15.09.2000

Ohne Gleichheit keine Chance

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Ohne Gleichheit keine Chance

Von ALAIN BIHR und ROLAND PFEFFERKORN *

SEIT der Französischen Revolution 1789 prangt das Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ über dem Eingang französischer Schulen. In den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts geriet die zweite der drei republikanischen Säulen allerdings heftig unter den Beschuss durch egalitarismuskritische Strömungen. In dem Maße, wie die sozialen Ungleichheiten zunahmen, wie „neue Arme“ und „Yuppies“ die Bühne betraten und die konkrete Gleichstellung zwischen Männern und Frauen auf sich warten ließ,1 wurde zunehmend in Frage gestellt, was Jean-Jacques Rousseau so sehr am Herzen gelegen hatte: die Idee der Gleichheit aller Menschen.

Manche unternahmen den Versuch, „Gleichheit“ durch den vageren Begriff der Fairness zu ersetzen – ohne viel Erfolg. In Frankreich zum Beispiel mühten sich Alain Minc und in seinem Gefolge zahlreiche Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendungen darum, die von ihm so bezeichnete „traditionelle egalitaristische Antwort“ loszuwerden. In einem offiziellen Bericht pöbelte er gar gegen die Bezieher des garantierten Mindesteinkommens (SMIC), dem er für die Jahre 1974-19942 überhöhte Zuwachsraten bescheinigte. Ein Blick in die Statistiken zeigt allerdings, dass der SMIC in diesem Zeitraum deutlich weniger angestiegen ist als das durchschnittliche Arbeitseinkommen (nur um 40 im Vergleich zu 60 Prozent) – von den Einkommenszuwächsen der Kapitaleigner ganz zu schweigen. Mit dem Angriff auf die Gleichheit ging eine Aufwertung der „Gewinner“ einher.

Zahlreiche ideologische Strömungen schwangen sich auf, die Ungleichheiten zu legitimieren, und jede hatte ein Schärflein zur Demontage des Gleichheitsideals beizutragen. Dabei lassen sich drei Hauptthemenfelder unterscheiden.

Im ersten Typus der Plädoyers für die soziale Ungleichheit wird Gleichheit vor allem als Gleichförmigkeit kritisiert. Ungleichheit wird also im Namen des Rechts auf Differenz verteidigt, freilich um den Preis einer doppelten Verwechslung – von Gleichheit mit Uniformität und von Ungleichheit mit Differenz.

Außerdem sei Gleichheit gleichbedeutend mit Ineffizienz. Die Garantie gleicher sozialer Lebensumstände wirke demotivierend, ruiniere die Grundlagen des Wettstreits und der Konkurrenz und sei somit für den Einzelnen wie für die Gesellschaft kontraproduktiv. Dagegen komme Ungleichheit, wie Friedrich A. Hayek und seine Epigonen behaupten, letzten Endes allen zugute, den „Verlierern“ ebenso wie den „Gewinnern“. Auch die „Theorie der Gerechtigkeit“ eines John Rawls rechtfertigt jede Ungleichheit, sofern diese das Los der „am stärksten Benachteiligten“3 zu verbessern vermag.

Der dritte und wesentliche Strang der antiegalitaristischen Ideologie insinuiert, Gleichheit bedeute Zwang und Verlust an Freiheit, sprich an „freier Marktwirtschaft“, und bereite unweigerlich der schlimmsten totalitären Hölle den Weg.

Die Argumentation der Antiegalitaristen steht jedoch auf wackligen Füßen. Anders als die Gleichheitskritiker behaupten, heißt Gleichheit nicht automatisch Uniformität, genauso wenig wie Ungleichheit Differenz garantieren kann.4 Ganz im Gegenteil: Ungleiche Einkommen produzieren soziale Schichten, deren Angehörige sich auf eine bestimmte, uniforme Lebensweise festgelegt finden. Gleiche Lebensbedingungen können dem Einzelnen hingegen vielfältige Handlungsmöglichkeiten und mannigfaltige Spielräume der Lebensgestaltung eröffnen und die Entwicklung von individuellen, abweichenden Lebenswegen begünstigen.

