13.10.2000

Die verlorenen Kinder der Aborigines

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Die verlorenen Kinder der Aborigines

Von MICHÈLE DECOUST *

Am 26. Mai 1998 versammelten sich über hundert Aborigines vor dem Parlament von Darwin, der Hauptstadt des Northern Territory. Es war der National Sorry Day, der Tag der Entschuldigung bei der indigenen Bevölkerung, an dem Australien der „Generation der Entführten“ gedenkt. Über ein Jahrhundert lang – bis Ende der Sechzigerjahre – wurden auf Erlass der Regierung Mischlingskinder von Aborigines und Weißen ihren Müttern weggenommen und in Waisenheimen, Missionsstationen und Pflegefamilien untergebracht, um sie zu „guten kleinen Australiern“ zu machen. „Keep Australia white“ (Australien soll weiß bleiben), lautete die Losung. Nach dem von den ersten Siedlern verübten Genozid und dem sklavenähnlichen Regime in den Reservaten sah man in der Zwangsassimilation von der Wiege an die einzige Methode, um mit diesen „Wilden“ fertig zu werden und sie ihre Herkunft vergessen zu machen.

Die Konferenz des Commonwealth zur Lage der Ureinwohner bezog 1937 eine eindeutige Haltung: „Die Zukunft der Mischlinge liegt in ihrer endgültigen Assimilation.“ 1951 bekräftigte sie: „Ziel ist die Assimilation, bis alle Aborigines wie weiße Australier leben.“ Polizei und „Beschützer“ waren berechtigt, in den Dörfern Razzien durchzuführen und alle hellerhäutigen Kinder mitzunehmen. Um dies zu verhindern, färbten manche Mütter die Gesichter ihrer Kinder mit Holzkohle oder versteckten sie im Busch.1 Jeder Bundesstaat ernannte einen „Chief Protector“, dem die offizielle Vormundschaft der Kinder oblag. Ihre Berichte sprechen für sich. Ein Inspektor James Idell schrieb 1905: „Ich zögere keinen Moment, ein Mischlingskind von seiner Mutter zu trennen. Nach dem Anfangskummer vergessen sie ihre Sprösslinge schnell.“ Und 1911 gab Chief Protector Cook zu Protokoll: „Wir schützen die Kinder vor dem schädlichen Einfluss der Aborigines-Lager, wo Unmoral herrscht und Infektionskrankheiten von epidemischen Ausmaßen.“3

Die Demonstration von Darwin wurde zur regelrechten Prozession. Alle Teilnehmer unterzeichneten die Liste mit den Namen der entführten Kinder. Eine alte Aboriginefrau brach in Schluchzen aus. Es folgte eine Gedenkminute für die Toten der Generation der Entführten. Dann sind die Blicke erwartungsvoll auf das prunkvolle Parlamentsportal gerichtet. Doch kein einziger Weißer, weder Abgeordneter noch Minister, tritt heraus, keiner lässt sich blicken. Die Trauer weicht der Wut. „Mir wird richtig übel“, bricht es aus Marjorie heraus. Die attraktive Frau mit feurigem Blick wurde als Kleinkind ihren Eltern entrissen. Als Kind eines Afghanen und einer Aborigine hatte man sie, mit fünfzehn weiteren Kindern zwischen einem und fünf Jahren, aus ihrer Familie und ihrer in den Bushlands gelegenen Ortschaft Philip Creek weggeholt. Das war 1952. Sie war damals drei Jahre alt, und Australien feierte stolz seine junge Demokratie.

„Wann werden sie begreifen, dass wir Menschen sind wie sie und eine Mutter kein größeres Leid kennt, als ein Kind zu verlieren?“ Marjorie hat ihre Gruppe aus dem Waisenhaus wiedergefunden. Sie haben ein großes Picknick veranstaltet, gleich neben dem Dixon Home, wo sie bis als Teenager gelebt hatten. „Sie waren meine Familie. Man erzählte uns, unsere Mütter hätten uns weggegeben, unsere Eltern seien niederträchtige Menschen und Analphabeten, die nicht für uns sorgen könnten. Wir hatten keine Ahnung, dass wir Aborigines waren, wir merkten nicht einmal, dass wir keine Weißen waren, sondern Farbige. Erst von den Nachbarn habe ich das erfahren. Im Heim hat man alles aus unserem Gedächtnis gelöscht. Wenn ich an meine frühe Kindheit dachte, war da eine Lücke, ich fühlte mich leer.“

