuten der Kirchenglocken unterbunden haben. Drängt sich einem da nicht unweigerlich das Bild von Don Camillo und Peppone auf?
„Nach dem Erfolg in Mosambik haben sich viele Guerillas und Oppositionsbewegungen aus afrikanischen Ländern an uns gewandt“, erinnert sich Marco Impagliazatto, zuständig für die arabischen Länder bei Sant` Egidio. Aus seiner Sicht füllt Sant` Egidio ein Vakuum: „Italien spielt heute keine bedeutende außenpolitische Rolle mehr. Es gab eine Zeit, da war die KPI die bedeutendste kommunistische Partei in Europa, die italienischen Christdemokraten waren weltweit führend, die Regierung blickte auf die ehemaligen Kolonien im Mittelmeerraum und am Horn von Afrika, und der Vatikan ließ sich von einem reiselustigen Papst mitreißen und machte mit spektakulären Initiativen von sich reden.“
„Wir sind nicht nach Afrika gegangen, sondern Afrika ist zu uns nach Rom gekommen“, meint Andrea Riccardi. „Während achtzehn Jahren hat sich Sant` Egidio vor allem auf die Arbeit mit den Armen Roms konzentriert, insbesondere auf die Ausländer unter ihnen, die dringend unserer Hilfe bedurften, sich aber auch Sorgen über das Schicksal ihrer Eltern und Freunde im Herkunftsland machten. Heute gibt es in vierundzwanzig afrikanischen Ländern Gemeinden, die unsere Spiritualität teilen, in ihrem Handeln aber völlig frei sind. Von Sant` Egidio spricht man, als handle es sich um einen diplomatischen Apparat. Ich sehe die Gemeinde jedoch eher als eine Realität an der Basis, mit ihren vor Ort tätigen Männern und Frauen.“
Die Verwurzelung auf dem afrikanischen Kontinent erlaubt „eine intime Kenntnis der Krieg führenden Gesellschaften“, setzt Mario Giro hinzu. Und Mario Impagliazatto, der auch das Jubiläumsprogramm des öffentlichen Radio- und Fernsehsenders Rai leitet, ergänzt noch: „Wenn afrikanische Staatsmänner nach Rom kommen, stellen wir mittlerweile stärker als uns selbst die afrikanischen Gemeinden vor Ort in den Vordergrund – etwa jene zweitausend jungen Menschen, die sich zur Gemeinde von Mosambik bekennen, oder andere westafrikanische Gemeinden. Denn sie haben konkrete Ideen und Vorschläge für ihr Land.“ In Mosambik beteiligt sich die Gemeinde am Wiederaufbau des Landes und will bis Jahresende ein Krankenhaus für Tuberkulose- und Aids-Kranke eröffnen.
Indessen ist Sant` Egidio seit dem teilweisen Scheitern des Vermittlungsversuchs in Algerien mit der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) aneinander geraten. Dem „neuen Afrikanismus“, dem „Afrika den Afrikanern“ und anderen Slogans der neuen „political correctness“ auf dem Kontinent wird mit Misstrauen begegnet: „Einige dieser Länder des ‚neuen Afrika‘ sind eben noch in Kriege verwickelt, insbesondere im Kongo“, beteuert Matteo Zuppi. Wenn die Staatschefs dieser Länder aus einer linken Tradition kommen, dann haben sie meist jegliche ideologische Verankerung verloren. Sie haben Tabula rasa gemacht, konnten jedoch nichts an die Stelle der alten Ideologien setzen – ganz wie die neuen Führungskräfte in der ehemaligen Sowjetunion, denen man sagte: „Es gibt keinen Gott“, die aber auch ihre Sowjetmoral eingebüßt haben. Sie sind in gar keiner Kultur, sei sie besser oder schlechter, groß geworden und können diese Leere nur füllen, indem sie sich in Dogmatismus und blindem Nationalismus übertreffen, wie es beispielsweise in Exjugoslawien geschehen ist.