Kapitalistische Effizienz auf der anderen Seite hat durchaus ihren Preis, und der steigt zunehmend, von der Vergeudung natürlicher Ressourcen bis hin zur Vergeudung gesellschaftlichen Reichtums. Man halte sich nur vor Augen, welch ungeheure Verschwendung von gesellschaftlichem Reichtum die marktinduzierte Ungleichheit darstellt und wie kostspielig massenhafte Arbeitslosigkeit und prekäre Lebenssituationen sind. Würden unsere Gesellschaften wirtschaftlich nicht effizienter funktionieren, wenn sie die Arbeitskraft von Millionen Arbeitslosen und Unterbeschäftigten nutzen würden?

Schließlich geht Ungleichheit immer mit Unterdrückung einher. Welche Freiheit besitzt denn ein Langzeitarbeitsloser, eine (unfreiwillige) Teilzeitbeschäftigte, ein Bezieher des Mindesteinkommens, ein Obdachloser oder Analphabet, ein Arbeitnehmer, der mit dreißig oder vierzig Jahren bei einem Arbeitsunfall ums Leben kommt oder, durch die Strapazen der Arbeit ausgezehrt, frühzeitig stirbt? Die einzige Freiheit, die durch Ungleichheit garantiert wird, ist die Freiheit einer Minderheit, sich auf Kosten der Mehrheit materielle, institutionelle und symbolische Vorteile zu sichern.

Gut fünf Jahre sind vergangen, seit Staatspräsident Jacques Chirac die sozialen Brüche und die Notwendigkeit, sie zu reduzieren, in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes rückte. Seither hat sich das ideologische Klima in Frankreich auch dank der sozialen Bewegung im November/Dezember 1995 ein wenig geändert. Die Gleichheitskritiker können ihre alten, grobschlächtigen Geschütze nicht weiter auffahren. So tragen sie ihre Angriffe auf Umwegen vor, indem sie den Gleichheitsbegriff durch qualifizierende Zusätze systematisch verwässern und vernebeln.

„Chancengleichheit“ heißt das neue liberale Zauberwort, das mehr und mehr an die Stelle der Gleichheit tritt. Gewiss, dieser Terminus wurde bereits in den Sechzigerjahren verwendet, damals allerdings nur im bildungssoziologischen Kontext. Die Frage lautete: Fördert die Schule Chancengleichheit, sodass jeder den Beruf ergreifen kann, der seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht, oder werden die ungleichen Startchancen durch die Schule fortgeschrieben und verstärkt? Während man sich innerhalb der Soziologenzunft heftig über die Ursachen und theoretischen Interpretationen der mangelnden Chancengleichheit stritt, war man sich weitgehend einig über die Fakten, das heißt darüber, dass die Schule die ungleichen Startchancen im Großen und Ganzen nicht ausgleicht, da die schichtenspezifische Reproduktion die soziale Mobilität bei weitem aufwiegt.

„Chancengleichheit“ meint also weder Gleichheit im Ergebnis noch Gleichheit in den Lebensbedingungen; trotzdem wird der Begriff vielfach als Synonym für Gleichheit verwendet. Führende Politiker aller Schattierungen ebenso wie Journalisten selbst der linken Medien verbreiten den Terminus und implantieren ihn so dem gesellschaftlichen Bewusstsein.

Die Rede von der Chancengleichheit hat den unschätzbaren Vorteil, dass Ungleichheit im Resultat immer schon gerechtfertigt erscheint. Besonders mit Blick auf die Schule, wo Chancengleichheit nach wie vor ein Mythos – oder schlicht Falschmünzerei – ist, lassen sich auf diese Weise sehr reale Ungleichheiten problemlos rechtfertigen.

