15.09.2000

Die „Paschas“ als fragwürdige Erben des Kemalismus

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Die „Paschas“ als fragwürdige Erben des Kemalismus

Von ÉRIC ROULEAU *

DIE Weigerung von Staatspräsident Ahmed Necdet Sezer, ein Regierungsdekret über die Säuberung des öffentlichen Dienstes zu unterschreiben, hat die türkischen Militärs herausgefordert. Generalstabschef Kivrikoglu hat das Parlament ultimativ aufgefordert, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden, das die Vorstellungen der militärischen Führung bedient. Dies ist nur das jüngste Beispiel für die Einmischung der Generäle in die Politik, die sich dabei stets als die einzig legitimen und rechtgläubigen Hüter des Kemalismus aufspielen. Aber die türkische Zivilgesellschaft beginnt zu begreifen, dass die anmaßende Rolle der Armee das größte Hindernis auf dem Weg der Türkei nach Europa darstellt.

Dass Putschisten den Jahrestag ihres Staatsstreiches öffentlich feiern, würde man in einem demokratischen Land zumindest als seltsam empfinden. Als sich in der Türkei kürzlich zwanzig ehemalige Offiziere zusammenfanden, um in diversen öffentlichen Veranstaltungen den vierzigsten Jahrestag der „Demokratischen Revolution“ vom 27. Mai 1960 zu begehen, fand das Ereignis in den lokalen Medien kaum Beachtung. Vielleicht lief es aber auch einfach zu banal ab: die feierliche Niederlegung eines Blumengebindes am Atatürk-Mausoleum, eine öffentliche Konferenz, organisiert vom früheren Hauptmann Numan Esin, der inzwischen als Präsident der „Stiftung der Verfassung von 1961“ zum erfolgreichen Geschäftsmann aufgestiegen ist, ein paar apologetische, von Stolz und Nostalgie triefende Ansprachen. Und zum Abschluss ein typisch republikanisches Festbankett – die Atmosphäre kameradschaftlich, herzlich, kämpferisch –, dessen Höhepunkt darin besteht, dass an die hundert Persönlichkeiten, Militärs und Zivilisten jenseits der Pensionsgrenze, gemeinsam patriotische Lieder absingen.

Erstaunen über solche Szenen wird man freilich nur empfinden, wenn man nichts von der Herrschaftskultur weiß, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hat, und auch nichts von der privilegierten Position, die das türkische Militär in der Republik und davor bereits in der Ära des Osmanischen Reiches eingenommen hat. Die bewaffnete Macht der Hohen Pforte, bis zum 19. Jahrhundert vor allem die Elitetruppe der Janitscharen, hat es sich immer wieder herausgenommen, Sultane zu ermorden, zu stürzen oder zu inthronisieren. In den meisten Fällen zielte ihr Eingreifen darauf, sich ihre Privilegien zu bewahren, doch zuweilen, wenn auch eher selten, erfolgte es auch im fortschrittlichen Sinne.

Letzteres gilt für General Mustafa Kemal, dem es nach dem Ersten Weltkrieg gelang, mit Hilfe eines Teils der Streitkräfte die griechischen Besatzungstruppen zu vertreiben und 1923 die türkische Republik zu begründen. Als erster Präsident (mit dem Ehrentitel „Atatürk“ als „Vater der Türken“ ausgezeichnet) orientierte Mustafa Kemal den jungen Staat entschieden auf die Moderne. Von den zehn Männern, die nach Atatürk das Amt des Staatspräsidenten bekleideten, waren sechs hochrangige Militärs. Seit dem Putsch junger, „radikaler“ Offiziere, im Mai 1960, erlebte die Türkei eine Folge von Verschwörungen und Staatsstreichen der Militärs. Ihren jüngsten Eingriff vom Februar 1997 hat man als „virtuelle“ Machtergreifung bezeichnet, insofern es lediglich der berühmten zwanzig „Empfehlungen“ des Generalstabs bedurfte, um die Koalitionsregierung des islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan zu Fall zu bringen. Damals begannen gewisse türkische Medien im Überschwang der Begeisterung, ihren Idolen an der Spitze der Armee den ehrfürchtigen Titel „Pascha“ zu verleihen, den bereits die Generäle des Osmanischen Reiches getragen hatten.1

