Kybernetik und die Folgen
Von ARMAND MATTELART *
DIE Geschichte der Menschheit wird für gewöhnlich als eine Abfolge von Zeitaltern geschrieben. [...] Es besteht weithin Einigkeit, dass wir in ein neues Zeitalter eingetreten sind, in eine postindustrielle Phase, in der die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung entscheidenden Stellenwert erlangt. [...] Diese neue Ära wird inzwischen als Informationszeitalter bezeichnet.“ Mit diesen Worten hat der US-Konzern IBM nicht etwa in der jüngsten Zeit des Internet-Booms für sich geworben, sondern im Jahre 1977.
Schon damals wurde mit Hochdruck daran gearbeitet, die „neue immaterielle Ressource“ Information mit allerlei Imaginärem zu umweben. Die Wirtschaft der großen Industrieländer versprach sich von den neuen Technologien einen Ausweg aus der Krise, und in den Forschungsprogrammen von Regierungen und internationalen Organisationen tauchte der Begriff der „Informationsgesellschaft“ auf.
Im Zuge von Deregulierung und Privatisierung verschränkte sich allmählich der Mythos vom Informationszeitalter mit dem Topos vom „globalen Zeitalter“. Im März 1994 verkündete US-Vizepräsident Al Gore das Datenautobahn-Projekt „Global Information Infrastructure“. Im selben Jahr tauchte erstmals auch der Begriff „New Economy“ in offiziellen Reden auf.
Im Februar 1995 riefen die reichsten Industrieländer im Rahmen des Brüsseler G-7-Treffens die „Global Society of Information“ aus und beschlossen, die Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte verstärkt voranzutreiben. Auf dem Lissabonner Ratsgipfel im Mai dieses Jahres fassten die fünfzehn EU-Regierungschefs den Beschluss, das Internet in den Mittelpunkt ihrer Entwicklungsstrategien zu rücken. Wie konnte die Informationstechnologie zu einem solchen Fetisch werden?
Nach dem Zweiten Weltkrieg hegten Wissenschaftler die durchaus begründete Hoffnung, dass die intelligenten Maschinen, die sie während des Krieges entwickelt hatten, um feindliche Verschlüsselungscodes zu knacken und ballistische Berechnungen zu erleichtern, sich auch im zivilen Sektor einsetzen ließen.
So war etwa 1948 Norbert Wiener der Ansicht, mit Hilfe der Informationstechnologie ließe sich ein abermaliges Abgleiten der Menschheit in die „Welt von Bergen-Belsen und Hiroshima“1 verhindern. Allerdings, so fügte der Vater der Kybernetik warnend hinzu, können die „Methoden des Sammelns, Verarbeitens, Speicherns und Übertragens von Informationen“ allesamt nur dann reibungslos funktionieren, wenn sie auch ungehemmt zirkulieren können – was Macht und Geld in aller Regel verhinderten.
Wieners humanistische Perspektive war der mathematischen Kommunikationstheorie fremd. Letzere wurde 1949 von einem seiner ehemaligen Schüler am Massachusetts Institute of Technology (MIT) formuliert. Claude Shannon2 , nunmehr an den Bell-Laboratorien als Ingenieur tätig, schlug eine streng physikalische, quantitative und statistische Definition von Information vor. Problemlösungen waren demnach eine Sache der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Es galt, die effizienteste Kodierung zu finden, um eine telegrafische Nachricht möglichst kostengünstig und schnell an den Empfänger zu übermitteln.
Diesem mechanistischen Modell lag der behavioristische Gesellschaftsbegriff (von Reiz und Reaktion) zugrunde. Die Konstruktion von Sinn stand nicht auf Shannons Programm; sein Kommunikationsbegriff war im Wortsinne kulturlos. James W. Carey zufolge verweist Shannons Kommunikationsverständnis auf eine Besonderheit der amerikanischen Gesellschaft. „Der Begriff der Kultur ist eine schwache, schwindende Vorstellung im gesellschaftlichen Denken.“3 Dieser neue Kommunikationsbegriff sollte bald darauf die Welt erobern.
