15.09.2000

Kinder als Opfer des Umbruchs

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Kinder als Opfer des Umbruchs

Von PHILIPPE DEMENET *

DIE rumänische Stadt Mediasch in Transsylvanien hatte gute Ausgangsbedingungen: Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wurden hier Schuhe, Glaswaren, Kinderwagen, Elektrogeräte, Kochtöpfe und Karosserien produziert. Doch seit 1990 werden die Unternehmen wieder und wieder „umstrukturiert“, wobei sie sich auch ihres „kommunistischen Erbes“ sprich: der Ferienzentren, Kinderkrippen und medizinischen Einrichtungen entledigen. Zeitgleich entstanden neue Betriebe: eine Tankstelle, zwei Pizzerien, ein privater Kindergarten und mehrere Schnapsbrennereien. Das belebt das Stadtbild, nicht aber die Beschäftigungszahlen. Von den 65 000 Einwohnern sind 8 000 arbeitslos, 5 000 davon ohne Arbeitslosenunterstützung. „Zwei Drittel meiner Mitbürger haben kaum das tägliche Brot“, sagt der lutherische Pastor Reinhart Guib in seiner Wehrkirche aus dem 15. Jahrhundert. 3 000 Familien der Stadt müssen ohne Heizung durch den Winter kommen.

Unter ihnen sind auch die Lorincz, die vor zehn Jahren öffentlich und leidenschaftlich Libertate forderten. Was hat sie ihnen gebracht, die Freiheit? Rechnet man die Rente von Iosif, dem siebenundvierzigjährigen Familienvater, und das Kindergeld zusammen (60 000 Lei pro Kind, also 7 Mark), stehen den Lorincz monatlich 83,65 Mark zur Verfügung. Die Kosten allein für die Gemeinschaftsheizung belaufen sich auf 76 Mark.1 Iosif rechnet durch: „Wenn wir weniger heizen, reicht das Geld vielleicht für etwas besseres Essen, für Schuhe, Waschmittel, Hefte und Schulbücher.“

Als Erste wurden die Frauen entlassen

DIE beiden Kinder, Carmen, zwanzig, und Doris, vierzehn Jahre alt, sind damit aufgewachsen, dass die Zukunft ungewiss ist. Carmen hat nicht studieren können, doch am stärksten hat Doris unter der allgegenwärtigen Angst gelitten: Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Seit Ende 1993, als über Nacht die Fabrik zur Herstellung von Plastik und Knochenkohle dichtgemacht wurde, bewegt sich ihr Vater Iosif – krank und kraftlos – nur noch zwischen dem ungemachten Bett und dem pausenlos laufenden Fernseher hin und her. Iby, die Mutter, dreiundvierzig Jahre alt, verdingt sich als Haushaltshilfe, seit in der Kochtopffabrik „umstrukturiert“ wurde. „Als Erstes wurden die Frauen entlassen“, sagt sie sanft.

Die allenthalben spürbare Not wird nur verschämt und im vertrauten Kreis zur Sprache gebracht. Als wäre sie eine Schande – angesichts der gut bestückten Schaufenster, der einladenden Restaurants und der grellen, westliche Güter anpreisenden Werbung. Während einige Geschäftemacher sich bereichern, „sinkt das Familieneinkommen, das Geld schmilzt mit der Inflation dahin, der Internationale Währungsfonds verlangt die Umstrukturierung der Industrie, die Arbeitslosigkeit steigt, und alle soziale Absicherung verschwindet.“ So fasst Nora Godwin, die Unicef-Vertreterin in Bukarest, die Situation zusammen.