Die Paschas der Republik, ob „rechter“ oder „linker“ Couleur, haben sich jedes Mal, wenn sie aus der Kulisse auf die politische Bühne traten, mit der Fahne des Kemalismus drapiert. Seit dem Tod Atatürks im Jahre 1938 ist der Begriff Kemalismus allgegenwärtig: in sämtlichen von den Militärs diktierten Verfassungstexten, in den kemalistisch inspirierten Gesetzen, in den politischen Reden wie auch in der Eidesformel, die der Staatspräsident, die Parlamentsabgeordneten, die Richter und die hohen Staatsbeamten zu leisten haben. Jede politische Meinungsäußerung oder Initiative von innen- oder außenpolitischer Relevanz hat sich zwingend an die angeblichen oder tatsächlichen Vorstellungen des Vaters der Republik zu halten.

Warum Kemal kein Kemalist war

DABEI wäre es allerdings gewagt, den Kemalismus als eine Ideologie zu bezeichnen, denn Atatürk war vor allem ein Pragmatiker. Der Staatsmann und Visionär ließ sich in seiner Politik, mit der die Türkei den Anschluss an die entwickelte Welt schaffen sollte, von den unterschiedlichsten Modellen inspirieren, von der Französischen Revolution ebenso wie von den staatlichen Strukturen der totalitären Mächte seiner Epoche. Wäre Atatürk von einer Ideologie geleitet gewesen, dann hätten im Übrigen seine Nachfolger nicht umstandslos eine Reihe wichtiger Grundsätze seiner Politik revidieren können. Die haben zum Beispiel die Einheitspartei durch ein Mehrparteiensystem ersetzt oder das etatistisch orientierte Wirtschaftsmodell durch ein marktwirtschaftliches abgelöst. Und sie haben sich für die Rechte türkischer Minderheiten im Ausland (in Zypern, Bulgarien, Griechenland usw.) oder muslimischer Völker (Bosniaken, Kosovaren, Tschetschenen) engagiert, was dem Grundsatz Atatürks zuwiderläuft, wonach sich die Türkei mit der Verteidigung der Interessen von Türken oder gar von Muslimen, die Bürger anderer Staaten sind, keinesfalls belasten dürfe. Nicht zuletzt hatte der „Vater der Türken“ den aktiven Militärs auch jede Einmischung in die Staatsgeschäfte untersagt.2

Die Nachfolger Atatürks haben es dennoch vorgezogen, ihn zum Denkmal zu erheben, nachdem sie zuvor alles aus seinem Vermächtnis getilgt hatten, was ihnen überholt oder anstößig vorkam. Auf diese Weise machten sie aus dem „Kemalismus“ eine Staatsdoktrin, für die sie sich das Interpretationsmonopol zuschreiben. Damit können sie alle möglichen Regierungsformen oder politische Entscheidungen nach Belieben rechtfertigen und zugleich diejenigen bestrafen, die dagegen Zweifel anmelden. Man hat also eine simpel formulierte und inhaltlich willkürlich verformbare Doktrin zum absoluten Wert erklärt. Diese Doktrin lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: territoriale Integrität, Einheit der Nation, laizistische Republik. Das sind ehrenwerte Grundsätze, denen man eigentlich nur zustimmen kann. Das Problem ist nur, dass sich die Armee als exklusiver Wächter dieser Grundsätze sieht.

