Afrikas schwieriger Weg in die Demokratie
Von ACHILLE MBEMBE *
Staatsstreiche, wechselnde Allianzen, soziale Unruhen und chaotische Wahlverfahren kennzeichnen den politischen Umbruch, der vor zehn Jahren auf dem Schwarzen Kontinent eingeleitet wurde. Im Unterschied zu anderen Demokratisierungswellen (namentlich in Südeuropa und Lateinamerika) vollzieht sich hier der Abbau von Einparteienherrschaft und Autoritarismus in einem Rahmen, der von drei strukturellen Faktoren geprägt ist.
Der erste Faktor: Gleichzeitig mit den Demokratisierungsbewegungen vollzog sich eine „Informalisierung“ von Wirtschaft und staatlichen Strukturen. Anfang der Achtzigerjahre stießen die kulturellen und institutionellen Mechanismen der Unterdrückung an ihre Grenzen. Das staatliche Imponiergehabe verbarg nur einen Erosionsprozess, der zur Zersplitterung der Staatsmacht führte.1 Diese Entwicklung wurde durch die Zwänge der Schuldentilgung und die erzwungene Politik der Strukturanpassung noch beschleunigt.
Der gleichzeitige Zwang zu politischer Öffnung und wirtschaftlicher Liberalisierung wird diese Krise keineswegs beenden oder zum Rechtsstaat und zur „Regierungsfähigkeit“ führen, wie es sich die internationalen Finanzinstitutionen erhoffen; er wird im Gegenteil den Staat fast überall noch weiter schwächen. Da dieser die Risiken und unvorhergesehene Situationen nur noch mit Gewalt in den Griff bekommen kann, werden alle Versuche, den Autoritarismus zu überwinden, in einem Klima sozialer Gewalt stattfinden.
Diese Zersplitterung verleiht dem Demokratisierungsprozess in Afrika spezifische Züge. Erstens führt die Schwächung der administrativen Kompetenzen des Staates dazu, dass etliche seiner Hoheitsfunktionen privatisiert werden.2 Zweitens bringt die Deregulierung eine allgemeine Entinstitutionalisierung, die wiederum die allgemeine Verbreitung informeller Praktiken begünstigt – in der Wirtschaft wie in der staatlichen Verwaltung und in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen, die für das tägliche Überleben wichtig sind. Das hatte zwei einschneidende Folgen: Erstens gibt es unzählige normsetzende Instanzen, zweitens gibt es weitaus mehr Möglichkeiten zu Regel- und Gesetzesverstößen, und dies in einer Zeit, da die Sanktionsfähigkeit der öffentlichen Gewalten immer weiter geschwächt wurde. Bei Angestellten des staatlichen wie des privaten Sektors hat sich daher eine Mentalität der bewussten Normverletzung breit gemacht, mit dem Ziel, die eigenen Einkünfte zu erhöhen und die Schwäche des Staates maximal auszubeuten.
Zweiter Faktor: Die Demokratisierung fällt in eine Zeitphase, in der sich die Fragmentierung der Gesellschaft aufgrund der Brutalität der Krise noch beschleunigt. Das zeigt sich nicht nur in Grenzsituationen (Kriege, territoriale Neuordnungen, Zwangsumsiedlungen, Massaker), sondern vor allem in der Vielfalt von Identitäten, Loyalitäten, Autoritäten und Gerichtsbarkeiten, in verstärkter Mobilität und Differenzierung, im Tempo, mit dem sich Ideen, Zeichen und Symbole ausbreiten, in der zunehmenden Tendenz, alles auf den Kopf zu stellen: Alles dient dem Erreichen aller möglichen Ziele, alles wird zum Handels- und Verhandlungsobjekt.
All das hat erhebliche Auswirkungen auf die sozialen Bewegungen und die Bildung von Allianzen und Koalitionen. Der Zeitdruck nimmt zu: Sporadische „Putsche“ und die Bereitschaft, die Staatsmacht zu erobern – oder zu behaupten – haben Vorrang vor langfristigen „Projekten“ und Alternativen. Das Ergebnis ist eine strukturelle Instabilität, da ständig neue Bündnisse eingegangen und wieder aufgelöst werden. Das gilt auch für die institutionell nur schwach verankerte Opposition.