Die große Kunst der Relativierung
EIN Nelson Mandela ist ein Mann mit moralischen Grundsätzen“, meint Mario Giro. „Ganz anders Chissano, Kagame oder Afewerki8 , die bereit sind, im Affekt das Schicksal ihrer Völker aufs Spiel zu setzen. Der alte Houphouët9 hatte bei all seiner Gerissenheit noch gewisse Prinzipien. Seine Generation war gebildeter, und er überschüttete die Religion nicht mit Beleidigungen.“ Auch Matteo Zuppi beklagt, dass „sie im Grunde lieber Waffen kaufen, mit einem gewissen Zynismus das Elend hinnehmen und sich selbst wie wahnsinnig bereichern.“
Sant` Egidio bedauert diesen Mangel an politischer Bildung und das Fehlen einer echten afrikanischen Führungsschicht. Der französischen Afrikapolitik werden mittlerweile unerwartete Tugenden zugesprochen. Andrea Riccardi sieht sie als „ein großes, wenn auch zweifellos fragwürdiges Abenteuer, dem jedoch ein imperialer Gedanke, ein Plan, eine Erziehung und ein Kulturgemisch zugrunde lag. In Abidjan lebten die Burkiner Seite an Seite mit den Ivorern. Es war menschlicher als der gegenwärtige Globalisierungstrend, der angesichts der fehlenden politischen Kultur in einen gefährlichen Ethnizismus mündet.“
Können die christlichen Kirchen als Hoffnungsträger auf dem afrikanischen Kontinent gelten? Obwohl sie so ausgesprochen klerikal und institutionalisiert sind und vor allem dem sozialen Aufstieg dienen? „Wozu sollen die kulturelle Anpassung und die Afrikanisierung der Liturgie denn gut sein, wenn dabei die sozialen Aspekte vernachlässigt werden?“, fragt Mario Giro. Für ihn ist diese große Kraft zu wenig gelenkt, ihr fehlen die Visionen. Während der Papst im April und Mai 1994 in Rom erstmals eine Synode abhielt, an der die Afrikaner ohne eine von der römischen Kurie vorgegebene Linie über ethnische Fragen und Menschenrechte diskutieren konnten, fand in Ruanda ein Völkermord statt: „Unter Christen. Was für ein schreckliches Zeichen!“
Viele Mitglieder von Sant` Egidio sind auch misstrauisch gegenüber gewissen Nichtregierungsorganisationen, die nach den Regeln der Weltbank aufgebaut sind und vor allem internationale Kredite beschaffen sollen. Zudem dienen sie den reichen Ländern zunehmend als Vorwand, um sich aus ihren Verpflichtungen zu stehlen und stattdessen Feuerwehrübungen zu betreiben: Man macht viel Lärm, rettet ein paar Leben und zieht wieder ab. Die großen Nationen haben sich auf diese „Erfindung“ gestürzt, da sie ihnen ein besseres Image einbringt als die Entwicklungszusammenarbeit alten Stils. „Diese hat gewiss an Ansehen verloren, ist paternalistisch und hat zu großer Verschwendung und Korruption geführt. Sie war jedoch auf die Vorstellung einer langfristigen Partnerschaft gestützt“, bestätigt Mario Giro, für den die Erfahrungen in Albanien, im Kosovo, in Afghanistan, im Irak und im Sudan zudem Anlass zu Vorsicht geben: „Es stimmt, die Taliban sind verrückt. Doch was haben wir davon, wenn wir sie verteufeln? Überall werden Embargos verhängt, Maginot-Linien aufgezogen. Damit werden die Probleme der Menschen nicht gelöst, und man läuft nur Gefahr, neue Kriege anzubahnen.“
Wenn Sant` Egidio über ein Charisma verfügt, dann liegt das seiner Ansicht nach in der Kunst der Relativierung. „Heute kann niemand mit Patentlösungen aufwarten: Die Lösung liegt weder in der alten Realpolitik noch in der automatischen Anwendung des moralischen Gebots der Einmischung, das vielen als Vorwand für die Beendigung ihres Engagements dient. Kein Frieden ohne Gerechtigkeit, heißt ein bekannter Spruch. Es gibt aber auch keine Gerechtigkeit ohne Frieden. Es kommt darauf an, dass dieser Widerspruch, der heute die Regel ist, akzeptiert wird, dass man sich in die Probleme vertieft und sich die Zeit nimmt zu überzeugen. Anderenfalls droht Samuel Huntingtons ‚Clash of civilisations‘, nämlich der Kulturkampf mit dem Islam.“
In Sant` Egidio versagt man sich im Übrigen die Rolle des Friedensstifters oder professionellen Paralleldiplomaten und misstraut der Spezialisierung. Vier Fünftel der Tätigkeit in Rom ist den Armen und sozialen Fragen gewidmet: der Volksküche, dem Altersheim, der Hilfe für Aids-Kranke, der Unterstützung von körperlich und geistig Behinderten. Zwischen draußen und drinnen gibt es keine Mauer. Die Meinung von Freunden zählt in einzelnen Fragen genauso viel wie jene der Mitglieder. Alles beruht auf einem „Versammlungsgeist“ und der Bemühung um Konsens, auf der Harmonie des Leitungsrates, dessen Mitglieder in den Koordinationskreisen bestimmt werden. Die Gemeinde funktioniert „wie ein Netzwerk, nach einer ungeordneten Ordnung“, versichert ihr Gründer. Sie stützt sich auf knapp ein Dutzend feste Angestellte in der Verwaltung und ein begrenztes jährliches Budget von rund sieben Millionen Mark, so dass für jedes Projekt eine neue Finanzierung aufgetrieben werden muss.
