15.09.2000

Vom postkolonialen Staat zum Multinationenstaat

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Vom postkolonialen Staat zum Multinationenstaat

Von MWAYILA TSHIYEMBE *

AUF dem Jahresgipfel der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) im togolesischen Lomé haben die anwesenden Staatschefs am 12. Juli dieses Jahres einstimmig die Gründungsakte für eine „Afrikanische Union“ nach EU-Muster verabschiedet. Angesichts der Kriege und Staatsstreiche und angesichts des Scheiterns der postkolonialen Staaten rückt der große Traum der Vereinigten Staaten von Afrika wieder ins Blickfeld. Doch zuallererst bedarf es eines neuartigen „Multinationen-Staatsmodells“, das sozialen Frieden und Demokratie mit den Traditionen des Kontinents in Einklang bringt.

„Vereinigte Staaten von Afrika“ – der große Traum, der seit den ersten Tagen des Panafrikanismus gehegt wird, taucht derzeit in sämtlichen Debatten über afrikanische Gemeinschaften auf. Nach Ansicht zahlreicher führender Politiker hat das Scheitern des postkolonialen Staats wesentlich die Marginalisierung des Kontinents und die wachsende Gewaltbereitschaft verursacht, die weite Landstriche Afrikas ins Chaos stürzt. Dieses Scheitern ist außerdem für die dramatisch anwachsende Armut verantwortlich, die Millionen und Abermillionen von Menschen dem Hungertod preisgibt, auch die letzten noch verbliebenen gesellschaftlichen Bindungen zerstört und den verheerenden Aids- und Malaria-Epidemien Tür und Tor öffnet. Gleichzeitig sind die Führungskräfte arbeitslos, außer Landes gegangen oder sie überdauern in einem bankrotten öffentlichen Dienst, sodass das Wissen, das sie sich unter großen Kosten und Mühen an westlichen Schulen und Universitäten angeeignet haben, nun praktisch brachliegt.

Doch nur wenige von denen, die diese düstere Diagnose stellen, suchen nach einem neuen, von afrikanischen Traditionen inspirierten Staatsmodell, das doch allein einen Ausweg aus der Krise ermöglichen würde und den Herausforderungen der Globalisierung begegnen könnte. Ohne einen solchen Neuanfang läuft das Projekt der Vereinigten Staaten von Afrika Gefahr, eine Leerformel zu bleiben; und auf dem ganzen Kontinent wird es weder einen Rechtsstaat geben, der diesen Namen wirklich verdient, noch eine stabile Entwicklung, kein Erwachen der geistigen Kräfte und keinen Aufbruch zu neuen Ufern. Dabei fehlt es dem Kontinent genau daran am meisten.

Tatsächlich wird mit dem Scheitern des postkolonialen Staats der „Wunsch nach Zusammenleben“ in Frage gestellt, es handelt sich um eine ernsthafte Sinn- und Entwicklungskrise. Zwischen den Nationen (bzw. Ethnien) und den Staatsbürgern besteht eine abgrundtiefe Diskrepanz hinsichtlich der Grundwerte der Gemeinschaft: Es gibt keine gemeinsame Definition einer freien Gesellschaft, einer allgemein verbindlichen Staatsmacht, eines als natürlich angenommenen Rechtsmodells. Seitdem die plurinationalen Gesellschaften das Ende ihres Staatsmodells nur überlebt haben, um einer Karikatur des westlichen Staatsmodells unterworfen zu werden, ist das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft konfliktgeladen.

Obgleich die Kolonialherrschaft den Prozess der Staatenbildung in Afrika unterbrochen hat, sind die afrikanischen Gesellschaften dem Wesen nach immer noch plurinational. Die präkolonialen Nationen – die diesen multinationalen Staaten ihre Identität verliehen haben – existieren bis heute, wenn auch zersplittert und häufig auf mehrere Staaten verteilt. Doch stellt diese Situation nicht notwendigerweise ein Hindernis für die Wiederherstellung eines gesellschaftlichen Zusammenhalts dar. Denn die Krise des herkömmlichen Nationalstaats hat eine unerwartete Konsequenz: Sie hat den Begriff der „Nation“ von der Vorherrschaft des Rechts befreit und ihn jedes revolutionären Zaubers beraubt. Das zeigen der Zusammenbruch der Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawien, die Aufspaltung der ehemaligen ČSSR in eine tschechische und eine slowakische Republik, der Genozid der Tutsi und das Chaos in Somalia.