Den Begriff der Information selbst verpackte man kurzerhand in jene „Blackbox“, die fortan als universeller Platzhalter und Lückenbüßer diente – zumal die Wissenschaften vom Menschen in ihrem Streben nach naturwissenschaftlicher Gültigkeit Shannons Theorie weithin zum neuen Paradigma erhoben.
Das Verschwommene an diesem Informationsbegriff umgab auch die Rede von der „Informationsgesellschaft“ stets mit dem Nimbus des Besonderen. Dabei reduzierte sich Information in Anlehnung an die Statistik zunehmend auf Daten und existierte offenbar nur noch im Zusammenhang technischer Vorrichtungen – mit dem Resultat eines rein instrumentellen Konzepts von der Informationsgesellschaft. Diese soziale A-topie ließ alle soziopolitischen Implikationen eines Begriffs verblassen, der immerhin das Geschick unserer heutigen Welt beschreiben sollte.
Der Kalte Krieg baute dann die Kulissen für die Konzepte auf, nach denen die Menschheit angeblich an der Schwelle zum Informationszeitalter und also im Vorzimmer eines neuen Universalismus stand. Drei Brutstätten der neuen Lehre lassen sich ausmachen: Sozialwissenschaften, Zukunftsforschung und Geopolitik.
Operation Nr. 1: Das vorangegangene Zeitalter, die Ära der Ideologien, die ihren Totengräbern zufolge das 19. und beginnende 20. Jahrhundert charakterisiert haben, wird für tot erklärt. An vorderster Front: die Teilnehmer der im Herbst 1955 in Mailand stattfindenden Veranstaltung „Die Zukunft der Freiheit“, organisiert vom „Kongress für kulturelle Freiheit“, der 1950 in Berlin gegründet worden war und offenbar ohne Wissen der Stiftungsmitglieder vom CIA finanziert wurde.4
Unter den Teilnehmern: der Ökonom Friedrich A. von Hayek, der französische Professor Raymond Aron sowie die amerikanischen Soziologen Daniel Bell, Seymour Martin Lipset und Edward Shils. Auf der Tagesordnung stand das Ende der Ideologie, das Ende der Politik, das Ende der Klassen und des Klassenkampfs, aber auch das Ende des kritischen Intellektuellen wie überhaupt das Ende allen Engagements. Die „soziologische Analyse“, hieß es, sei auf dem besten Wege, sämtliche ideologischen Vorurteile über Bord zu werfen und die Legitimität des „liberalen westlichen Intellektuellen“ zu begründen.
Eine weitere These, die in diesem endzeitlichen Zusammenhang die Runde machte, formulierte 1940 der Philosoph und ehemalige Trotzkist James Burnham: Die Manager-Revolution, der unaufhaltsame Aufstieg der organization men künde von der Heraufkunft einer neuen Gesellschaft, der managerial society, in der Kapitalismus und Kommunismus verschmelzen würden.
Damals formierte sich eine Ideen- und Denkgemeinschaft. Mit zwanzig Jahren Abstand kommentierte Daniel Bell: „Einige Soziologen – Aron, Shils, Lipset und ich selbst – gelangten zu dem Schluss, dass die Fünfzigerjahre durch das Ende der Ideologie gekennzeichnet seien.“5 1960 veröffentlichte Daniel Bell – auch er hatte eine Zeitlang mit dem Trotzkismus sympathisiert – „The End of Ideology“. In den Jahren 1965-1968 leitete er die Jahr-2000-Kommission der American Academy of Arts and Sciences und arbeitete in ihrem Rahmen am Konzept der „nachindustriellen Gesellschaft“.