Manche Kritiker werfen der Gemeinde vor, sie sei ein „linkes Opus Dei“ oder ein „U-Boot des Vatikans“. Dabei wurde sie vom Heiligen Stuhl erst 1986, nach achtzehnjährigem Bestehen, offiziell anerkannt, und sie ist äußerst stolz auf ihre Autonomie. Zum Vatikan werden – ganz und gar italienisch – informelle Beziehungen unterhalten, wie Jean-Dominique Durand erklärt. Zum Papst, in seiner Funktion als Bischof von Rom, besteht jedoch eine direkte, sehr starke Bindung: Die Gemeinde hat ihn am Anfang seines Pontifikats „die Armen der Hauptstadt entdecken lassen“.
Johannes Paul II. „hatte immer ein sehr herzliches Verhältnis zu uns“, erklärt Andrea Riccardi, der während des Armenbanketts am 15. Juni im Vatikan neben dem Papst saß. Auf dessen Anregung hin hat er zudem soeben ein Buch über das „Jahrhundert der Märtyrer“ verfasst – das von Katholiken im Untergrund in der ehemaligen Sowjetunion und in Asien bis zu Opfern der Repression in Lateinamerika oder der italienischen Mafia handelt.10 Außerdem hat der Papst die Gemeinde mit der alljährlichen Durchführung des „Friedensgebetes“ betraut, einem internationalen Treffen der ökumenischen Bewegung und des interreligiösen Dialogs, das zu einem Markenzeichen von Sant` Egidio geworden ist. Das 14. Treffen von Assisi findet vom 24. bis 26. September in Lissabon statt.
Zudem wurde im März dieses Jahres Don Vincenzo Paglia, einer der ältesten Priester der Gemeinde, zum Bischof ernannt. Er setzte sich für die Seligsprechung des salvadorianischen Erzbischofs Monsignore Oscar Romero ein, der 1980 von Militärs ermordet wurde. Als erster Vertreter Roms war Don Paglia 1991 nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes nach Albanien gereist, um dort diskret die Wiedereinführung einer katholischen Hierarchie vorzubereiten. Letztes Jahr begab er sich mitten im Kosovokrieg nach Jugoslawien. Wenige Wochen später kam der bis dahin von den Serben unter Hausarrest gestellte Ibrahim Rugova nach Rom, wo er vom Papst empfangen wurde.
„Man kann zwar Träumer in ihnen sehen“, versichert Kardinal Roger Etchegaray, eine der wichtigsten Stützen Sant` Egidios bei der Kurie, der vierzehn Jahre lang der bischöflichen Kommission „Gerechtigkeit und Frieden“ vorsaß. „Ihre Hartnäckigkeit habe ich aber stets bewundert und sie in ihrem Willen unterstützt, das Unlösbare zu lösen.“ Einer der Monsignori des Staatssekretariats – des Außenministeriums der katholischen Kirche, die mit 172 Staaten diplomatische Beziehungen unterhält – ist der Ansicht, Sant` Egidio handle meist im Einverständnis mit dem Heiligen Stuhl, ohne von diesem abhängig zu sein, konkurriere gelegentlich aber auch mit diesem. Wenig Verständnis brachte man in den Rängen der Kurie allerdings für den Kontakt auf, der mit Hassan al-Turabi, dem vor wenigen Monaten kaltgestellten Chefideologen der islamistischen Regierung im Sudan, geknüpft wurde.
Verschiedentlich wird der „verschlungene politische Werdegang“ der Sant` Egidio-Gemeinde kritisiert.11 Zweifellos ist sie „kein Machtzentrum an sich“, räumt man im Vatikan ein, nicht ohne jedoch sofort auf die engen Beziehungen hinzuweisen, die zu zahlreichen Mitgliedern der italienischen Regierung bestehen. Insbesondere dank des alljährlich bei den Assisi-Treffen gefestigten kirchlichen Beziehungsnetzes ist Sant` Egidio jedoch eine wirkungsvolle Pressuregroup im Vatikan, die bei dem Konklave zur Bestimmung des Nachfolgers von Johannes Paul II. durchaus dazu beitragen könnte, dass ein von ihr favorisierter Kardinal gekürt wird.
Darüber macht sich das Team der „UNO von Travestere“12 gegenwärtig kaum Gedanken. Ihr nächstes Etappenziel ist die Durchsetzung eines weltweiten Moratoriums der Vollstreckung von Todesurteilen noch in diesem Jahr, dem sich gerade der indonesische Präsident und damit das Oberhaupt der bedeutendsten islamischen Gemeinde der Welt angeschlossen hat.
dt. Birgit Althaler
* Journalist, Radio France Internationale.