Der Bürgermeister der rumänischen Hauptstadt erklärt sich für „außerstande“, den Familien eine Heizkostenbeihilfe zu gewähren; der Bürgermeister von Mediasch setzt die Nothilfe für die zweihundertvierzig ärmsten Einwohner seiner Stadt aus. „Wir haben Nichtregierungsorganisationen gebeten, Nahrungsmittel und Medikamente an sie zu verteilen“, erklärt er. Überall in Rumänien und in anderen Staaten des früheren Ostblocks werden soziale Hilfeleistungen durch Gründung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) „privatisiert“. Dabei leben 7,6 Millionen Rumänen unterhalb der Armutsgrenze.2

Zweitausend Kinder haben mittlerweile kein Dach über dem Kopf. Jedes fünfte von ihnen ist aus einem „Waisenhaus“ ausgerissen, zwei Drittel sind vor der Gewalt zu Hause geflohen; sie betteln, klauen, frieren und hungern. „Papa hat getrunken, Mama ist weggegangen. Ich habe in einem Geschäft für Videospiele übernachtet“, erzählt Andrei. Er ist zwölf und hat sein halbes Leben auf der Straße verbracht. Dann hatte er Glück und stieß auf die Erzieher des Vereins Salvati Copii3 , die in Bukarest eine Art Stadtpalais besitzen, das den Namen „Straßenkind“ trägt und vierzig Kindern eine neue Bleibe bietet.

Obwohl es inzwischen zwölf solcher Heime gibt, die sich (fast alle) privater Initiative verdanken, schlafen noch immer Kinder in Treppenhäusern, auf Bahnhöfen und in Heizungstunneln . „Vor sechs Jahren habe ich mein Dorf in der Nähe von Tulcea verlassen, wegen meiner zweiten Mutter. Wir haben uns nicht sehr gut verstanden“, schrieb mir Mariam mit zitternder Hand auf, nachdem er anfangs außerstande war zu reden. Mit seinem Freund Vassile lungert er in der Nähe der U-Bahn-Station Eroilor herum. „Wir sind vierzehn Jahre“, behaupten sie, doch sie sehen aus wie zehn. Den ganzen Tag schnüffeln sie Lösungsmittel aus einem Fläschchen mit grauem Lack. Nachts finden sie unter dem Kiosk eines Blumenverkäufers Unterschlupf. Bei ihnen sind noch Stefania, ein halbwüchsiges Roma-Mädchen, und deren achtjähriger Bruder Florin; die beiden betteln tagsüber und schlafen bei einem Onkel. Da sie nach Zuneigung und kleinen Geschenken gieren, sind sie leichte Beute für Pädophile aus allen Ländern, für die Bukarest und Budapest zu neuen Zielen des „Sextourismus“ geworden sind.

Weder in Rumänien noch in Bulgarien oder Russland haben Eltern eine Veranlagung dazu, ihre Kinder zu vernachlässigen. „Im Gegenteil“, erinnert sich der französische Anthropologe Claude Karnoouh, der an der Universität Cluj lehrt, „die rumänischen Kinder wurden immer besonders gehätschelt und gefördert.“ Er berichtet, wie der frühere Diktator Ceaușescu seine Geburtenpolitik der Bevölkerung aufzwang: Verbot von Verhütungsmitteln und Abtreibung sowie – ganz nach sowjetischem Muster – Unterbringung von Kindern allein erziehender Eltern in staatlichen Einrichtungen. „Wenn sie dann aus dem Waisenhaus kamen, sorgte der Staat in Rumänien wie in den anderen Ländern für Wohnung und Arbeit“, erläutert Claude Karnoouh. Unter dem ungezähmten, korrupten Kapitalismus sind die innerfamiliären Solidarstrukturen auseinander gebrochen, „eine Umwälzung, die gewaltiger war als die Einführung des kommunistischen Systems 1948“. Fragt man die Rumänen nach „Gründen für Zufriedenheit“, so kreuzen 56 Prozent an: „Keine“.4 „Früher konnte man sein Baby in der betriebseigenen Krippe direkt am Arbeitsplatz stillen“, bemerkt Dana Crisan, die in einer Sozialstation in Mediasch arbeitet. „Von den zehn städtischen Kinderkrippen existieren nur noch zwei, und die kosten neuerdings Geld. Warum hat man nicht die Errungenschaften des alten Systems beibehalten?“