Das Offizierskorps, das diese Rolle wahrnimmt, ist ein klassisches Beispiel für eine elitäre Kaste.3 Die Anwärter auf eine Offizierslaufbahn werden bereits als Jugendliche in die Obhut der Armee genommen. Wer den strengen Auswahlkriterien genügt, erhält seine Ausbildung an einer der Oberschulen, die vom Militär unterhalten werden und deren Lehrpläne nicht der Zustimmung des nationalen Bildungsministeriums bedürfen. Abgesehen von der militärischen Ausbildung werden die Kadetten – auf universitärem Niveau – in den Fächern Geschichte, Politikwissenschaft, Ökonomie und Soziologie unterrichtet und können wahlweise auch mehrere Fremdsprachen erlernen. Die aktiven Offiziere beziehen ein Gehalt, das deutlich über den Bezügen vergleichbarer ziviler Staatsbeamter liegt, außerdem können sie in Warenhäusern der Armee billig einkaufen, erhalten zinsgünstige Darlehen für den Immobilienerwerb und können speziell für das Militär reservierte Ferienanlagen, Hotels und Clubs besuchen.

Die derzeit geltende Verfassung von 1982 haben sich die Generäle so zuschneiden lassen, dass sie die politische Macht der Streitkräfte institutionell verankert. Einmal im Monat tritt der Nationale Sicherheitsrat zusammen. In diesem Gremium, das manche auch als „Schattenkabinett“ bezeichnen, sitzen die fünf ranghöchsten Militärs (vier Generäle und ein Admiral) fünf zivilen Amtsträgern gegenüber4 und formulieren für die Regierung in Fragen der „nationalen Sicherheit“ ihre „Anregungen“, die in der Praxis unwiderrufliche Befehle sind. Wie kürzlich einem Rundschreiben des Generalstabs zu entnehmen war, umfasst der Begriff der nationalen Sicherheit „praktisch alle Angelegenheiten von öffentlichem Interesse“, in der Innen- wie in der Außenpolitik.5 Der Inhalt der Beratungen des Sicherheitsrats – und manchmal sogar seine Entscheidungen – werden geheim gehalten. Als der islamistische Parteiführer Necmettin Erbakan sich im Februar 1997 anschickte, dem Parlament die achtzehn „Empfehlungen“ des Rates zur Auslöschung der „islamistischen Reaktion“ vorzulegen, war damit das Ende seiner Regierung besiegelt. Er tat fatalerweise so, als habe er nicht verstanden, dass es sich bei diesem Ultimatum um die Ouvertüre des „virtuellen“ Staatsstreichs handelte. Offenbar hatte er vergessen, was im Osmanischen Reich gegolten hatte: Wenn die Tage des Sultans gezählt waren, erkannte er dies daran, dass die Janitscharen zum Zeichen ihres Zorns ihre Kochkessel umdrehten.

Dieselbe Verfassung gewährt den Streitkräften darüber hinaus eine Autonomie, wie sie in keinem demokratischen Land denkbar wäre.6 So steht der Generalstabschef über dem Verteidigungsminister und sämtlichen anderen Kabinettsmitgliedern, in der protokollarischen Rangordnung kommt er direkt nach dem Ministerpräsidenten und ist diesem außerdem in höchst sensiblen Entscheidungsbereichen übergeordnet. In die Zuständigkeit des Generalstabschefs fallen unter anderem die Ernennungen und Beförderungen in den Reihen des Militärs, die Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit des Landes, die Festlegung der Verteidigungspolitik und die Entscheidung über die Produktion und den Kauf von Rüstungsgütern – deren Kosten im Übrigen nicht im Staatshaushalt aufgeführt werden.