Jenseits des europäischen Nationalstaats

HEUTZUTAGE lässt sich unterscheidung zwischen einer Nation im juristischen Sinne – dem „Staat“ – und einer Nation im soziologischen Sinne – womit die „Ethnie“ gemeint ist. Letztere entsteht aus einer Gemeinsamkeit von bestimmten Merkmalen (Sprache, Abstammung, Religion, gemeinsame Geschichte) und einem nachweislichen Wunsch nach Zusammenleben. Sie bildet das Fundament der Ursprungsnationalität, deren Existenz vom postkolonialen Staat nur beiläufig zur Kenntnis genommen wird, denn da der postkoloniale Staat allein durch den Willen der Kolonialmächte zusammengefügt wurde, ist ihm das historische und administrative Gedächtnis der Menschen und Länder fremd.

Die Rehabilitierung dieser „Nationen“ macht es möglich, die Bewusstseinskrise der Nationen und die Identitätskonflikte zu beenden, die Afrika erschüttern, aber auch für die Zukunft zu verhindern, dass mit der Leugnung nationaler Zugehörigkeiten politisches Schindluder getrieben wird, etwa um im Osten von Kongo-Kinshasa die Gemeinschaft der Banyamulenge zu vertreiben, um den ehemaligen Präsidenten Kenneth Kaunda aus Sambia oder den einstigen Ministerpräsidenten Alassane Ouattara aus der Elfenbeinküste des Landes zu verweisen. In einem Multinationenstaat würde überall das Gesetz gelten, dass die Nationalität durch das Bewusstsein und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Merkmalsgemeinschaft (Akan, Mosi, Bamileke) definiert wird, während die Staatsbürgerschaft durch das Bewusstsein und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat (Elfenbeinküste, Burkina Faso, Kamerun) definiert wäre.1

Die „Renaissance“ des Staats kann sich auf die Afrikanität berufen. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung hatte Schwarzafrika nämlich – anders als Europa – ein eigenes Modell von Multinationenstaat und Stammesnation geschaffen: die Reiche von Äthiopien, Ghana, Mali, Songhay, Noupé, Ifé, Benin, Kanem-Bornou, Kongo, Monomopata oder Simbabwe etwa haben ihren Ursprung im afrikanischen Mittelalter.2 In diesen Gesellschaften war das Politische der Erfindung des Staats vorausgegangen – während die klassische Politiktheorie die Entstehung des Politischen mit der Herausbildung des Nationalstaats gleichsetzt.

Im Gegensatz zum Nationalstaat, der das Monopol der Rechtssetzung besitzt, haben die afrikanischen Gesellschaften aufgrund ihres plurinationalen Charakters zwei autonome Räume der Rechtssetzung in die Gründungsakte ihres Multinationenstaates eingeschrieben: einen staatlichen Raum (Ort der allgemeinen Rechtssetzung) und einen nationalen oder ethnischen Raum (Ort der partikularen Rechtssetzung: des Boden-, Erb-, Personenstandsrechts usw.). Der Einzelne bewegt sich in einem wahrhaften Rechtspluralismus, je nachdem, welcher der beiden Räume ihn betrifft, welcher Art von Aktivität er nachgeht und welchen Status er für sich reklamiert.