In den heutigen Zeiten einer chaotischen Gesundheitsreform verklärt sich die Vergangenheit nur gar zu leicht. Manche Ärzte im Krankenhaus von Mediasch vergessen darüber sogar die Mangelwirtschaft der Ceaușescu-Zeit, als zum Beispiel wegen fehlender Spritzen Tausende von Kindern bei Impfungen mit HIV infiziert wurden. Die Ärzte konstatieren den physischen Zusammenbruch der rumänischen Gesellschaft: immer öfter leiden schwangere Frauen unter Anämie; die Zahl der Frühgeburten steigt, die Menschen werden bitter, fühlen sich ohnmächtig: „Stark untergewichtige Neugeborene können wir nicht retten“, erläutert Doktor Elena Paul, Chefärztin der Entbindungsstation. „Eine natürliche Auslese ist das.“ Verstärkt wird diese durch eine andere Auslese: die soziale. Ein Stockwerk tiefer befindet sich die Pädiatrie. Acht von ihren Müttern verlassene Kinder liegen dort. Sie starren mit leerem Blick auf ihre Hände. „Manchmal holen die Mütter die Kinder wieder ab. Aber sobald ihre Trockenmilchration aufgebraucht ist, bringen sie sie zurück“, erzählt Paloma Doinea, die Stationsleiterin. „Sie haben nicht genug Geld, um sich Milchpulver zu kaufen. Wir werden von der Armut überrollt.“ Und deshalb lassen Eltern ihre Kinder im Stich.

In Rumänien – wie in Ungarn, Bulgarien, der Slowakei und der Tschechischen Republik – stammen viele der allein gelassenen Kinder aus armen Roma-Familien. Doch nicht alle: Arbeitslosigkeit, niedrige Einkommen, menschenunwürdige Behausungen, kostspielige Verhütungsmittel, die zunehmende Zahl minderjähriger Mütter und die unter dem alten System erworbene Gewohnheit, den Staat als Ersatzfamilie aufzufassen – all dies sind Hintergründe für die tragischen Trennungen.

Unter dem Einfluss von NGOs und Geldgebern herrschen in einigen der so genannten Waisenhäuser in den letzten Jahren menschenwürdigere Verhältnisse. Man schickt Sozialarbeiter zu den Familien, um sie an ihre Besuchspflicht zu erinnern, und man drängt die Eltern, ihre Kinder nach Hause zu holen, wenn sich ihre Lage verbessert hat. Doch trotz dieser Bemühungen werden jährlich mehr Kinder im Alter zwischen 0 und 3 Jahren in Heimen aufgenommen, als sie verlassen, nämlich an die 10 000 im Jahr – und das bei stark rückläufiger Geburtenrate. Ein Phänomen, das sich auch in den meisten Nachbarländern beobachten lässt, außer in Ungarn, wo die Reformen von fortschrittlicherem Zuschnitt waren.

Improvisieren in Zeiten der Dauerkrise

INSGESAMT stellt in den Ländern Mittel- und Osteuropas für eine Million Kinder der Staat das Elternhaus dar. Das sind 500 000 mehr als 1989! „Wenn sich die Lebensbedingungen weiter verschlechtern, wird sich die Zahl der Heimkinder noch erhöhen“, schätzt Cristian Tabacaru, ehemaliger rumänischer Staatssekretär für Fragen des Kinderschutzes, eine Einrichtung, die aufgelöst und – gemäß EU-Beitrittsbedingungen – durch eine Kinderschutzagentur ersetzt wurde. Ziel ist es, die 147 000 Kinder, die sich in staatlicher Obhut befinden und bislang nach sowjetischem Modell in den Verantwortungsbereich verschiedener Ministerien fielen, einer einzigen Behörde zu unterstellen.

„Wir haben eine einzigartige Anstrengung unternommen“, hebt Tabacaru hervor. Allerdings erst sehr spät. Wie in Polen gibt es auch in dem rumänischen Kinderschutzsystem, das 1997 reformiert wurde, noch erhebliche Lücken. Die Leistungen der Familienhilfe sind rudimentär, ein Jugendschutzgesetz fehlt ganz. Hinzu kommt, dass die – ebenfalls von der EU geforderte – Dezentralisierung zu einem regelrechten Zusammenbruch der Hospize für behinderte Kinder geführt hat. 33 „Camin Spitals“ gab es bislang, in denen 4 400 Kinder unter erbärmlichen Bedingungen dahinvegetieren.