Insofern ist es bezeichnend, dass man die Zeitschrift Defense Week vom 14. Februar 2000 lesen muss, um zu erfahren, dass für die Modernisierung der türkischen Streitkräfte in den kommenden fünfzehn Jahren rund 70 Milliarden Dollar vorgesehen sind. Auch ist es seit langem Usus, dass der Haushaltstitel für die laufenden Kosten der Armee (die nicht im Einzelnen ausgewiesen werden, obwohl sie ein Drittel oder mehr der staatlichen Einnahmen verschlingen) vom Parlament durch Akklamation und ohne Debatte verabschiedet wird. Wobei die Versammlung anschließend dem Generalstab einmütig ihre „Glück- und Segenswünsche“ übermittelt. Weiterhin hat der Generalstab aufgrund der Verfassung und der entsprechenden Gesetze die direkte oder indirekte Kontrolle über das Universitätswesen und die entscheidenden Bereiche der Justiz. Strafverfahren wegen staatsfeindlicher Äußerungen und Aktivitäten werden vor Staatssicherheitsgerichten geführt, die bis vor kurzem mit hochrangigen Militärs besetzt waren. Parlamentsabgeordnete, Universitätsrektoren, Anwälte, Staatsanwälte und Richter, sie alle sind gehalten, sich jene restriktive Definition von bürgerlichen Freiheiten zu Eigen zu machen, die in der Verfassungspräambel formuliert ist: „Meinungen oder Äußerungen, die gegen die nationalen Interessen der Türkei [...], die traditionellen und geistigen Werte des türkischen Volkes [...] oder die auf Modernisierung gerichteten Grundsätze und Reformen Atatürks gerichtet sind, genießen keinen Schutz.“

Die damit gemeinten Prinzipien werden in Artikel 13 der Verfassung etwas näher, aber nicht unbedingt genauer bezeichnet: „Die unteilbare Einheit des Staates, die nationale Souveränität, die Republik, die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung, das öffentliche Interesse, die guten Sitten, die öffentliche Gesundheit“. Artikel 14 geht noch weiter und untersagt den „Missbrauch“ von Rechten und Freiheiten, einschließlich solcher, die als legitim gelten. Wie man sieht, kann Anklage also nicht nur aufgrund von Taten erhoben werden, sondern auch wegen Meinungen und Äußerungen, die als verwerflich gelten. In Artikel 130 heißt es sogar, dass „Forschungen und Veröffentlichungen mit wissenschaftlichem Charakter“ von den Dekanen der Universitäten verboten werden können, wenn sie für unvereinbar mit den zuvor genannten Grundwerten erachtet werden.7 Restriktionen unter Berufung auf die kemalistischen Grundsätze stehen auch in einigen Gesetzen, die unmittelbar nach Inkrafttreten der Verfassung von 1982 verabschiedet wurden, also im Wahlgesetz, im Parteiengesetz und im Gesetz über die Berufsverbände und Gewerkschaften. Dass die politische Macht der „Paschas“ so gut abgesichert ist, liegt aber auch an ihrer bemerkenswerten wirtschaftlich-finanziellen Grundausstattung.8 Die Armee besitzt eine weit verzweigte Holding namens Oyak, die aus rund dreißig großen Industrie- Handels- und Export-Unternehmen besteht. Sie ist in einer Vielzahl von Branchen engagiert, etwa in der Auto-, der Zement und der Nahrungsmittel-, Chemie- und Mineralölindustrie, aber auch im Tourismus, im Versicherungs-, Bank- und Immobiliengewerbe, in Supermarktketten und Unternehmen der Hochtechnologie. Etwa 30 000 Menschen sind in diesen Unternehmen beschäftigt, nicht gerechnet die Mitarbeiter der Partnerfirmen. Oyak-Renault, ein Juwel innerhalb der Holding, hat eine Produktionskapazität von 160 000 Fahrzeugen im Jahr.9 Als einer der drei oder vier größten türkischen Konzerne ist Oyak von erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeutung – und reichlich mit Kapital ausgestattet. Das stammt aus den Beiträgen der Armeeangehörigen, die 10 Prozent ihrer Bezüge in die Pensionskasse einzahlen müssen, und aus den Gewinnen der einzelnen Unternehmen, die angeblich zu den profitabelsten der Türkei gehören. Was kein Wunder ist, denn die Oyak zahlt keine Steuern und Abgaben. Ihre Konkurrenten aus dem privaten Sektor sehen in diesem Privileg zweifellos eine Form von unlauterem Wettbewerb. Doch das Großkapital hält still, weil es von der Oyak teils aus Eigeninteresse, teils aus taktischen Erwägungen an ihren Geschäften beteiligt worden ist. Professor Taha Parla von der Bosporus-Universität in Istanbul hat herausgefunden, dass zu den Partnern der Oyak einige der mächtigsten Unternehmensgruppen des Landes gehören, darunter die Konzerne der Familien Koc und Sabanci, die als die „Tycoons“ von Industrie und Handel gelten, wie auch Taskent, der „Pate“ der Privatbanken. Diese privaten Partnerunternehmen versorgen überdies hochrangige pensionierte Offiziere mit Aufsichtsratsposten – teils um sich für Gefälligkeiten zu revanchieren, teils um die Verbindung zu den aktiven Militärs zu pflegen. Es gibt mit anderen Worten eine stabile Allianz zwischen der Militärelite, dem nationalen und internationalen Großkapital und der staatlichen Bürokratie, die zugleich die drei Pfeiler der Oyak-Konstruktion darstellen. Daneben gibt es noch die Stiftung für die Stärkung der türkischen Streitkräfte (TSKGV), die etwa dreißig Industrieunternehmen im Besitz der Armee zusammenfasst und die gleichen Sonderrechte genießt wie die Oyak. Die TSKGV beschäftigt 20 000 Menschen, und da ihre Betriebe ausschließlich der Rüstungsproduktion dienen, schafft sie indirekt weitere Zehntausende von Arbeitsplätzen in Zulieferunternehmen. Die Profite der militärischen Unternehmen fließen zu über 80 Prozent in einen Rücklagefonds, der auf dutzende Milliarden Dollar geschätzt wird. Professor Taha Parla sieht darin eine originelle Art, die Akkumulation des (militärischen) Kapitals zu fördern, die sich von den Methoden im (zivilen) Privatsektor deutlich unterscheidet.