Es käme also darauf an, das afrikanische Recht aus dem Raum des Nichtrechts, der immer als „Brauchtum“ bezeichnet wird, zu befreien, in den es durch den postkolonialen Nachahmungsdrang – eine Erbschaft des Kolonialismus – verdrängt worden ist, und den alten Rechtspluralismus wiederherzustellen. Die afrikanische Charta der Menschenrechte wollte fraglos diese Besonderheit zum Ausdruck bringen, als sie den Begriff des „Rechts der Völker“ einführte, ohne allerdings dessen Inhalt zu präzisieren. So konnte der postkoloniale Staat seine souveräne Vorherrschaft behaupten, und manche Völker wurden ihrer „eigenen Subsistenzmittel“ (im Sinne von Artikel 1 der Charta) beraubt: etwa das Volk der Ogoni im Nigerdelta, dem Erdölgebiet Nigerias, oder die Dioula der Casamance, die gegen den senegalesischen Staat rebellieren.

Im Übrigen stehen in diesem Modell des Multinationenstaats die Rechte der Minderheiten nicht im Widerspruch zu den Rechten der Mehrheit, denn der Akt der Neugründung des republikanischen Pakts verpflichtet den Staat und die ihn konstituierenden Nationen, im Interesse des gemeinsamen Schicksals das Prinzip der Gleichheit und das Recht auf Differenz zu respektieren. Im Gegenzug besitzen diese Nationen automatisch dieselben Rechte und Pflichten, die sich aus den „Gründungsrechten“ ergeben, vor allem aus dem Recht, ihre eigene Sprache zu sprechen, ihre Religion auszuüben und ihre Kultur zu bewahren, ihre eigene Nationalität zu haben usw. Das heißt, die Frage der Minderheitenrechte stellt sich in einem Multinationenstaat überhaupt nicht, denn ihr fehlt jede politische Grundlage.

Daraus ergibt sich eine Art integraler Föderalismus, der die Macht nach der Logik einer dreifachen Föderation verteilt: der Nationen, der Staatsbürger und der „Terroirs“ (Stammesregionen). Er funktioniert auf der Grundlage des Postulats, dass der Staat als Apparat mehrerer Nationen fungiert, die sich wiederum auf mehrere Terroirs verteilen. Folglich können Autorität und politisches Handeln nur dann effizient sein, wenn die Macht zunächst auf der Ebene der Nationen und der Staatsbürger und dann hinsichtlich der Terroirs zugesprochen wird. Das heißt, dass die Chefferien (territoriale Einheiten, die der Autorität eines Stammeshäuptlings unterstehen), die Kommunen und autonomen Provinzen nur insoweit politische Bedeutung haben, als sie die Wiege der jeweiligen Nationen und Staatsbürger – der Begründer der politischen Ordnung – darstellen.

Durch die Umwandlung dieser zwischenstaatlichen Kollektivitäten in Räume der politischen Mitbestimmung – eine wichtige Neuerung des integralen Föderalismus – werden verschiedene Völker in einem gemeinsamen Schicksal zusammengeschmiedet, was jede Art von „ethnischer Säuberung“ verhindert. Während also der territoriale Föderalismus des Nationalstaats auf dem Postulat beruht, dass – da die Nation einheitlich und unteilbar ist – die politische Autorität nur dann wirksam ausgeübt werden kann, wenn sie sich über das gesamte Territorium erstreckt, auf dem die Bevölkerung lebt, muss die Macht im Falle eines integralen Föderalismus aufgeteilt werden, und zwar entsprechend der politischen Teilung des Territoriums: in Kantone, Kommunen, Bundesstaaten usw.

Die Föderation der Terroirs legt den Gedanken nahe, das europäische Konzept des „Territoriums“ aufzugeben und stattdessen auf die afrikanische Vorstellung von Raum zu setzen, der als Lebensrahmen verstanden wird und die Menschen durch Netzwerke, Handelsströme und Gedächtnisorte an ihren Boden und ihre Umgebung bindet. Im Übrigen besteht in vielen Fällen keine Wechselbeziehung zwischen dem politischen und dem soziokulturellen Raum.3 Um den Multinationenstaat auf dem doppelten Konsens sowohl der Nationen als auch der Staatsbürger zu gründen – und damit Staatsbürgerschaft (Individualismus) und Multinationalität (Kommunitarismus) als zwei Pole der Legitimation miteinander in Einklang zu bringen –, ist ein neuer gesellschaftlicher Pakt unerlässlich.

