15.09.2000

Was wird aus dem Internationalen Währungsfonds?

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Was wird aus dem Internationalen Währungsfonds?

Von ISABELLE GRUNBERG *

POLITIK ist die Kunst der Entscheidung darüber, „wer was wann und wie bekommt“. So gesehen macht der Internationale Währungsfonds (IWF) in den Ländern, wo er Einfluss ausübt, hinter technokratischer Fassade eine bestimmte Politik. Die Nutznießer sind häufiger reich als arm, denn der IWF begünstigt die Umverteilung von unten nach oben. Auf nationaler Ebene ergibt sich der Umverteilungseffekt aus den wirtschaftspolitischen Standardauflagen, die den „harten Kern“ der Kreditkonditionen ausmachen:

– eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die Nachteile für Arbeitnehmer und Umwelt billigend in Kauf nimmt, um Investoren anzulocken;

– der Abbau von sozialen Leistungs- und Unterstützungsprogrammen auf ein striktes Minimum, die Umstellung der Gesundheits- und Bildungssysteme auf bezahlte Leistungen und die Abschaffung von Subventionen für Nahrungsmittel und andere Grundbedarfsgüter;

– der unbedingte Vorrang der Geldwertstabilität, die den Kapitalbesitzern zugute kommt und drastische staatliche Sparmaßnahmen erfordert, die sich negativ auf die Beschäftigung auswirken und damit zu Lasten der benachteiligten Schichten gehen;

– eine restriktive Geldpolitik (also ein hohes Zinsniveau), was ebenfalls eher den Reichen als den Armen nützt, insofern Erstere Vermögen haben, während Letztere verschuldet sind;

– der Zwang zu hohen Devisenreserven, was Handelsbilanzüberschüsse erforderlich macht, also sowohl eine Drosselung des Inlandskonsums als auch eine Beschränkung der Einfuhren;

– die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, die zu Finanzkrisen führt, die nur weitere Strukturanpassungsprogramme nach sich ziehen, deren Kosten wiederum die Ärmsten zu tragen haben;

– die Privatisierung der staatlichen Versorgungsunternehmen, was zu Lasten der Verbraucher geht, den Investoren aber komfortable Renten sichert;

– Steuerreformen, die meist nur auf eine „Erweiterung der Besteuerungsgrundlage“ (also auf die Ärmsten) zielen.

Diese Maßnahmen haben bewirkt, dass sich die Einkommensunterschiede seit 1960 im Weltmaßstab mehr als verdoppelt haben, während die Kluft zwischen reichen und armen Ländern dreimal tiefer geworden ist.1

Glaubt man dem IWF, ist diese Rezeptur nur eine bittere Arznei, die den Kranken langfristig heilen wird. Überdies sei eine Prise Ungleichheit gar keine schlechte Sache, weil sie Kapitalressourcen für Investitionen freisetze. Doch selbst rein ökonomisch gesehen zeigt sich im Rückblick, dass die Therapie auch bei langfristiger Anwendung fast nirgends angeschlagen hat. Die Achtzigerjahre waren das „verlorene Jahrzehnt“ für Afrika, die Neunzigerjahre brachten den „großen Rückwärtssprung“ im ehemaligen Ostblock. Die Finanzkrise in Südostasien hat die sozialen Errungenschaften von Jahrzehnten vernichtet. Und Lateinamerika ist heute nicht besser dran als vor zwanzig Jahren.2 Einzig China, eines der wenigen Länder mit eigenständiger Wirtschaftspolitik, verzeichnete in den letzten zwanzig Jahren kräftige Wachstumsraten.3

Im Extremfall schaufelt die politische Führung des Empfängerlandes die IWF-Gelder in die eigene Tasche und überlässt die Rückzahlung der Kredite der Bevölkerung. Werden Kredite zweckentfremdet, ist der IWF nicht nur Komplize, sondern sogar Cheforganisator eines ganzen Provisionsnetzes, das den Konsum einiger weniger Profiteure mitfinanziert. William Goetzman, Leiter des New International Center for Finance an der Yale-Universität, schreibt: „Auslandskredite an nichtdemokratische Regierungen sollten als das bezeichnet werden, was sie sind: Partnerschaftsabkommen zur gemeinsamen Ausbeutung der Bevölkerung.“4