Der Wunsch ist Befehl

ARMEE, Großkapital und Staatsbürokratie haben nicht nur den Flankenschutz eines ganzes Arsenal verfassungsmäßiger und gesetzlicher Bestimmungen. Dem kemalistischen Triumvirat kommt auch ein zusätzlicher Einflussbonus zugute, wenn sich die politischen Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten verändern, wenn also die Gegenkräfte im Zentrum der Gesellschaft geschwächt werden, weil die politische Klasse – wie in den vergangenen Jahren geschehen – ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Das führt dazu, dass die Parteien, das Parlament, die Regierung und die Medien kuschen, wenn das Militär Recht und Gesetz mit Stiefeln tritt. So protestierte zum Beispiel niemand, als die „Paschas“ nicht bereit waren, dem Parlament den Wortlaut der Verträge mitzuteilen, die sie mit Israel geschlossen hatten, oder als die türkischen Streitkräfte ohne Wissen der Regierung im Nordirak einen Großangriff gegen die Kräfte der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) eröffneten. Das Militär durfte auch unbeanstandet die Verschiebung der Wahlen verweigern, die immerhin von einer parlamentarischen Mehrheit befürwortet wurde; oder die Streichung von Artikeln aus dem Strafgesetzbuch, die gegen die Persönlichkeitsrechte verstoßen, für unangebracht erklären; oder die Untersuchung von Skandalen blockieren (vor allem was die besonders schrecklichen Aspekte des Kurdenkrieges betrifft), die dem Ansehen der Streitkräfte zu schaden drohten. Und immer blieb der Schein gewahrt, denn die Anordnungen ergingen zumeist in Form von „Ratschlägen“ oder „Wünschen“, die das eine oder andere Mitglied des Generalstabs äußerte. Hinter den Kulissen dürften weniger dezente Druckmittel zum Einsatz gekommen sein.