Multinationalität4 definiert sich in diesem Sinne als politischer Raum, in dem ein neuer demokratischer Pakt gegründet und vermittelt wird, der jede der Nationen sowie den Staat im gemeinsamen Interesse rechtlich auf strikte Einhaltung der Gleichheit und des Rechts auf Differenz verpflichtet. Wo politische Einheit und nationale Einheit wirklich auseinander gehalten werden, stellt Multinationalität eine neue Existenzform des Staats dar.

Die so definierte „Multination“ bringt zwei Prinzipien hervor: zum einen das Prinzip der doppelten Repräsentativität von Nationen und Staatsbürgern als zwei verschiedenen Einheiten; zum anderen das Prinzip der teilbaren oder geteilten Souveränität, wobei die Verwirklichung dieser Teilung im Innern die Nationen und Staatsbürger, nach außen die Staaten begünstigt – wie es zur Zeit der Fall ist bei der wirtschaftlichen und politischen Integration innerhalb der EU, bei der Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten (Cedeao) oder demnächst bei den Staaten des südlichen Afrika.

Eine derartige Multinationalität ist mit neuen politischen Rechten verbunden: Wahlrecht, Existenzrecht, Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung, Recht auf den Boden der Vorfahren, Recht auf Teilhabe an den natürlichen Ressourcen usw. Multinationalität bedeutet eine „Republikanisierung“ der herkömmlichen Macht, die durch eine Reihe von Mechanismen Tradition und Modernität zu harmonisieren sucht: durch eine Rehabilitierung der Chefferie (Regierung und Parlament) als unterstem lokalem Gemeinwesen, über dem die autonome Kommune und die Region rangieren; durch die Übertragung von Kompetenzen an die Chefferie, was Personenstand, Gesundheitsversorgung, Grundschule, landwirtschaftliche Entwicklung und Sanktionierung des Wahlrechts innerhalb der Nationen betrifft, damit sie auf kommunaler, regionaler und föderaler Ebene ihre Repräsentanten für die Zweikammerparlamente bestimmen können.

Dieses Wahlrecht üben Mandatsträger aus – so genannte Wahlmänner –, die jede Dorfgemeinschaft mit Hilfe eines spezifischen Kollegiums unter den verschiedenen sozialen und beruflichen Gruppen frei bestimmt. Das heißt, die politischen Parteien besitzen kein Monopol des politischen Handelns, und die Regierung der Chefferie kann an die Kompetenz eines jeden Bürgers appellieren. Diese Erneuerung stellt weder die inneren und äußeren Grenzen des Staats in Frage, noch riskiert sie die Balkanisierung der Nationen, wie sie auf dem Berliner Kongress von 1878 eingeleitet wurde.

Im Unterschied zum Nationalstaat bemächtigt sich der Multinationenstaat nicht seiner Bürger; vielmehr sind sie es, die den Staat begründen und die Regierenden nach allgemein akzeptierten Regeln einsetzen und abberufen. Mit der Umkehrung dieser dialektischen Beziehung wird auch die Staatsbürgerschaft zu einer Variablen: Im föderierten Multinationenstaat gibt es nur eine einzige, im konföderierten Multinationenstaat eine doppelte Staatsbürgerschaft, die hier an die Stelle der klassischen doppelten Staatsangehörigkeit tritt. Die Staatsbürgerschaft der Europäischen Union, wie sie im Artikel 8 des Vertrags von Maastricht definiert ist, geht in diese Richtung.