In allen Ländern des früheren Ostblocks gibt es noch derartige, von den städtischen Zentren weit abgelegene Großeinrichtungen. Darin arbeiteten zwischen hundert und zweihundert unausgebildete Dorfbewohnerinnen zu Niedrigstlöhnen. Nach der Dezentralisierung 1999 sahen sich die ländlichen Gemeinden außerstande, diese Riesenheime weiter zu finanzieren, so dass die Frauen ein halbes Jahr lang keinerlei Einkommen erhielten. „Sie kamen trotzdem jeden Tag zur Arbeit“, wundert sich Teodora Avram, die Leiterin des „Camin Spital“ von Gradinari, das fünfunddreißig Kilometer außerhalb von Bukarest liegt. Im September 1999 konnten mit Geldern von Eurobingo (eine Fernsehlotterie) und Zuschüssen aus Frankreich und der Europäischen Union Lebensmittel für den Winter gekauft und Lohnrückstände beglichen werden. Bis zur nächsten Krise.

Soll man diese schändlichen Einrichtungen schließen? „Erst wenn Hilfsstrukturen für die Familien existieren und für die Beschäftigten andere Arbeitsstellen gefunden sind“, sagt Nora Godwin. Außerdem müsste Rumänien besser regiert werden, die EU müsste mit ihren immer neuen Vorgaben aufhören, und die NGOs müssten ihre Versäumnisse bekennen: „Zehn Jahre lang“, sagt Gérard Lucon, Rumänien-Koordinator von Handicap International, „haben wir Unsummen ausgegeben: für die Reparatur der Gebäude, für Spielzeug, neue Heizungskessel und so weiter. Nur für die Qualifikation des Personals haben wir nichts getan.“

Im Notfall kann Rumänien stets auf seine ausländischen Freunde zählen. Nicht so die Ukraine. Auf der anderen Seite der Karpaten leben die 132 Kinder des Internats von Salutsch dasselbe grausame Leben wie ihre Leidensgenossen in Gradinari, allerdings in der Angst und Einsamkeit eines abgeschotteten Landes.

In dem auf einem großen Gutshof gelegenen „Internat für Kinder“, wo immer wieder der Strom oder die Heizung ausfällt, herrscht zunehmend Verwahrlosung. Einige Kinder quengeln, andere tanzen nackt durch die Räume. Einige stecken in Zwangsjacken, die meisten jedoch liegen apathisch im Bett. Wenn man sie hochhebt, sieht man grauenvolle Deformationen: „Unwillkürlich denkt man an die Missbildungen nach Tschernobyl“, konstatierte Doktor Philippe Josué 1998 nach einer Informationsreise im Auftrag von Ärzte ohne Grenzen.5 Nur wenige Kilometer entfernt beginnt ein kontaminiertes Gebiet, einstweilen baut man trotzdem ungerührt Kartoffeln und Mais an.

Zwei Ärztinnen, die früher in Salutsch arbeiteten, sind inzwischen nach Italien gegangen, wo sie als Haushaltshilfen ihr Geld verdienen. Ihr Nachfolger hat keine Antibiotika. Wie lange wird er wohl bleiben? Die achtzig Krankenschwestern und Hilfspflegerinnen allerdings haben keine Wahl, sie können nicht fort. Von ihrem Monatslohn – 105 Griwny (38 Mark) – bekommen sie zwischen 1,50 und 15 Mark ausgezahlt, hin und wieder kommt eine Vergütung in Form von Wodka, Konfekt, Wurst oder Butter hinzu. Seit den Präsidentschaftswahlen im Oktober 1999 hat sich die Lage verschlimmert. Die Kinder bekommen nur noch Kartoffeln mit Öl zu essen. Draußen, im Haus des Gärtners, werden Jahr für Jahr nicht weniger als zwanzig Kinder aufgebahrt. Ein Drittel der schwer behinderten Kinder sterben vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs.