Im Laufe der Sechzigerjahre verfestigte sich die Vorstellung, es gebe objektive Methoden zur Erforschung der Zukunft. In seinem 1973 erschienenen Buch „The Coming of Post-Industrial Society“ verband Bell seine frühere These vom Ende der Ideologie mit dem Konzept der „nachindustriellen Gesellschaft“.6 Letztere, auch Informations- oder Wissensgesellschaft genannt, kenne keine Ideologie mehr.
Der Untertitel des Werks – „A Venture of Social Forecasting“ – verrät es: Bell betätigte sich als Zukunftsforscher. Er extrapolierte die strukturellen Trends, die er in den Vereinigten Staaten beobachtete, und konstruierte einen Idealtyp der künftigen Gesellschaft. Die Macht der aufsteigenden neuen Eliten beruhe auf einer neuen, der Entscheidungsfindung zugewandten „geistigen Technologie“. Fortan gebe die „Wissenschaftsgemeinschaft“ den Ton an, eine „charismatische Gemeinschaft“, die universalistisch orientiert ist, sich weder Interessen noch Ideologien verpflichtet fühlt und gerade deswegen rational entscheidet. Der Wohlfahrtsstaat übernehme die Regie, plane den technologischen Wandel und begleite ihn durch ständiges „monitoring“ und „assessment“. Die hierarchisch und zentralistisch strukturierte Gesellschaft will von Netzwerken und „partizipativer Demokratie“ nichts wissen, und die Wirtschaft sei bei stetigem, exponentiellem Wachstum zunehmend von „technischen Dienstleistungen und Expertentätigkeit“ geprägt.
Die hier zu Tage tretende Anschauung von Geschichte, Moderne und Fortschritt entspricht der mathematischen Informationstheorie ebenso wie dem Evolutionsmodell, das Walt W. Rostow 1960 in seinem „nichtkommunistischen Manifest“ über die „Etappen des Wirtschaftswachstums“7 skizzierte. Der Fortschritt in den zurückgebliebenen Ländern ergebe sich aus der Diffusion der Werte der so genannten erwachsenen Länder. Die Modernisierungssoziologie gab diesem Entwicklungsweg einen Namen: „westernization“.
Das nachlassende Wirtschaftswachstum und die Krise der Regierbarkeit in den westlichen Demokratien sollten die Hypothesen dieses ersten Entwurfs einer Informationsgesellschaft schon bald erschüttern. Der szientistischen Sichtweise als solcher konnte die offenkundige Widerlegung durch die Wirklichkeit indes nichts anhaben, denn die Vorstellung, dass Organisationslehren die Politik ablösen, hatte gesellschaftlich längst Fuß gefasst. Eine derart funktionell gegliederte Gesellschaft wird nach den Prinzipien des wissenschaftlichen Managements geleitet. Kein Wunder also, daß Daniel Bell neben Claude-Henri de Saint Simon auch Frederic Winslow und Robert McNamara zu seinen illustren Vorläufern zählte – Letzterer ein ehemaliger Ford-Manager, der zu Beginn der Sechzigerjahre die Verwaltungsabläufe im Pentagon rationalisierte und später als Präsident der Weltbank fungierte.
Die Erstellung von Zukunftsszenarien entwickelte sich zu einem florierenden Geschäft. Die „professional prognosticators“ boten ihre Dienste Rat suchenden und zahlungsbereiten Unternehmen und Regierungen an. Auf diesem Umweg machte nun auch die breite Öffentlichkeit Bekanntschaft mit dem neuen techno-informationellen Zeitalter.
Hermann Kahn und sein Hudson Institute etwa wagten im Rahmen der von Bell geleiteten Jahr-2000-Kommission die Prognose, in der nachindustriellen Gesellschaft, in der Mangel und Knappheit der Vergangenheit angehörten, würden die Menschen nur noch fünf bis sieben Stunden am Tag arbeiten – und zwar vier Tage in der Woche und 39 Wochen im Jahr.