In radikaler Abkehr vom klassischen Ansatz erneuert die auf den Völkern gegründete – „demotische“5 bzw. pluralistische – Konstitution die juristische Infrastruktur, wobei sie den gesellschaftlichen Pluralismus jenseits des Mehrparteiensystems berücksichtigt: Sie gibt den unterschiedlichen Komponenten der heterogenen Gesellschaften ihren Status als Völker oder Nationen zurück und schafft damit eine juristische und politische Realität, die sich von der des Multinationenstaats unterscheidet. Trotz der vom Kolonialismus aufgezwungenen politischen Einheiten bezeugen die verschiedenen Bevölkerungsgruppen – zusammengewürfelt, wie sie sind – den Fortbestand ihrer jeweiligen Identität. Sie sind weit davon entfernt, sich als vereinheitlichter, homogenisierter Körper in einen chimärenhaften Nationalstaat einzufügen, sondern bringen vielmehr eine Vielfalt soziologischer Nationen zum Ausdruck, die auf der Suche nach dem Staat aller Völker, wenn nicht gar aller Nationen sind (Akan, Bambara, Bamiléké, Dioula, Fang, Haussa, Peul, Mandingue, Ibo, Hutu, Luba, Lunda, Kikuyu, Kongo, Mboshi, Mosi, Ovimbundu, Sara, Shona, Tutsi, Tuareg, Yoruba, Vili, Wolof, Zulu, Xhosa usw.).

So gesehen hat die Konstitution des Multinationenstaates nicht nur das Ziel, der Regierung und dem Bürger einen anerkannten Status zu verleihen (siehe Kasten). Vor allem verhilft sie den soziologischen Nationen oder Ethnien zu einem politischen und juristischen Status, der ihnen das gleiche unveräußerliche Recht auf Legitimation des Staats und auf Ausübung der Macht wie den Staatsbürgern geben soll. In diesem Sinne begründet die Konstitution – und zwar erstmals im postkolonialen Afrika – den juristischen Status eines Staats, der aufgrund seines demokratischen Charakters, seines Rechts, seiner Geschichte und seiner Kultur mit den sozialen Logiken der plurinationalen Gesellschaften, die ihm Form und Bedeutung verleihen, vereinbar ist.

Eines der Grundprinzipien des Regierens in traditionellen Gesellschaften ist die Berücksichtigung der Tatsache, dass die Mehrheit sich auch manchmal irren kann. Die Rehabilitierung dieses Prinzips hat eine wesentliche Korrektur am westlichen Demokratiemodell anzubringen, das ja als Macht der Mehrheit konzipiert ist. Ziel dieses traditionellen Prinzips ist es, das Prinzip Gewinner/Verlierer aufzulösen und durch das Prinzip Gewinner/Gewinner zu ersetzen, um so eine Demokratie zu begründen, in der die Macht geteilt wird, und zwar entsprechend dem durch Wahl ermittelten Verhältnis der Kräfteverteilung. Dies gewährleistet, dass die Mehrheit viel gewinnt, dass aber auch die Minderheit gewinnt.

Ein patriotischer Humanismus

ES geht dabei nicht darum, einer aus Wahlen hervorgegangenen Mehrheit das Regieren schwer zu machen, sondern darum, dass die Macht zu regieren von der Macht, die Regierungsgeschäfte zu kontrollieren, getrennt wird. Erstere wird von der Mehrheit ausgeübt, Letztere von der parlamentarischen Opposition.

In den Gesellschaften Ruandas und Burundis beispielsweise, wo die Dualität von Hutu-Mehrheit und Tutsi-Minderheit unüberwindbar scheint, bedarf es zur Wiederherstellung des inneren Friedens mehrerer Hebel: Anerkennung der Hutu, Tutsi und Twa als unterschiedliche Völker; Ausarbeitung eines republikanischen Pakts, basierend auf der proportionalen Aufteilung der gesamten Staatsmacht zwischen den drei Völkern (öffentliche Gewalt, Regierung, Diplomatie, Verwaltung usw.), um zu verhindern, dass ein Wahlsieg einer der Parteien das Existenzrecht einzelner Völker in Frage stellt; Republikanisierung der traditionellen Macht; Proklamierung des unveräußerlichen Rechts jeden Volks, in einem Multinationenstaat Ruanda6 und Burundi in ihren jeweils aktuellen Grenzen in Frieden zu leben.