Zum Glück für die Armee tauchten rechtzeitig neue riesige Probleme auf – als Ersatz für die Bedrohungen, die einst die zentrale Rolle der Armee legitimiert hatten. Auf die Angst vor der Sowjetunion und dem Kommunismus folgten die Schrecken des „islamischen Fundamentalismus“ und des „kurdischen Separatismus“, und schon war die Legitimation und Popularität der „Paschas“ als bewährte Verteidiger von Laizität und territorialer Integrität der Republik erneut bestätigt. Natürlich lieferten die Kämpfer der PKK die Bestätigung für die offiziellen Theorien, indem sie mit Waffengewalt versuchten, einen unabhängigen Kurdenstaat in den Südostprovinzen der Türkei zu schaffen und sich überdies auf den Marxismus-Leninismus beriefen. Als dann aber die Organisation von Abdullah Öcalan schließlich von ihren Maximalforderungen abrückte und immer wieder Verhandlungen über ein Autonomiestatut oder eine bundesstaatliche Lösung anbot, als sie gar nur noch eine Demokratisierung forderte, die den Kurden die elementaren Rechte sichern sollte, als sie wiederholt einen einseitigen Waffenstillstand ausrief, wurden alle diese Vorschläge von der Armee ignoriert oder als Kriegslist denunziert.10 Kurdische und türkische Intellektuelle, die für die Anerkennung wenigstens der kulturellen Rechte der Kurden eintraten, wurden unter der Anklage des „Separatismus“ und der „Komplizenschaft“ mit der PKK vor Gericht gestellt. So schleppte sich der Krieg, der 1984 begonnen hatte, bis zur Festnahme Öcalans im Februar 1999 fort. Eine Bilanz von fünfzehn Jahren mit Gräueltaten auf beiden Seiten; mit der Zerstörung von etwa zweitausend kurdischen Siedlungen und der Vertreibung von Hunderttausenden von Dorfbewohnern; mit Massenverhaftungen, Folterungen und den gezielten Mordaktionen der „Todesschwadronen“, die wahrscheinlich von Repräsentanten eines Staatsapparats gedeckt wurden, der seinerseits durch ein Geflecht mafiöser Beziehungen korrumpiert war.

Der sinnlose Krieg (der ja keine Lösung des Kurdenproblems brachte) hatte katastrophale Auswirkungen, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Er führte nicht nur zu einer empfindlichen Einschränkung der Bürgerrechte, die Kriegskosten von schätzungsweise 150 Milliarden Dollar warfen die wirtschaftliche Entwicklung zurück und bewirkten eine Senkung des Lebensstandards. Und statt zur „Festigung der Einheit der Nation“ beizutragen, hat er den Graben zwischen Türken und Kurden nur noch weiter vertieft.

Der PKK-Konflikt hängt in gewisser Weise mit der Auseinandersetzung zwischen türkischer Armee und Islamisten zusammen. Als die Putschisten von 1980 den Kampf gegen die extreme Linke eröffneten, zu der auch die Kurdenorganisation gehörte, begünstigten sie zugleich die islamischen Gruppierungen, die als Bollwerk gegen den „Kommunismus“ galten. So machte man Religion zum Pflichtfach in den staatlichen Grund- und Oberschulen, man ließ die islamische Partei Refah zu – also genau die Partei, die dann nach ihren ersten Wahlerfolgen 1994 und 1995 zum entscheidenden Feind gestempelt wurde.