Erinnert sei auch an Alvin Toffler, selbständiger Berater und Autor der Bestseller „Der Zukunftsschock“ (1970) und „Die dritte Welle“ (1979), dem wohl das Verdienst zukommt, den Massen den Futurismus nahe gebracht zu haben. Der ehemalige Marxist hat die operationale Funktion von Zukunftsszenarien mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet. Um das „Trauma des Zukunftsschocks“ zu vermeiden, muss man den Bürgern Lust auf die Zukunft vermitteln. Und so spannt er einen Erwartungshorizont auf, an dem interaktive Demokratie, Individualisierung der Medien, Konsumfreiheit, Pluralismus, Vollbeschäftigung und Flexibilität winken. Der „gefährliche Anachronismus“ Nationalstaat werde verschwinden, und an die Stelle der alten Gegensätze zwischen Arm und Reich, Kapitalismus und Kommunismus trete jetzt der zwischen Traditionalisten und Modernen.
Unter „interaktiver Demokratie“ verstand man damals die in den Denkfabriken ausgearbeiteten Projekte verkabelter Städte, die sich schon bald zum Experimentierfeld der techno-kommunitaristischen Ideologie entwickelten. Wen wundert's, dass der Cyber-Prophet Nicholas Negroponte, Autor von „Total digital“8 und Aktionär von Wired, der Zeitschrift aller Internet-Verkabelten, bei der Rand Corporation an derartigen Städtevisionen arbeitete, bevor er 1979 das Media Lab am MIT gründete.
Der geopolitische Ausbau der Informationsgesellschaft zur globalen Informationsgesellschaft erfolgte bereits Ende der Sechzigerjahre. Zbigniew Brzezinski, Kommunismus-Experte und späterer Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, analysierte damals die internationalen Folgewirkungen der Konvergenz von Datenverarbeitung und Telekommunikation.9 Er stellte die These auf, dass die Vereinigten Staaten dank ihrer Kontrolle über die internationalen Daten- und Informationsnetze die „erste globale Gesellschaft der Geschichte“ seien. Sie „kommunizierten am meisten“ und hätten bereits verwirklicht, was den anderen Nationen noch bevorstehe. Die neuen Werte würden unweigerlich von Amerika in alle Welt ausstrahlen und Phantasie und Nachahmungsfreude der gesamten Menschheit beflügeln. Schlussfolgerung: Die Zeit der „Kanonenboot-Diplomatie“ sei vorbei, Begriffe wie Imperialismus, Amerikanisierung und Pax americana seien hinfällig, die „Netz-Diplomatie“ lebe hoch.
Nichts anderes sagten drei Jahrzehnte später der Politologe Joseph S. Nye und der Admiral William A. Owens, beide Berater der Clinton-Administration, als sie „soft power“ zur Grundlage der neuen „globalen Sicherheit“ erklärten: „Mehr denn je ist Wissen heute Macht. Das einzige Land, das in der Lage ist, die Informationsrevolution konsequent zu Ende zu führen, sind die Vereinigten Staaten. [...] Als Multiplikator der amerikanischen Diplomatie üben die Informationstechnologien sanfte Macht aus – die Macht der Verführung durch amerikanische Demokratie und freie Märkte.“10
Zu schlechter Letzt hauchte die globale Informationsgesellschaft auch dem Ideal der westernization neues Leben ein, das mit dem Scheitern der durch die Entwicklungs- und Modernisierungsideologie inspirierten Strategien vom Tisch zu sein schien. „Der gebildete Mensch von morgen“, so wird Peter Drucker in „Die postkapitalistische Gesellschaft“11 nicht müde zu betonen, „wird sich darauf vorbereiten müssen, in einer globalisierten, und das heißt verwestlichen Welt zu leben.“ Im Übrigen plädiert der Management-Theoretiker für eine umfassende Allianz zwischen Managern und Intellektuellen – auf dass dem weltweiten Großprojekt unter Führung der Wissensindustrie der gebührende Erfolg beschieden sei.
dt. Bodo Schulze
* Professor an der Universität Paris-VIII. Autor u.a. von „The Invention of Communication“, Minnesota (University of Minnesota Press) 1996