Im Unterschied zum Nationalstaat, der den Nationalismus propagiert, vertritt der Multinationenstaat die Ideologie eines patriotischen Humanismus. Er fühlt sich verantwortlich für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte – des Staatsbürgers wie des Volks – jenseits von Nationalität, Sprache, Religion, Sitten und Gebräuchen usw. Selbst wenn ihm die Aufgabe anvertraut wurde, den Nationalismus als Ideologie der Völker des von ihm regierten Landes zu schützen, so kann der Multinationenstaat doch nicht die Urheberschaft für sich reklamieren. In seiner Rolle als Heimatland repräsentiert er den Zusammenhalt zwischen den Nationen und Staatsbürgern (Föderation) und den Staaten (Konföderation), der auf den Terroirs basiert, wobei diese als Orte des Gedächtnisses und des heutigen Handelns die Toten und die Lebenden in einem gemeinsamen Geschick verbinden.

Die Renaissance einer multikulturellen Zivilgesellschaft vollzieht sich über die Organisation verschiedener Ebenen der Staatsbürgerschaft, i.e. ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimension. Die politische ist sicherlich die bekannteste, wobei die Proklamierung und Durchsetzung von Bürgerrechten in Schwarzafrika nach wie vor ein vorrangiges Problem ist.

Jenseits einer zukünftigen politischen Wirkung repräsentiert die Staatsbürgerschaft zuallererst einen sozialen Zusammenhang, der auf einer – den Wunsch nach Zusammenleben bestärkenden – Solidarität basiert. Soziabilität und Solidarität stellen eine permanente politische Herausforderung dar, bei der es um ökonomische, soziale und kulturelle Fragen geht. Die Konstituierung dieser neuen Staatsbürgerschaften wird somit zu einem wichtigen Instrument gegen Arbeitslosigkeit, Identitätsverlust, soziale Desintegration, Bürgerkriege usw., das heißt gegen solche Übel, die jeden Typus von Staatsbürgerschaft bedrohen. Solange der Zugang zu ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechten erschwert bleibt, sind alle Länder Pulverfässer. Deshalb muss die klassische Konzeption der Staatsbürgerschaften, die sich ausschließlich am Staat ausrichteten, radikal überdacht werden.

Drei grundlegende Veränderungen sind unumgänglich: Schluss mit der Vorstellung, dass der Staat der einzige Adressat für die Einforderung ökonomischer, sozialer und kultureller Rechte ist; Umwandlung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte in Menschen- und Bürgerrechte, in Rechte der einzelnen Nationen und des Staates, sodass Bürger, Nationen und Staat ins Zentrum der realen Komplexität rücken; und schließlich: Grundsteinlegung für eine neue Politik der Ressourcen-Umverteilung, die darauf basiert, dass jeder Einzelne im Rahmen einer dreigliedrigen Partnerschaft von Staat, Bürgern und Nationen eine aktive Rolle zugewiesen bekommt.7 Die Umwandlung der Subsistenzwirtschaft in eine Ökonomie der Akkumulation muss die wirtschaftliche Effizienz mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in Einklang bringen, die Mobilität des Kapitals mit der Mobilität der Arbeit, die Vorzüge staatlicher Steuerung mit denen des freien Unternehmertums: Nur so können Bürger, Nationen und Staat zu Akteuren ihrer eigenen Geschichte werden.

Auf der Ebene der plurinationalen Gesellschaft bedeutet der Multinationenstaat eine Organisation des Politischen und setzt zugleich eine Kapazität des gemeinsamen Handelns frei, um sich den Problemen und Herausforderungen zu stellen, die das gemeinsame Schicksal belasten. Als demokratischer Staat ist er eine Macht, die die Völker und Staatsbürger akzeptieren und an der sie teilhaben. Als postnationaler Staat folgt er in seiner Struktur dem Prinzip der Einheit in der Vielfalt. So gesehen bildet er einen föderativen Raum für die Stämme, Sprachen, Religionen, Kulturen und Terroirs, also für Traditionen, deren Überleben der Staat zu garantieren hat.