Der dritte Faktor: Anfang der Neunzigerjahre gab es weder ein theoretisches Modell noch eine Tradition kritischer und eigenständiger Reflexion über den Rechtsstaat, über die Formen der Staatsbürgerschaft und über demokratische Institutionen. Das intellektuelle Defizit der Demokratisierungsbewegung begünstigte die Ausbreitung volkstümlicher Ideologien und neuartiger Kosmologien in Gestalt religiöser Symbolik und neu erstarkter okkulter Praktiken.3
Diese drei Faktoren lasten schwer auf der Demokratisierungsbewegung. Zwar entstanden mit der Ausbreitung des Mehrparteiensystems fast überall neue Freiräume, doch qualitative, unumkehrbare Veränderungen wurden damit nur selten erreicht – weder auf politischer Ebene noch für das materielle Wohlergehen der Bevölkerung. Das Fehlen glaubwürdiger Alternativen zum neoliberalen Modell trug im Übrigen dazu bei, den Rückzug auf einen moralisch-religiösen Diskurs (Antikorruptionskampagnen) und die Rückbesinnung auf primitive Identitäten zu forcieren oder die Kämpfe um die Eroberung bzw. den Erhalt der Macht zu verschärfen. Dabei geht es immer mehr um Besitzstände und um Spannungen zwischen den sozialen Schichten, und zwar in Strukturen, in denen die Nation nie wirklich existierte, während zugleich der Staat seine Fähigkeit zur Nationbildung verloren hat.
Diese intensivierten Machtkämpfe haben drei Konfigurationen hervorgebracht. Da sind erstens die wenigen Länder, in denen Veränderungen durch Wahlen tatsächlich möglich sind: eine Gruppe relativ stabiler politischer Regime mit offenkundiger Legitimität (Südafrika, Botswana, Mauritius, Benin, Senegal, Mali). Die meisten resultieren aus Kompromissen, die über einen relativ langen Zeitraum ausgehandelt wurden. Die Machtkonkurrenz der Eliten hält sich an allgemein akzeptierte Spielregeln, es herrscht Pressefreiheit, die Oppositionsparteien werden nur minimal behindert. Diese Fortschritte sind freilich nicht unumkehrbar, die Möglichkeit des demokratischen Machtwechsels bleibt weitgehend vom Zufall abhängig.
Wie das Beispiel Senegal zeigt, ist die Ablösung eines autoritären Regimes durch Wahlen eher in Ländern möglich, die sich traditionell nach außen öffnen und sich gelassen Symbole aus anderen Kulturen aneignen; in denen die kulturellen Netzwerke und intellektuellen Einflüsse flexibel genug sind, um hybride und synkretistische Formen hervorzubringen; in denen sich schließlich – ungeachtet starker regionaler Identitäten und bisweilen anhaltender Konflikte – religiöse Identitäten und autochthone Formen gesellschaftlicher Hierarchien gegenüber rein ethnischen Identitäten durchsetzen.4
In solchem Kontext ist eine Periode der – dauerhaften oder kurzfristigen – Beteiligung der Oppositionsparteien an der Regierung vonnöten. Sie ermöglicht die Verschmelzung der Eliten und die allmähliche Herausbildung einer Kultur des Kompromisses, insbesondere hinsichtlich konstitutioneller Spielregeln und Wahlreformen.
Um die Legitimität des herrschenden Regimes erfolgreich in Frage zu stellen, muss sich der Protest über die Landesgrenzen hinaus artikulieren. Es genügt nicht mehr, Menschenrechtsverletzungen in Medien und internationalen Gremien anzuprangern; diese müssen vielmehr geächtet oder zumindest diskreditiert werden. Die Opposition muss das neue internationale Vokabular (Kampf gegen die Korruption, Transparenz, Rechtsstaat usw.) geschickt einsetzen, um die Weltgemeinschaft vom Bankrott des Regimes und den Gefahren der Destabilisierung – für die ganze Region – zu überzeugen.
Wahlen und die Macht der Straße
DIE „Multilateralisierung“ der Wahlen (also auch die Aufforderung zur Einmischung) kann aber nur Erfolg haben, wenn sie auch im Lande selbst Unterstützung findet, namentlich bei Frauen und Jugendlichen (Schüler, Studenten, Arbeitslose). Sie repräsentieren nicht nur ein massenhaftes Wählerpotential, sondern auch die Macht der Straße, die bei massiver Wahlfälschung oder der Gefahr eines Putsches mit dem Gespenst der Revolution drohen kann. Die Frauen können dank ihrer gesellschaftlichen Rolle, insbesondere als Familienmütter, wirksam die Streitkräfte unterminieren. Solche Wahlstrategien sind allerdings nur dann aussichtsreich, wenn sie die ländlichen Zonen einbeziehen, die zumeist Bastionen des herrschenden Regimes sind.