Was können demokratische Institutionen, Wahlen und ein Parlament bewirken, solange die wichtigsten Entscheidungen für das Leben einer Nation im Ausland fallen? Die Aufstellung des Staatshaushalts hat eminent redistributive Auswirkungen. Das gilt auch für die allermeisten Regierungsbeschlüsse, selbst wenn sie scheinbar unerhebliche Dinge wie Industrienormen und Regulierungsbestimmungen betreffen. Mit seinen Kreditkonditionen greift der IWF in fast alle staatlichen Handlungsbereiche ein, ohne irgendjemandem Rechenschaft abzulegen.

Deshalb wären einige einfache, praktische und sofort umsetzbare Maßnahmen fällig. Um die IWF-Kredite demokratisch zu legitimieren, müssten sie von den Parlamenten der Empfängerländer abgesegnet werden. Derzeit dürfen die Abgeordneten nur über einige Komponenten des „Konditionalitätenpakets“ entscheiden, nicht aber über den Kredit als solchen. Stets werden sie mit dem fertigen, von der Exekutive ausgehandelten Abkommen konfrontiert. Um die Kosten und Vorteile solcher Kredite besser einschätzen zu können, müssten sie über wirklich unabhängige Sachverständige verfügen.

Die wirtschaftspolitischen Begleitprogramme der IWF-Kredite müssen grundlegend revidiert werden. Vorrangiges Ziel muss sein, die Beschäftigung zu verbessern und eine nachhaltige Entwicklung zugunsten der Ärmsten zu fördern. In dieser Hinsicht wurden im Gefolge der Asienkrise sogar innerhalb des IWF neue Ideen geboren, die von der „Reaktion“ jedoch diskussionslos abgewürgt wurden. Der ehemalige Vizepräsident der Weltbank Joseph Stiglitz legte sein Amt nieder, um nicht weiterhin eine Politik zu unterstützen, die weder von den betroffenen Ländern abgesegnet wird, noch genötigt ist, die wirtschaftswissenschaftliche Fachdiskussion zur Kenntnis zu nehmen.5

Die Verletzung demokratischer Grundsätze und die Umverteilung wirtschaftlicher Ressourcen von Arm nach Reich ist nicht nur auf nationaler Ebene zu verzeichnen, sondern auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Zu seinen Hauptaufgaben zählt der IWF die Vermeidung „dysfunktionaler Anpassungsprozesse“ in Ländern mit defizitärer Zahlungsbilanz. Wenn ein Land nicht genügend Devisenreserven hat, um mit der übrigen Welt Handel zu treiben, greift es vielfach zu Maßnahmen, die dem IWF ein Dorn im Auge sind, etwa zur Abwertung der Landeswährung oder zur Einführung von Handelsbeschränkungen und Devisenkontrollen (wie Malaysia in der Asienkrise). Als „funktional“ gelten dem IWF dagegen die haarsträubenden Auflagen für seine Kredite. Die Länder des Südens sollen die Kosten der Anpassung via Sparmaßnahmen „internalisieren“, um „den Rest der Welt“, sprich: den Norden, nicht zu belasten.

Die IWF-Kreditkonditionen sorgen dafür, dass die ärmsten Länder – und innerhalb dieser Länder wiederum die Ärmsten – bei etwaigen Handelsbilanzstörungen die gesamten Lasten tragen müssen, selbst wenn sie von externen Faktoren wie sinkenden Rohstoffpreisen oder internationalen Finanzkrisen herrühren.