Erst Anfang der Neunzigerjahre kam das Drama der Generation der Entführten an die Öffentlichkeit. Die Labour-Regierung von Paul Keating leitete damals eine große Untersuchung ein, mit dem unmissverständlichen Titel „Bringing them home“. Zum Auftakt gab es 1994 die Going-Home-Konferenz, an der 600 entführte Aborigines teilnahmen. Im April 1997 wurde der Regierungsbericht veröffentlicht: Zwischen 1885 und 1967 waren zwischen 70 000 und 100 000 Kinder ihren Müttern weggenommen und in öffentliche Einrichtungen verbracht worden.

Die Aussagen erschütterten das ganze Land. Link Up, eine Vereinigung von Aborigines der Generation der Entführten, die ihre Mitglieder bei der Rekonstruktion ihrer Herkunft unterstützt, bringt es auf den Punkt: „Nun können wir zwar zurückkehren zu unseren Familien, doch unsere Kindheit ist verloren. Wir können unsere Mütter und Väter wiederfinden, unsere Brüder und Schwestern, unsere Tanten und Onkel, unseren Clan, doch die zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre, die wir ohne ihre Liebe und ihre Fürsorge leben mussten, können wir nicht zurückholen. Und sie können die Verzweiflung der Jahre nicht vergessen, die sie von uns abgeschnitten waren. Wir können unsere Identität als Aborigines wiederfinden, doch dies heilt nicht die Wunden, die uns am Körper, an der Seele, am Herzen zugefügt wurden, von Menschen, deren Mission darin bestand, uns als Volk auszulöschen.“

Trotz ihrer schweren Anklage forderten die Aborigines in erster Linie eine Erklärung, die die Geschiche ihres Volkes rehabilitiert, ihre Identität anerkennt, ihre Würde wiederherstellt. Doch Paul Keating, der für eine Republik eintrat und für stärkere Beziehungen zu Asien, war für sein Land zu fortschrittlich. 1996 musste er John Howard und dessen ultrakonservativem Kabinett weichen, das sich auf die ländliche Bevölkerung stützte, auf Traditionalisten aller Art, die saturierte Mittelklasse.

Stachel im Fleisch der Weißen

SEITHER war von einer Entschuldigung nicht mehr die Rede, auch nicht von der Etablierung eines Sondergerichts, das über Entschädigungen verhandelt. Von den bereits aufgebrachten Geldern landeten zwei Drittel in den Taschen weißer Bürokraten und Anwälte, die jahrelang ergebnislose Prozesse führten. Am 11. August 2000 lehnte der Oberste Gerichtshof die Klage zweier Entführungsopfer ab. Trotz sechzig Zeugen, trotz dreitausend Dokumenten und dem unvorstellbaren Trauma der Kläger blieb der Richter ungerührt: „Ihre Entführung war kein Verstoß gegen die damals geltenden Gesetze.“

Trotz der wiederholten Kritik der UN-Menschenrechtskommission an der Aborigine-Politik ließ John Howland im April 2000 durch seinen Minister für Aborigine-Angelegenheiten verlautbaren: „Nicht mehr als 10 Prozent der Aborigine-Kinder wurden von ihren Eltern auf gewaltsame Art getrennt – und manche von ihnen aus gutem Grund. Es handelte sich also nicht um eine ganze Generation, sondern nur um einige Dutzend Familien, deren Fälle man einzeln untersuchen muss.“

Dieses Leugnen war so ungeheuerlich, dass sich am 27. Mai, einen Tag nach dem Sorry Day, in Sydney eine große Demonstration formierte. Innerhalb von zwei Stunden strömten 200 000 Weiße und Schwarze Hand in Hand auf die mythische Harbour Bridge. Niemand hatte eine solche Mobilisierung der Bevölkerung erwartet. Aber selbst die Drohungen der Aborigine-Leader und der Athleten, bei den Olympischen Spielen ihre Rechte vor aller Welt einzuklagen, konnten die Regierung nicht erweichen. Tatsächlich müsste sich die Debatte um etwas ganz anderes drehen. Im Grunde geht es um die Anfänge der Geschichte des Kontinents, um die dunklen Bereiche der australischen Seele.