Wie in Rumänien geraten auch in der Ukraine immer wieder gesunde Kinder irrtümlich in diese Sterbehäuser. Stolz führt uns das Personal von Salutsch „die beiden, die sprechen“, vor: den siebenjährigen Stjopa, der mit schriller Stimme einen Hit von Ricky Martin vorträgt, und den aufgeweckten fünfjährigen Mischa. „Oligophrenie, Idiotie, Vater und Mutter Alkoholiker!“, lautet die Diagnose. In der Ukraine gilt wie zu Sowjetzeiten „Alkoholikerkind“ als Krankheit, ebenso wie „Kind eines Straftäters“.

Anämische Kinder und wohlgenährte Direktorinnen, die ein Bakschisch nicht ablehnen – das riecht nach Schiebereien, und zwar überall in der Ukraine: Der Polizist bittet den Autofahrer zur Kasse, der Arzt den Patienten, der Zöllner den Reisenden, natürlich in Dollar. Scheingehälter, veruntreute oder nicht erhobene Steuern: In diesem entmonetarisierten Land sind die öffentlichen Einrichtungen dem Kollaps nahe. Wer ins Krankenhaus kommt, muss Verbandszeug, Bettwäsche, Spritzen und Medikamente selbst mitbringen, dazu die vierhundert Dollar für den Arzt. Außerhalb der großen Städte warten am Straßenrand Massen von Menschen vergeblich auf den Bus, und an Markttagen sieht man ebenso viele Pferdefuhrwerke wie Autos.

Doch anders als in Rumänien sind die Mäntel elegant und warm, die Hüte haben Pfiff, in der Haltung liegt Stolz. Von den Machenschaften und Schiebereien profitiert hier eine Mehrheit. Wie lange noch? Katja, vierzehn Jahre, macht sich keine Illusionen. Sie wohnt in Snjatyn, einem Städtchen unweit von Salutsch. „Viele Jugendliche meines Alters trinken.“ Die Größeren nehmen Drogen, „weil sie keine Arbeit finden“. In der Gegend schießen die (orthodoxen und unierten) Kirchen wie Pilze aus dem Boden. „Die einzigen, die Leute einstellen, sind die Stiftungen, die die Kirchen bauen. Aber selbst die bezahlen öfter mit Benzin als in Griwny.“

Manche Klassenräume in Katjas Schule werden geheizt, andere nicht. Im Gymnasium gibt es überhaupt keine Heizung. Und die Klassenzimmer haben die Eltern selbst gestrichen. „Unsere Probleme haben allesamt mit der Mafia zu tun, die von einer neuen russisch-ukrainischen Union träumt“, versichert Nikolaj, der Vater von Katja Lawrentowitsch. Weder er noch seine Frau beziehen offiziell ein Einkommen, doch Nikolai hält „privat“ hundert Legehennen, und Jana macht als arbeitslose Veterinärin gelegentlich etwas für die Kolchose, schwarz nebenher. Sie verkauft überdies die Eier von den Hühnern, ein bisschen selbst gezogenes Gemüse und die Dinge, mit denen der Direktor der Kolchose sie entlohnt. Alles in allem leben die Lawrentowitschs und ihre Tochter besser als die Lorincz. Sie fahren einen Wagen, haben eine Datscha und machen Ferien am Schwarzen Meer. Und die Heizkosten? „Die bezahlen wir nicht, weil wir kein Einkommen beziehen“, erklärt Jana – dazu berechtigt sie in der Tat ein Gesetz, das vom Parlament in Kiew verabschiedet wurde.