Dass dieser Konflikt so schwer zu begreifen ist, liegt an zwei Aspekten, die widersprüchlich und unklar sind. Zum einen geht es um den Begriff der Laizität, der in der Türkei nicht die Trennung von Staat und Religion meint, sondern vielmehr die Integration der Religion, ihre Kontrolle und nötigenfalls ihre Instrumentalisierung durch den Staat.11 Das Amt für religiöse Angelegenheiten, das über erhebliche Mittel aus dem Staatshaushalt verfügt, ist unter anderem auch für die rund fünfhundert so genannten Imam-Hatip-Schulen zuständig. Diese höheren (nichtstaatlichen) Schulen dienen der Ausbildung von islamischen Geistlichen, in der Praxis sind sie jedoch Lehrstätten, in denen Hunderttausende, die später im Staatsapparat oder in der Privatwirtschaft leitende Positionen bekleiden, eine religiöse Bildung mitbekommen. Auch hat das Amt für religiöse Angelegenheiten aus Steuergeldern Tausende von Moscheen errichten lassen, um langfristig einen „aufgeklärten“ Islam zu fördern, der mit den Grundsätzen des Kemalismus vereinbar sein sollte. Den Erfolg dieses Projektes darf man inzwischen füglich bezweifeln, und ebenso kann man sich fragen, weshalb die Angabe der Religion auf den türkischen Ausweisen vorgeschrieben ist. Schließlich heißt es in der Verfassung, dass „niemand gezwungen werden darf, seine religiöse Überzeugung preiszugeben“. Hat hier also eine „Verstaatlichung des Islam“ stattgefunden, wie es die Anhänger des bestehenden Systems sehen, oder eher eine „Islamisierung des Staates“, wie seine Gegner behaupten? Unklar ist auch, was es mit der jeweiligen „islamistischen“ Partei auf sich hat, die man so gern verteufelt – derzeit ist es die Fazilet-Partei (FP), die Nachfolgerin der nach dem „virtuellen“ Putsch von 1997 verbotenen Refah. Ihr Gründer Necmettin Erbakan ist ein altgedienter Politiker und Abgeordneter, der bereits in einer Linkskoalition und einer Rechtskoalition stellvertretender Ministerpräsident war. Auch die neue Partei kann man gewiss nicht als „fundamentalistisch“ bezeichnen. Sie mag islamisch orientiert sein, aber eher so, wie die Christdemokraten im Westen christlich sind: Sie bekennt sich zur Republik und dem Grundsatz der Laizität – „nach französischem Vorbild“, wie es ihr Gründer formuliert – sowie zum Mehrparteiensystem und zu den persönlichen Freiheitsrechten. Diese FP füllt auch das politische Vakuum, das die Zerschlagung der Linken in den Jahrzehnten der Repression hinterlassen hat.12 Sie setzt sich für die „Verlierer“ ein, die Arbeiter, die kleinbürgerlichen Schichten in Stadt und Land und vor allem in der Provinz, im türkischen „Hinterland“ mit seiner eigenen, anatolisch und muslimisch geprägten Kultur. Damit trifft die Fazilet einen wunden Punkt, vor allem weil sie – wenngleich indirekt – die politische Macht der Armee in Frage stellt, aber auch die Leugnung der kurdischen Identität, die den Islamisten überall dort besonders viele Stimmen einbringt, wo prokurdische Gruppierungen nicht zu den Wahlen antreten dürfen. In jedem Fall ist der wahre Kern der Auseinandersetzung keineswegs die Frage der Laizität.

Daher ist es durchaus begreiflich, dass der Generalstab behauptet, die Gefahren für die Republik – die gleichermaßen von den Kurden und den „Anatoliern“ ausgehen – seien auch nach der Zerschlagung der PKK und der Niederlage der Fazilet-Partei bei den letzten Wahlen noch lange nicht gebannt. Diese anhaltenden „Bedrohungen“ liefern auch den Grund dafür, dass die zuständigen Staatsorgane noch keine Anstalten gemacht haben, jene Demokratisierung einzuleiten, die von der Europäischen Union seit Jahren, und vor allem seit dem Helsinki-Gipfel im Dezember 1999 gefordert wird. Allerdings ist die Türkei nunmehr angehalten, innerhalb von fünf Jahren die so genannten Kopenhagen-Kriterien zu erfüllen; erst dann können die Verhandlungen über ihren Beitritt zur Europäischen Union beginnen.13 Sofern man diese Bedingungen in Ankara ernst nimmt, wird es keineswegs leicht sein, sie zu erfüllen. Denn damit stellt sich die Forderung, eine Revolution zu Ende zu führen, die darauf hinausläuft, ein in sich geschlossenes und solide verankertes staatliches System zu demontieren.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist

Fußnoten: 1 Siehe Panayotis Gavras, „The role of the Military in Turkish society“, Dissertation am Department of Near Eastern Studies, Princeton University, April 1989. 2 Mit einer Ausnahme: Die Teilnahme des Generalstabschefs an den Sitzungen des Ministerrats ist rechtens. 3 Siehe Mehmet Ali Birand, „Shirts of Steel. An Anatomy of the Turkish Armed Forces“, London (Tauris) 1991 (Originaltitel: „Emret Komutanim“, Istanbul 1986). Birands Buch ist eine in ihrer Art einmalige Feldstudie, die auf Interviews mit Armeeangehörigen aller Dienstgrade beruht. Die Interviews waren nur mit Erlaubnis des Generalstabs möglich, der vor der Publikation allerdings vielfache Änderungen forderte. Da Birand den Text aber unzensiert veröffentlichte, fiel er bei den Militärs in Ungnade, die bis heute andauert. 4 Die militärischen Vertreter sind der Chef des Generalstabs, die Kommandeure der Land-, See- und Luftstreitkräfte und der Gendarmerie sowie ein General, der die Funktion eines Generalsekretärs des Sicherheitsrates innehat; die zivilen Vertreter sind der Staatspräsident, der Ministerpräsident sowie Innen- Außen- und Verteidigungsminister. Obwohl der Generalsekretär nicht stimmberechtigt ist und bei Stimmengleichheit der Staatspräsident (als Vorsitzender) den Ausschlag gibt, ist das Gewicht der „militärischen“ Seite dominierend. Erst jüngst hat Generalstabschef Kivrikoglu erklärt, das Militär könnte im Nationalen Sicherheitsrat sogar hundert Zivilisten akzeptieren, da seine Entscheidungen „nicht mit Stimmenmehrheit, sondern durch Konses“ getroffen würden. 5 Los Angeles Times, 9. März 2000. 6 Siehe Umit Sakallioglu (Professor an der Bilkent-Universität in Ankara), „The Anatomy of the Turkish Military’s Autonomy“, Comparative Politics, Bd. 29, Nr. 2. 1997. 7 Es überrascht kaum, dass es keine wissenschaftliche Monographie oder Doktorarbeit von türkischer Seite gibt, die umfassend die politische Rolle der Armee in der Türkei analysieren würde. Das liegt nicht nur an dem undurchsichtigen Forschungsgegenstand, sondern zweifellos auch daran, dass sich kein Forscher an ihn herantraut. 8 Siehe Taha Parla, „Mercantile militarism in Turkey, 1980-1998“, New Perspectives on Turkey (Istanbul), Herbst 1998. 9 Oyak steht für Ordu Yardumlasma Kurumu (Körperschaft der Pensionskasse der Streitkräfte). Die Holding wurde im Januar 1961 von den Militärs geschaffen, die im Mai 1960 die Macht ergriffen hatten. Ihren großen Aufschwung erlebte die Oyak mit ihren Industrie- und Handelsaktivitäten jedoch erst im Rahmen der wirtschaftlichen Liberalisierung, nach dem Putsch von 1980. 10 Siehe Kendal Nezan, „Appelle an Ankara sind nur fromme Wünsche“, Le Monde diplomatique, März 1999, sowie Michel Verrier, „Die Türkei macht den Kurden den Prozess“, Le Monde diplomatique, Juni 1999. 11 Siehe Umit Sakallioglu, „Parameters and Strategies of Islam-State Interaction in Republican Turkey“, Journal of Middle East Studies (Cambridge) Nr. 28, 1996. Der Autor weist darauf hin, dass es Atatürk selbst war, der die Instrumentalisierung des Islam einleitete, als er im nationalen Befreiungskampf zum „Heiligen Dschihad“ aufrief, um die anatolischen Notabeln, die religiösen Führer und die Bauern auf seine Seite zu bringen. 12 Siehe Wendy Kristianasen, „Die doppelte Identität der Türkei“, Le Monde diplomatique, Februar 1999. 13 Siehe Niels Kadritzke, „Griechen und Türken entdecken die Vorteile guter Nachbarschaft“, Le Monde diplomatique, Juni 2000.

Le Monde diplomatique vom 15.09.2000, von ÉRIC ROULEAU