So tut es etwa der britische Premierminister Tony Blair, wenn er verkündet, die benachteiligten Schichten seien letztlich für ihre missliche Lage selbst verantwortlich. Und in dieselbe Kerbe haut auch der bundesdeutsche Kanzler Gerhard Schröder, wenn er „eine Gesellschaft ohne Ungleichheiten“ als nicht wünschenswert bezeichnet und seinen Sozialdemokraten rät, Gleichheit als Chancengleichheit, nicht aber als „Gleichheit im Resultat“ anzusehen.

Diese Bedeutungsverschiebung stellt die ursprüngliche Idee der Gleichheit auf den Kopf. Neu ist die Vorgehensweise allerdings nicht. Schon Maréchal Pétain rief in seiner Botschaft an das französische Volk vom 11. Oktober 1940 als Haupt der kollaborierenden Vichy-Regierung dazu auf, die „Schwächen und Mängel der alten politischen Ordnung“ abzulegen und den auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehenden Gleichheitsgedanken durch die Idee der Chancengleichheit zu ersetzen: „Das neue Regime wird eine hierarchische Gesellschaftsordnung sein. Es wird nicht mehr auf der irrtümlichen Vorstellung der natürlichen Gleichheit der Menschen beruhen, sondern auf dem notwendigen Gedanken, jedem Franzosen die gleichen Chancen einzuräumen, damit er seine Fähigkeit zu dienen unter Beweis stellen kann. [...] Auf diese Weise werden die wahrhaften Eliten wiedererstehen, zu deren Zerstörung das vergangene Regime Jahre benötigte und die den nötigen Rahmen für die Entwicklung von Wohlstand und Würde für alle bilden werden.“5 Pétain wollte die Eliten erneuern und mit gewissen Aspekten der Dritten Republik brechen, deren Szientismus und Diskriminierungen hingegen fortschreiben.

Heutzutage steht „Chancengleichheit“ schlicht für einen liberalen beziehungsweise sozialliberal daherkommenden Antiegalitarismus. Gleichwohl leistet der Begriff hervorragende Dienste, um die Idee der Gleichheit – als Realität wie als Hoffnung gleichermaßen – zu verwässern und zu entstellen.

Denn: Wo Gleichheit herrscht, braucht es per definitionem keine Chancen, und wo Chancen das Feld bestimmen, herrscht keine Gleichheit, sondern Zufall, Glückstreffer und Trostpreise. Nicht von ungefähr denkt man bei Chancen unwillkürlich ans Lotteriespielen, an Einsatz und Wetten. Und dass dabei nur wenige gewinnen können, die meisten aber verlieren – das weiß doch jedes Kind.

dt. Bodo Schulze

* Alain Bihr ist Dozent an der Université de Haute-Alsace, Roland Pfefferkorn arbeitet als ordentlicher Professor für Sozialwissenschaften an der Marc-Bloch-Universität in Straßburg.

Fußnoten: 1 Dazu Alain Bihr u. Roland Pfefferkorn, „Déchiffrer les inégalités“, Paris (L'Atelier) 1999; dies., „Hommes-femmes, l'introuvable égalité“, Paris (L'Atelier) 1996. 2 Vgl. „La France de l'an 2000“, Paris (Éditions Odile Jacob) 1994. Die Angaben über den wachsenden Lebensstandard von Beziehern des Mindesteinkommens sind ungenau. 3 John Rawls, „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, Frankfurt a.M. 1979, S. 99. 4 Vgl. Michael Walzer, „Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit“, Frankfurt a.M. 1998. 5 Zit. n. René La Borderie, „60 années d'égalité des chances, 60 années d'inégalités des résultats“, L'École émancipée 6, Paris, Januar 2000.

Le Monde diplomatique vom 15.09.2000, von ALAIN BIHR und ROLAND PFEFFERKORN