„Bis Katja ihre Ausbildung abgeschlossen hat, werden die Dinge sich vielleicht verändert haben“, hofft sie. Unterdessen spart die Familie, um die mehrere hundert Dollar Immatrikulationsgebühr für die Universität zusammenzubekommen. Katja träumt davon, Journalistin zu werden, aber die Mutter protestiert: „An der Fakultät kennen wir niemanden.“

Die Tochter wird also Veterinärin oder Ärztin werden. „Ein Beruf, wo man öfter bezahlt wird als in anderen“, tröstet sich Katja. Ihr Vater ermuntert sie, „Fremdsprachen zu lernen“. Viele junge Ukrainer schauen nach Westen – und sind das gefundene Fressen für die Menschenhändler-Mafia.

In der kleinen Dorfschule des Örtchens Sbuwdwitschi unweit von Snjatyn fürchtet man sich vor dem nächsten Kälteeinbruch, denn es gibt nicht genug Kohle. Mit müden Gesichtchen erheben sich die Kinder vor der Lehrerin und begrüßen den Gast respektvoll: „Dobry djen!“ – Guten Tag. Im Morgengrauen haben einzelne von ihnen einen sechs Kilometer langen Schulweg zu Fuß zurückgelegt. „Früher gab es einen Schulbus“, weiß Igor Wolodamerowitsch, der Direktor, zu berichten, „aber die Eltern haben kein Geld mehr, um ihn zu bezahlen, ebenso wenig wie die neuen Schulbücher, wenn wir sie ihnen nicht gebraucht besorgen können. Vor vier Jahren konnten wir unterernährten Kindern noch Mahlzeiten anbieten. Unterernährte Kinder gibt es heute immer noch, aber wir haben kein Geld mehr.“

Seine großen Hände, an denen Spuren von Erde zu sehen sind, verraten, wie er sein Gehalt aufbessert. Die Lehrerinnen bekommen nicht einmal mehr ihr Gehalt von 130 bis 150 Griwny (rund 55 Mark). Sie kommen, „aber die Motivation ist nicht mehr dieselbe“, räumt der Direktor ein. Was soll er einem Schüler oder einem Lehrer schon sagen, der nicht zum Unterricht erscheint, weil er auf dem Feld arbeitet?

Polnische Schulen auf Westkurs

DIE Ukraine, ein Land im Betäubungszustand, schläft bis heute den sowjetischen Schlaf. Was wird geschehen, wenn das Land erwacht? Der Nachbar Polen wartet besorgt auf diesen Augenblick. Dort hält man sich bereits für einen Teil Westeuropas und wird dafür von den östlichen Nachbarn beneidet. Doch auch in Polen gibt es größere „Mauscheleien“, und das Geschäftsfieber hat längst die öffentlichen Einrichtungen erfasst. Die Kindergärten sind privatisiert, Hunderte von Privatschulen sind entstanden (allein im Jahr 1999 dreihundert Gymnasien), und die Schul- und Internatsleiter verbringen den größten Teil ihrer Zeit mit der Suche nach zahlungswilligen „Sponsoren“.

„Ich vermiete Räume an eine Werbeagentur“, brüstet sich Jolanta Drobot, die elegante Direktorin der Stefan-Sterzynski-Schule im Stadtteil Praga. Sie vermietet auch Räume an eine private Tanz- sowie eine private Sportschule und die Kantine an die Zeugen Jehovas, die unter den siebenhundert Schülern rund dreißig Anhänger zählen. Die Eltern werden aufgefordert, sich an den laufenden Kosten für einen Farbkopierer zu beteiligen und eine „Stiftung“ zu unterstützen, dank derer die Direktorin ein Dutzend Computer kaufen und den ohnehin schon durch Gehaltszuschlag privilegierten „Spitzenlehrkräften“ eine Prämie zahlen konnte. Den finanziellen Extra-Anreiz beschloss man 1999 in Polen, um das Niveau der Schulen anzuheben und die Kinder besser auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten.