Marcia Langton, Professorin für Anthropologie an der Universität von Darwin und langjährige Sprecherin der Aborigines bei den Vereinten Nationen, spricht es aus: „Für die Mehrheit der Australier sind die Aborigines noch immer keine Menschen, sondern eine den Tieren ähnliche Unterrasse. Wir haben es mit dem tiefstverwurzelten, dem primitivsten Rassismus der Welt zu tun. Seit ihrer Ankunft haben die Weißen uns wie Hasen mit der Flinte gejagt und nicht eher geruht, bis sie unsere Kultur, unsere Sprachen, unser Volk ausgerottet hatten. Ihr Hass ist so groß, dass wir heute, obwohl wir nur noch 300 000 sind, ihr ‚Lieblingsthema‘ sind – ein Stachel in ihrem Fleisch, als wären wir Millionen. Man kann nicht von Versöhnung sprechen wie in Irland, nicht mal von Verhandlungen wie in Südafrika. Von den 19 Millionen Australiern zeigen höchstens 1 Million Interesse für unsere Geschichte, begreifen das ethische Problem.“

Die noch junge Geschichte der Kolonisation lastet heute mit ihrem ganzen Gewicht auf den Beziehungen zwischen beiden Gemeinschaften. An ihrem Anfang standen die Massaker, dann folgte das Zusammenpferchen in Reservaten, mit dem Ziel der staatlich verfügten Integration. Dies alles war wie ein langsamer Genozid.

Die Wunden sind noch nicht verheilt. Anlass zur Hoffnung hatte 1972 der Regierungsantritt des Labour-Premiers Gough Whitlam gegeben. Auf die Forderungen der Aborigines nach Rückgabe ihrer Stammesterritorien reagierte er am Beginn seiner Amtszeit mit der symbolischen Übergabe eines Häufchens roter Erde an einen der Aborigineführer. In einer lapidaren Erklärung – „Wir, das australische Volk, erniedrigen uns, wenn wir den Aborigines nicht den Platz einräumen, der ihnen in diesem Lande zusteht“, segnete er die Rückgabe des Landes ab und vollzog einen unumkehrbaren Schritt, indem er der Urbevölkerung des Northern Territory zwei Drittel ihres Landes zurückgab. Auf regionaler Ebene entstanden Land Councils – Landbesitzorganisationen. Sie regeln die territorialen Ansprüche der Gemeinden, vertreten ihre Interessen, verhandeln mit den Bergbaugesellschaften über Förderrechte und Tantiemen.

In den Achtzigerjahren erkannten die wechselnden Regierungen die Aborigines als Volk mit eigenen Werten und einer eigenen Kultur an, desgleichen ihr fundamentales Recht, „ihre ethnische Identität und ihre traditionelle Lebensform zu wahren, oder eine teilweise bzw. völlig europäische Lebensweise anzunehmen“. Doch erst der Oberste Gerichtshof traute sich 1992, die Geschichte der australischen Nation tatsächlich umzuschreiben. Er verkündete eine Aufsehen erregende Entscheidung, den „Mabo Act“, der Eddie Mabo, einem Inselbewohner der Meerenge von Torres, das Land seiner Vorfahren zusprach. Zum ersten Mal wurde damit ein „Native title“ – das Recht des Stammesbesitzes –, zuerkannt. Eddie Mabo musste den Beweis erbringen, dass auf dem von ihm eingeforderten Land schon immer seine Vorfahren gewohnt hatten.

Durch ein Bundesgesetz bestätigt, wurde dieser Urteilsspruch auf das gesamte Land ausgedehnt (es betrifft zwar nur 10 Prozent der Aborigines, aber tausende von Quadratkilometern). Dieses Urteil annulliert zwei Jahrhunderte britischer Jurisprudenz und erschüttert Vorstellungen, die im Unterbewusstsein der Australier fest verankert waren. Bis 1922 lautete die offizielle Doktrin „Terra Nullius“, Niemandes Land. Sie besagte, dass man die Aborigines nicht als Menschen betrachtete und die Siedler sich das Land aneignet hatten, als ob sie einen jungfräulichen Kontinent betreten hätten.

Trotz der Fortschritte in den letzten zwei Jahrzehnten sieht die Realität heute bedrückend aus. Die Lebenserwartung der Aborigines liegt zwanzig Jahre unter der eines Weißen, die Kindersterblichkeit viermal so hoch, die Arbeitslosenrate dreimal so hoch, das Durchschnittseinkommen um die Hälfte niedriger, die Zahl der Gefängnisinsassen und der Selbstmorde fünfmal so hoch wie bei den weißen Australiern. Ganz zu schweigen vom langsamen Selbstmord eines ganzen Volkes durch Alkoholmissbrauch oder durch das petrol sniffing, das viele Jugendliche praktizieren. Trotz aller Maßnahmen ist die Integration in die weiße Gesellschaft offenbar noch immer unmöglich.