Makropolitisch hat der IWF jeden Anspruch auf Neutralität längst aufgegeben. So wie es der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des US-Senats, Jesse Helms, vor dem UN-Sicherheitsrat im Januar 2000 verlangt hat, als er den IWF ultimativ aufforderte, zum „Instrument der Außenpolitik der Vereinigten Staaten zu werden“.

Wenn eine multilaterale Institution systematisch die Interessen eines einzigen Landes auf Kosten der übrigen Welt begünstigt, stehen wir weiß Gott vor einem problematischen Befund. In der Praxis hat das US-Schatzministerium während und nach der Asienkrise alle Vorschläge sabotiert, die darauf zielten, einen von Japan finanzierten regionalen Währungsfonds für Asien aufzulegen, der dem Kontinent die Überwindung der Krise erleichtert hätte. Die IWF-Exekutivdirektoren, die ja stets ihre Staaten repräsentieren, geben bereitwillig zu, dass sich ihre Kreditentscheidungen eng an die Empfehlungen Washingtons halten. Die Bewilligung von Krediten – und die Drohung, sie zu verweigern – gehört zum klassischen Instrumentarium der US-Außenpolitik, das dazu dient, militärische Allianzen zu festigen, Handelszugeständnisse zu erwirken und Exportmärkte zu öffnen. Damit drücken sich die USA um Gegenleistungen, die bei Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) fällig würden.

Angesichts der unverblümten Parteilichkeit des IWF kann man den Vorwurf des crony capitalism (Kumpelkapitalismus), dem die Regierungen Ostasiens während der Asienkrise 1997-1999 ständig ausgesetzt waren, legitimerweise an den Fonds zurückgeben. Um die Mitsprachemöglichkeiten dieser Länder zu verbessern, gilt es die IWF-Entscheidungsstrukturen zu verändern. Der vom Gouverneursrat eingesetzte IWF-Interimsausschuss (die „Gruppe der 24“, also der Finanzminister und Zentralbankchefs aus 24 Ländern) sollte nicht nur beratende Funktion haben, sondern zum obersten Entscheidungsgremium werden. Die Strukturanpassungsprogramme wären von der UN-Generalversammlung oder deren Wirtschafts- und Sozialrat zu bewerten – möglichst schon in der Planungsphase, aber mindestens im Nachhinein. Die Europäische Union, die in den IWF-Entscheidungsinstanzen seit einigen Jahren darum bemüht ist, ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten zu bilden, sollte ihren intellektuellen Einfluss auf die Formulierung der IWF-Politik verstärken. Ihr Ziel müsste sein, die politischen Ziele und Methoden des IWF demokratischer zu gestalten und damit der Herausforderung der nachhaltigen Entwicklung ebenso gerecht zu werden wie den Lehren der Geschichte.

dt. Bodo Schulze

* Ehemalige Chefökonomin am UN-Entwicklungsprogramm (UNDP).

Fußnoten: 1 Während das Einkommen der reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 1960 dreißigmal so hoch lag wie das Einkommen der ärmsten 20 Prozent, stieg das Verhältnis bis 1997 auf das Vierundsiebzigfache. Der Abstand zwischen dem Durchschnittseinkommen in den reichen Ländern und dem in den armen Ländern stieg zwischen 1960 und 1993 von 5 700 Dollar auf 15 400 Dollar an. (vgl. die UNDP-Berichte über die menschliche Entwicklung von 1996 und 2000). 2 „Latin America no better off now, says World Bank“, Financial Times, 4. Februar 2000. 3 „Growth may be good for the poor. But are IMF and World Bank policies good for growth?“, Center for Economic and Policy Research, Washington DC, August 2000. 4 The New York Times, 12. Oktober 1999. 5 Joseph Stiglitz, „The Insider: What I learnt at the world economic crisis“, The New Republic vom 17. April 2000. 6 Dazu Noam Chomsky, „Die USA und das internationale Recht: Das Besorgnis erregende Konzept vom Schurkenstaat“, Le Monde diplomatique, August 2000.

Le Monde diplomatique vom 15.09.2000, von ISABELLE GRUNBERG