Um die eiserne Kontrolle der herrschenden Partei über die Stimmabgabe auf dem Lande zu lockern, bedarf es neuer nichtoffizieller Institutionen: Frauenverbände, Händlervereinigungen, Gebetsgruppen, Tontinen (Rentenvereine), Kultur- oder Entwicklungsgesellschaften – als potentielle Transmissionsriemen zwischen den städtischen Eliten und den Dörfern oder Gemeinschaften, aus denen sie stammen.5 Von Bedeutung ist auch eine relative Neutralität der traditionellen und religiösen Instanzen sowie der Marabu-Netzwerke. Schließlich bedarf es zum Sturz eines lange herrschenden Regimes einer umfassenden Kulturarbeit, ermöglicht durch die Vernetzung mittels moderner Kommunikationsmittel wie Radio und Mobiltelefon und eine ständige Fluktuation zwischen Stadt und Land.
Ein effektiver Machtwechsel setzt auch voraus, dass die Streitkräfte neutral bleiben; dass die einheimische und ausländische Geschäftswelt ihre Risiken streut und nicht nur die Regierung, sondern unter der Hand auch die Opposition unterstützt; dass Druck von unten für relativ transparente Wahlen sorgt.
Wo die Möglichkeit eines Wandels von unten nicht mehr existiert, liegt eine andere Konstellation vor: die des „blockierten Umbruchs“. Sie stellt sich vornehmlich bei Regimen her, die sich auf dem Höhepunkt des Protests zunächst auf eine Dynamik der Neuordnung einlassen müssen, indem sie eine nationale Verfassungskonferenz einberufen. Mit diesem Schachzug werden die Konflikte aber keineswegs gemildert, sondern noch mehr angeheizt. Das Ergebnis ist ein stockender, widersprüchlicher und rasch wieder abgewürgter Übergang. In den meisten Fällen mündet der gescheiterte Umbruch in manipulierte Wahlen oder in einen neuen autoritären Restaurationsprozess (Beispiel Togo), oder auch in einen blutigen Staatsstreich (Beispiel Niger). Im schlimmsten Fall versinkt das Land in einer Flut von Bürger- oder Regionalkriegen, an deren Ende es in zahlreiche Einflussphären zerfallen ist, die von konkurrierenden und auf unterschiedliche Nachbarstaaten gestützte Warlords kontrolliert werden (Beispiel: die beiden Kongo-Republiken).
Schließlich gibt es eine dritte Gruppe von Ländern, in denen der Übergang ebenfalls blockiert ist, weil die seit der Unabhängigkeit herrschenden Eliten dem Druck der oppositionellen Kräfte erfolgreich widerstehen und das Tempo der politischen Öffnung regulieren konnten. Sie allein haben die Richtung und den Inhalt dieser Öffnung bestimmt und damit die Spielregeln vorgegeben, die ihnen erlauben, die elementarsten Aspekte der Konkurrenz zu respektieren und dennoch die Kontrolle über die wichtigsten Hebel in Staat und Wirtschaft zu behaupten. In diesen Ländern herrscht also ständig eine zuweilen latente, zuweilen akute Konfliktsituation. Die Bedingungen für eine friedliche Lösung hängen hier ebenso vom Druck der einheimischen Kräfte ab wie vom Verhalten der Akteure auf internationaler Ebene. Dies gilt namentlich für Kamerun, Kenia, Simbabwe, Guinea und Togo.
Ein friedlicher Machtwechsel hat in diesen Ländern bisher nicht stattgefunden. Veränderungen an der Spitze des Staates gab es nur, wenn der Diktator durch eine von außen unterstützte Rebellion gestürzt wurde (Beispiel Demokratische Republik Kongo) oder wenn der amtierende Potentat verstorben ist (Beispiel Elfenbeinküste). Verfassungsreformen sind in diesen Ländern blockiert, Teile der Opposition sind an der Regierung beteiligt, lokale Konflikte sind ein willkommener Vorwand, einen Teil der Militärs permanent zu beschäftigen. Da Krieg und Schwarzhandel Hand in Hand gehen, bleibt auch diese Profitquelle erhalten, sofern die Konflikte begrenzt bleiben und nicht das gesamte Territorium erfassen.