Für Koula Roussos, eine Anwältin der Aborigines und Expertin der Generation der Entführten, ist das kein Wunder: „Zwei Kulturen, zwei Gesellschaften mit beinahe entgegengesetzten Wertvorstellungen, die kaum zwei Jahrhunderte Zeit hatten, einander kennen zu lernen. Manche Aborigine-Stämme in Arnhem Land oder in der Zentralwüste, wie die Pintubi, haben erst vor fünfzig Jahren den ersten Weißen zu Gesicht bekommen. Sie wurden gleichsam über Nacht aus dem Zeitalter der Jäger und Sammler ins 20. Jahrhundert der Toyotas und der Supermärkte katapultiert. Ein Schock wie bei einer Atomexplosion. Wenn ich in ihre Siedlungen reise und sehe, wie sie im Freien leben und die für sie errichteten Häuser verfallen, wo doch der Traum jedes weißen Australiers ein Bungalow mit Garten ist, denke ich, dass die Kluft unüberbrückbar ist. Mir als Anwältin macht es unglaubliche Mühe, ihnen klarzumachen, wie unser Recht beschaffen ist; viele Aborigines leben zwar nicht mehr nach dem Stammesrecht der ,Traumzeit‘4 , sind aber noch geprägt von diesen Werten und einem anderen Begriff von Gerechtigkeit.“

Dementsprechend gleicht das, was sich im Hintergrund auf allen Handlungs- und Begegnungsebenen abspielt, einem Dialog unter Tauben. Auf der einen Seite die konkurrenzhafte, materialistische, auf Fortschritt, Kontrolle, Eroberung gepolte Welt der Weißen, auf der anderen die spirituellere Welt der Schwarzen, wo der Mensch in enger Verbundenheit mit allem Lebendigen die Aufgabe hat, die Erde und die Helden der Traumzeit, die sie geformt haben, zu feiern, indem er alle Rituale vollzieht, die eine Regenerierung und Perpetuierung des Lebens ermöglichen.

„Worin besteht nun tatsächlich unsere Identität?“, fragt sich Wayne Barker, ein Filmemacher und Musiker aus dem westaustralischen Ort Broome. „Ein Aborigine greift heute auf das Erbe einer vierzigtausend Jahre alten Zivilisation zurück, das er auch weiterzuentwickeln vermag. Früher wurde unsere Kultur durch mündliche Tradition weitergegeben, jetzt haben wir Radio, Fernsehen und Kino. Selbst die Initiationen haben sich dem urbanen Leben angeglichen. Heute dauern sie nicht mehr Monate und berücksichtigen den Rhythmus der modernen Arbeitswelt. Doch solange wir uns dem Gesetz der Weißen beugen und uns vor ihnen rechtfertigen müssen, wird dies nicht funktionieren. Angesichts des weißen Rechtssystems, angesichts der Eigentumsgesetze und Stacheldrähte, die teilen und trennen – wie können wir da mythischen Schöpfern, spirituellen Erzählungen und Riten, der geheiligten Zugehörigkeit zur Erde und unserer ,Aboriginität‘ gerecht werden?“

dt. Andrea Marenzeller

* Autorin von „Australie, les pistes du rêve“, Paris (Jean-Claude Lattès) März 2000.

Fußnoten: 1 Das australische Bushland und im weiteren Sinne jede nicht von der städtischen Zivilisation berührte Gegend, also 90 Prozent des australischen Kontinents. 2 Auszug aus dem Bericht der australischen Regierung mit dem Titel „Bringing Them Home“, Canberra 1997. 3 Ebenda. 4 In der Vorstellung der Aborigines trägt die Erde die Spuren der Helden der Traumzeit (Dreamtime), die sie hinterlassen haben, als sie durch das Land gingen und damit alle Lebewesen erschufen. Diese Helden wirken auch weiterhin auf die Kräfte des Universums (die Fruchtbarkeit der Natur, der Frauen, den Regen, die Winde) ein und führen die Menschen, während sie schlafen.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2000, von MICHÈLE DECOUST