Diese Fragestellung trägt dazu bei, die afrikanische Debatte aus einer zehnjährigen Pseudodemokratisierung herauszuführen, die sie gelähmt hat: Das Schwarzafrika des 21. Jahrhunderts steht in der Pflicht, sein eigenes Modell eines demokratischen Rechtsstaats zu schaffen. Aber selbst dort, wo ein gewisser Wagemut begrüßt wurde, hat Äthiopien sich darauf beschränkt, aus der Anerkennung des ethnischen Pluralismus ein Instrument der politischen Herrschaft zu machen und nicht etwa eine demokratische Revolution. Südafrika, belastet von den ethnischen Manipulationen der Apartheid, hat nicht die Hellsichtigkeit und den Mut besessen, den multinationalen Charakter seiner Gesellschaft anzuerkennen. Und in Uganda wurden zwar einige Stammesreiche rehabilitiert, doch diese Inszenierung der traditionellen Macht dient bis heute lediglich als symbolisches Beiwerk, mit dem sich das Regime legitimieren will.

Die Problematik des Multinationenstaates rückt die Besonderheit Afrikas in den Kontext der Globalisierung, ein Schlachtfeld, auf dem die Kulturen hart aufeinander prallen. Wenn Afrika existieren und sich im dritten Jahrtausend erneuern will, muss der Kontinent hier zum Mitspieler werden. Damit würde er – historische Revanche – einem Europa eine Lektion erteilen, dem angesichts der Krise des Nationalstaats und der Erweiterung der Europäischen Union nichts anderes übrig bleibt, als auf die Vielfalt der Nationen, Sprachen, Religionen, Kulturen, Normen, Regionen usw. zu setzen.

Aufgrund seines demokratischen und postnationalen Charakters könnte der Multinationenstaat also das „idealtypische“ Modell für die konstitutionelle, politische und konzeptuelle Umwandlung der multinationalen Gesellschaften im 21. Jahrhundert liefern, egal ob es sich um soziologische Nationen (im Falle Schwarzafrikas), um juristische oder um Staatsnationen (Europäische Union8 ) handelt. Diese Besonderheit verleiht dem Konzept der „Renaissance“ seinen ursprünglichen Sinn der Regeneration des Alten – und das gilt für den Staat und die Zivilgesellschaft gleichermaßen.

dt. Matthias Wolf

* Direktor des „Institut panafricain de géopolitique“ in Nancy.

Fußnoten: 1 Darüber hinaus wäre die Forderung nach der Ursprungsnationalität ein Vorrecht der traditionellen Chefferien und nicht des Staats. Siehe hierzu Ivan Crouzel, „La chefferie traditionelle face à la démocratisation des pouvoirs locaux“, Dossier Südafrika, Afrique contemporaine, Paris, Nr. 192 (1999), S. 30-39. 2 Ibrahim Baba Kaké, „L'ère des Grands Empire“, in: ACTT/Présence Africaine, Paris 1988. Dieser Historiker siedelt das afrikanische Mittelalter zwischen dem 7. und 16. Jahrhundert an. 3 Siehe Achille Mbembe, „Vers une nouvelle géopolitique africaine“, in: „Afriques en renaissance“, Manière de voir Nr. 51 (Mai-Juni 2000). 4 Es handelt sich um eine Konzeption, die sich von der persönlichen Autonomie unterscheidet, wie Karl Renner sie vertritt. Siehe „Nation, mythe et réalité“, Nancy (Presse universitaires de Nancy) 1998, S. 97-99. 5 Stéphane Pierré-Caps, „État, société et pouvoir à l'aube du XXIe siècle“, in: „Mélanges François Borella“, Nancy (Presse universitaires de Nancy) 1999, S. 403-422. 6 Siehe Anne-Cécile Robert, „Au Rwanda, vivre avec le génocide“, Le Monde diplomatique, Juli 2000. 7 Siehe Philippe Engelhard, „Pour un développement à l'africaine“, Manière de voir Nr. 51 (Mai-Juni 2000). 8 Siehe „L'État multinational et l'Europe“ (Symposiumsprotokolle), Nancy (Presse universitaires de Nancy) 1997.

Le Monde diplomatique vom 15.09.2000, von MWAYILA TSHIYEMBE