Bukarest lässt sich vom polnischen Vorbild inspirieren. Auch in Rumänien vertieft die Praxis des „Sponsoring“ die Ungleichheit. „Die Reform kommt in erster Linie den oberen Schichten zugute“, meint der Soziologe Kazimierz Frieske, der sich besonders mit Fragen der Verelendung und der Armut beschäftigt und Begründer einer privaten Hochschule für Recht und Management in Warschau ist. „Die Regierung setzt auf diese Reform, um die ,Beschäftigungstauglichkeit‘ der nachwachsenden Generation zu entwickeln, aber ich glaube nicht daran.“

Von den zwei Millionen Polen, die in größter Armut leben, sind 50 Prozent keine neunzehn Jahre alt. „Die Regierung gibt gerade so viel aus, dass keine Revolte oder Hungerkatastrophe droht, aber nicht genug, um die Ausgeschlossenen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren“, bemerkt Professor Frieske. Die Arbeitslosenunterstützung, die ein Jahr lang gewährt wird, beträgt 400 Zloty (200 Mark) pro Monat, unabhängig vom letzten Verdienst; die Preise dagegen werden an der D-Mark ausgerichtet.

In Warschau oder Gdansk sieht man keine Armut; sie konzentriert sich in „Gürteln“ um die früheren staatlichen Landwirtschaftsgenossenschaften oder in mittelgroßen, von Umstrukturierungen betroffenen Städten. Ein Teil der Ausgeschlossenen – Professor Frieske zufolge sind es 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung – verbringt den Winter am Rande von Warschau, im Außenbezirk Bialolenka. Dort haben zwei- bis dreitausend Obdachlose – junge Menschen, aber auch ganze Familien – in Heimen Unterschlupf gefunden, die von einer Handvoll Sponsoren, doch vor allem vom Staat und der Stadt finanziert werden – denn Warschau ist dank ausländischer Investoren wie Coca-Cola, L'Oréal, Auchan oder Daewoo alles andere als eine arme Stadt.

Polen kennt das Phänomen der „Straßenkinder“ nicht. Doch der Stress, den die Eltern erleben, verborgene innerfamiliäre Gewalt und Alkoholismus haben allein 1998 8 500 Kinder und Jugendliche zwischen sieben und siebzehn Jahren veranlasst, von zu Hause fortzulaufen und auf Trebe zu gehen. Die polnische Polizei hat sie alle wiedergefunden und in ihre Familien zurück- oder in Heime gebracht. „Das ist ein Signal der Kinder, damit sich jemand um sie kümmert“, meint Alicja Tomaszewska, die Kommissarin, die für vermisste Personen zuständig ist. „Früher hatten die Eltern Zeit für ihre Kinder. Heute rennen sie dem Geld hinterher.“

Rapide ansteigende Suizidzahlen, Jugendkriminalität, sexueller Missbrauch und Misshandlungen: Polen „normalisiert“ sich – wie die Tschechische Republik, wie Ungarn – und entdeckt die Übel der Konsumgesellschaft, so auch die Drogen an Schulen.

Eine Untersuchung des Psychiatrischen Instituts, das 10 000 Warschauer Schüler befragt hat, brachte zutage, dass 15 Prozent der Fünfzehn- bis Sechzehnjährigen und 30 Prozent der Achtzehnjährigen schon einmal Drogen „ausprobiert“ haben (vor allem Marihuana, aber auch Amphetamine und Ecstasy). Baseball-Mützen, Jeans und Mobiltelefone: in Gdansk und in Warschau hat für die polnische Jugend das Konsumzeitalter längst begonnen.

dt. Passet/Petschner

* Journalist

Fußnoten: 1 Alle Umrechnungen basieren auf dem Lei-Kurs vom November 1999. 2 Diese Zahl bezieht sich auf das Jahr 1998. 3 Der rumänische Ableger der britischen Nichtregierungsorganisation Save the Children. 4 Eine Untersuchung von Metromedia Transilvania vom Oktober 1999. 5 Ärzte ohne Grenzen hat beschlossen, nichts zu unternehmen. Um das Waisenhaus von Salutsch kümmert sich eine einzige NGO, deren Initiator ein polnischer Journalist, zugleich Solidarność-Mitglied, ist: Foundation for children, 36-001 Trzebownisko 1033, Polen.

Le Monde diplomatique vom 15.09.2000, von PHILIPPE DEMENET