Auch der Waffenhandel produziert tief greifende sozialstrukturelle Veränderungen. Er begünstigt städtische Kriminalität und Banditentum auf dem Lande und führt dazu, dass ganze Zonen der Kontrolle durch die Zentralregierung entgleiten.6 Dabei haben sich immer komplexere Formen gewaltsamer Aneignung von Ressourcen entwickelt, wobei sich neuerdings die Verflechtung zwischen den Streitkräften, der Polizei, der Justiz und den kriminellen Milieus verstärkt hat.
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat es praktisch keine Aufstände oder wirklich revolutionären Bewegungen mehr gegeben, eine gewaltsame Machtübernahme war vielmehr das Ergebnis entweder von Staatsstreichen oder von Kriegen.7 In beiden Fällen spielte das Militär die entscheidende Rolle. Kriege werden heute nicht mehr im Namen des Antikolonialismus oder Antiimperialismus geführt. Zuweilen bemüht man zu ihrer moralischen und rechtlichen Legitimierung zwar noch eine Rhetorik, die mittlerweile zum internationalen Vokabular gehört (Kampf der Korruption, Umweltschutz oder Minderheitenrechte). Doch im Wesentlichen handelt es sich um Raubkriege, die sich vorrangig gegen die Zivilbevölkerung richten und auf die Aneignung von Rohstoffen abzielen.
Wo ein solcher Krieg mit dem militärischen Sieg einer der Konfliktparteien endete, war das Ergebnis nicht unbedingt eine Liberalisierung des Regimes. Im Gegenteil: Es entstand entweder eine militärische Autokratie, die zum kriegerischen Umgang mit der eigenen Gesellschaft wie auch mit den Nachbarstaaten neigt, oder eine Tyrannei von bewaffneten Kerntruppen und verschiedenen Cliquen, die eine fast absolute Kontrolle über den Fernhandel und die Ausbeutung der Bodenschätze ausüben, und in manchen Fällen ein autoritäres Regime, das sich mit der Maske einer „Entwicklungsideologie“ schmückt. Im letzteren Fall haben sich die ehemaligen Warlords zwar zu Zivilisten gemausert, die politischen Strukturen bleiben jedoch durch die Kultur des Militarismus geprägt. Dies gilt für Uganda, Ruanda, Liberia, Eritrea und Äthiopien.8
In all diesen Ländern konstituiert der Krieg das politische Leben. Daraus erklärt sich, warum Eroberung und Machtausübung sich so häufig in Form von Gewaltanwendung und Massensterben artikulieren. Auch kennt man in diesen Ländern keinerlei Zusammenhang zwischen Geburt und Staatsbürgerschaft. Auch deshalb sind die meisten von ihnen in Konflikte verwickelt, bei denen es um die Souveränität ihrer Nachbarn geht.
Die soziale Gewalt kristallisiert sich – ohne immer in einen Krieg zu münden – zunehmend an Fragen, die künftig immer bedeutsamer werden: am Problem der Identitäten, an den Modalitäten der Staatsbürgerschaft, an der Frage, wie Produktion und Preise saisonal schwankender Ressourcen verstetigt werden können. Das Ende der Einheitsparteien hat die Kämpfe um die Identität neu entfacht und zugleich sichtbarer gemacht. Aufgrund der „Informalisierung“ des Staates und der Fragmentierung der Gesellschaft läuft die kollektive Mobilisierung bei Konflikten um Ressourcen zunehmend über die Identitäten. Dabei haben drei Kriterien Vorrang: die Herkunft, die Rasse (das gilt vor allem für Gebiete mit ehemaligen Siedlerkolonien wie in Kenia, Simbabwe und Südafrika) und die Religion.
All diese Entwicklungen zeigen, dass die politischen Transformationen in Afrika keineswegs linear verlaufen, sondern auf ganz unterschiedlichen Bahnen. Und dass sie fast ausnahmslos wieder umkehrbar sind. Die Entwicklungen vollziehen sich in den einzelnen Länder zwar ganz unterschiedlich, aber sie weisen auch weitgehende Konvergenzen auf. Ingesamt wird damit aufs Neue deutlich, dass der Wandel in Afrika eine höchst komplexe Sache ist.
dt. Matthias Wolf
* Exekutivsekretär des Conseil pour le Développement de la Recherche en Sciences Sociales en Afrique (Codesria), Dakar.