Ecuador am Rande des Abgrunds
ECUADOR ist ein schreiendes Beispiel dafür, wie ein Land durch die Kreditkonditionen des IWF und die extreme Korruption der lokalen „Eliten“ an den Rand des Zerfalls getrieben wird. Zwar genießt der Andenstaat mit seinen 12,4 Millionen Einwohnern aus Sicht „der Märkte“ nicht das zweifelhafte Privileg, „für einen Bankrott zu groß zu sein“ (wie Mexiko) oder „zu viele Atomwaffen zu haben“ (wie Russland), aber er macht der „internationalen Finanzgemeinschaft“ aus anderen Gründen große Sorgen: Für seine gravierenden Probleme ist keine Lösung denkbar, die den Regeln besagter „Gemeinschaft“ ensprechen würde.
Einige Daten zur Erinnerung: Die Staatsschuld beläuft sich auf 13,5 Milliarden Dollar, davon 6 Milliarden in Brady-Bonds1 , was rund 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Die Arbeitslosenquote liegt bei 50 Prozent, ein Drittel der Bevölkerung ist nicht mit Trinkwasser versorgt, 64 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 15 Jahren gehen mangels Geld nicht zur Schule, für 70 Prozent der Bevölkerung gibt es keine medizinische Versorgung, die Realeinkommen der beschäftigten Arbeiter sind innerhalb eines Jahres um 20 Prozent gesunken.
Für den IWF hat diese soziale Tragödie weit weniger Gewicht als die Forderung nach Schuldenrückzahlung. Er macht deshalb weitere Kredite von der Umsetzung eines drastischen Sparprogramms abhängig, das Staatspräsident Jamil Mahuad am 21. Januar 2000 zum Verhängnis wurde. Tausende von Indios der „Vereinigung der indigenen Nationalitäten Ecuadors“ (Conaie) und ein Teil der Streitkräfte unter Führung von rund 70 Offizieren wollten die endemische Korruption und die ultraliberale Wirtschaftspolitik nicht länger hinnehmen und setzten das Staatsoberhaupt ab. Noch am 9. Januar hatte Mahuad versucht, seinen Posten zu retten, indem er die „Dollarisierung“ des Landes verfügte. Doch die Aufgabe der Landeswährung zugunsten des Dollars hat den Protest nur noch weiter radikalisiert. Nach einem kurzlebigen politisch-militärischen Triumvirat übernahm Vizepräsident Gustovo Noboa das Staatsruder. Der beschloss, nach den Vorgaben der US-Regierung und des IWF, die Politik seines Vorgängers auf Gedeih und Verderb fortzuführen.
Um den IWF-Sofortkredit in Höhe von 300 Millionen Dollar zu erhalten, wovon die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank und die Andengemeinschaft weitere Kreditlinien im Umfang von 2 Milliarden Dollar abhängig machen, muss die Regierung Noboa ein Paket von Maßnahmen verabschieden, das auf den Ausverkauf des Landes hinausläuft: offizielle Anerkennung der faktischen Dollarisierung der Wirtschaft, die bereits Hunderttausende Sparer und Rentner ruiniert hat, Streichung der Subventionen für Grundbedarfsgüter, drastische Einschnitte in den Restbestand an öffentlichen Dienstleistungen, „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarkts, Privatisierung staatseigener Unternehmen (u.a. die Telekommunikations- und Elektrizitätsgesellschaften), Bau einer zweiten Pipeline über die Anden, Abbau der Zolltarife, Erhöhung der Mehrwertsteuer, massive Erhöhung der Benzin- und Gaspreise und anderes mehr.
Da sich der ecuadorianische Kongress angesichts der Gefahr einer sozialen Explosion einstweilen weigert, die im so genannten Trole-II-Gesetz2 aufgelisteten Maßnahmen zu verabschieden, versuchte es der Staatspräsident auf die brachiale Methode und ließ das Gesetz gegen den Widerstand der Volksvertreter am 18. August im staatlichen Gesetzblatt veröffentlichen.3
DER IWF ist sich der Risiken seiner Forderungen durchaus bewusst, hält sie aber für weniger gravierend als die Gefahr, dass eine Lockerung der Zwangsmaßnahmen auf andere lateinamerikanische Länder ansteckend wirken könnte. Als Jamil Mahuad unter dem Druck der Bevölkerung im Oktober 1999 den umwälzenden Beschluss fasste, die Rückzahlung der (in Brady-Bonds umgewandelten) 6 Milliarden Dollar Handelsschulden vorübergehend auszusetzen, blieb dem IWF keine andere Wahl, als das Moratorium hinzunehmen. Völlig unakzeptabel ist für den IWF jedoch, wenn das Prinzip der Schuldenrückzahlung schlechthin in Frage gestellt wird. Deshalb versucht er jetzt, die Schuldensumme von 6,7 Milliarden Dollar mit einem Abschlag von 40 Prozent in 30-jährige Staatsobligationen umzuwandeln. Damit lässt sich zwar etwas Zeit gewinnen, aber nur um den Preis einer noch höheren (in Dollar zahlbaren) Schuldenlast für die kommenden Generationen.
B. C.