Marcuse und die Analyse des Nationalsozialismus
VonRAFFAELE LAUDANI *
IN einem Aufsatz von 1976 kündigte Herbert Marcuse das Aufkommen einer neuen autoritären Ordnung an, die in den Vereinigten Staaten ihre fortgeschrittenste Form gefunden habe. Diese neue Ordnung ist nichts anderes als die Dynamik, die man heute „Globalisierung“ nennt: ein System, das sowohl „die traditionellen Formen“ politischer Repression einzusetzen versteht als auch einen „sich ständig perfektionierenden Apparat technischer und ideologischer Indoktrination“ wie Medien, Schulen usw.1 , das heißt Formen der sozialen Kontrolle, die Marcuse für Kennzeichen der eindimensionalen Welt der Nachkriegszeit hielt.2 Weniger bekannt ist, dass Marcuse in zwei Essays aus dem Jahre 1942 – „State and Individual under National Socialism“3 und „Die neue deutsche Mentalität“4 – dieselben Merkmale bereits im Nazismus ausgemacht hatte.
Marcuses Überlegungen aus der Zeit, da er für die US-Nachrichtendienste arbeitete, bewegen sich im Rahmen der damaligen Debatte über Wesen und Bedeutung des Naziregimes, die maßgeblich von den in die Neue Welt emigrierten Intellektuellen jüdischer Herkunft bestritten wurde. Marcuse war damals ein führende Vertreter der Frankfurter Schule, also eines heterodoxen Marxismus, der sich nicht zu der offiziellen Linie der Dritten Internationale bekannte, das heißt zur Definition des NS-Systems als „die offene Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals“5 .
Gleichwohl gab es innerhalb der Frankfurter Schule unterschiedliche Positionen. So interpretierten Max Horkheimer und Friedrich Pollack das NS-System als eine Form von „Staatskapitalismus“, eine neue Ordnung, die das traditionelle Abhängigkeitsverhältnis zwischen Politik und Wirtschaft umkehrt (weshalb Horkheimer nach dem Kriege die marxistische Kategorie der „Klasse“ durch die der „Erpresserbande“ ersetzte). Demgegenüber beschrieben Autoren wie Franz Neumann, Arkadij Gurland und Otto Kirchheimer, die stärker dem Marxismus verhaftet waren, das Naziregime als eine Form von „totalitärem Monopolkapitalismus“, die voll in der Kontinuität der hierarchischen Struktur des kapitalistischen Systems verankert sei.6
Andere in die USA emigrierte Intellektuelle wie Ernst Fraenkel sahen im NS-System die Koexistenz eines „normativen Staates“ (der das Funktionieren einer weiterhin kapitalistischen Wirtschaft zu gewährleisten hatte) und eines „Maßnahmestaates“ (der außerhalb jeglicher Rechtsordnung allein nach dem Kriterium „politischer Opportunität“ agiere und sich in erster Linie gegen die „Feinde des Regimes“ richtete).7 Diese Überlegungen flossen auch in die „Totalitarismusdebatte“ ein, an der eine andere jüdisch-deutsche Emigrantin starken Anteil hatte: Hannah Arendt. In ihrem Werk wird das Konzentrationslager – als rechtsfreier Raum und Ort der Präparierung des Menschen – zur prägenden Metapher einer neuartigen Form von Politik. Deren Wurzeln sieht sie jedoch im rationalistischen Konstruktivismus der Moderne, der davon ausgehe, dass alles, auch die menschliche Natur, durch Ideologie transformierbar ist.8
Marcuses Position steht quer zu diesen Interpretationen, hält aber an einer marxistischen Perspektive fest. Entgegen der liberalen Überzeugung9 sind für ihn Totalitarismus und Kapitalismus keine unvereinbaren Begriffe, der Kapitalismus sei vielmehr ein System, das die Totalität sozialer Beziehungen regelt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts tritt dieses Wesensmerkmal des Kapitals offen zu Tage, und das System wird totalitär. Die Worte „monopolistisch“ und „totalitär“ (später: „eindimensional“) sind für ihn fast austauschbar und bezeichnen zwei Seiten derselben Erscheinung: „die Gesellschaft als Ganze hat sich gegen die Interessen der Einzelnen erhoben“, und zwar mittels einer auf Effizienz und Präzision beruhenden technischen Rationalität.
„Totalitarismus“ ist für Marcuse ein umfassender Begriff, der die neue Tendenz des Systems Kapitalismus zu erklären vermag, die sich in verschiedenen historischen Formen, in „Personifikationen“ der Totalität manifestieren (Nationalsozialismus-Faschismus, sowjetischer Kommunismus und Welfare State), die ungeachtet ihrer Besonderheit aus der monopolkapitalistischen Entwicklung resultieren.
Die Studie über den Nationalsozialismus stellt also den ersten Versuch Marcuses dar, diese historischen Formen von Totalität zu analysieren (später folgen dann seine bekannteren Arbeiten über den sowjetischen Marxismus und die liberalen Demokratien des Westens).10 Diese Studie will die scheinbar gegensätzlichen, tatsächlich aber spiegelbildlichen Thesen widerlegen, die im Nazismus lediglich eine Revolution oder Restauration der traditionellen Ordnung Deutschlands sehen. In der Tat hat das NS-Regime die Produktionsverhältnisse nicht verändert, erst recht nicht den grundlegenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit überwunden. Dennoch gibt es nur wenig Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Strukturen des alten Reichs und dem NS-Staat, der zudem die technische Modernisierung Deutschlands betrieben hat. Für Marcuse handelt es sich um eine Art Technokratie: „Die technischen Erwägungen hinsichtlich imperialistischer Effizienz und extremer Rationalität treten an die Stelle der traditionellen Kategorien von Profitabilität und Allgemeinwohl.“11
Die NS-Herrschaft wurde nicht allein durch brutale Gewalt aufrechterhalten, sondern auch „durch die geschickte Manipulation einer der Technologie innewohnenden Macht: Die Intensivierung der Arbeit, die Propaganda, das Drillen der Jugend und der Arbeiter, die bürokratische Organisation von Regierung, Industrie und Partei – alles Instrumente des alltäglichen Naziterrors – gehorchen den Direktiven maximaler technologischer Effizienz.“12 Die nationalsozialistische Realität ist die einer Staats-Maschine, deren Bewegung sich scheinbar ihrer eigenen Notwendigkeit verdankt: der von Wirtschaftswachstum und Massenproduktion. Mit dem Aufkommen der technologischen Rationalität wurde das freie ökonomische Subjekt „zum Objekt einer Organisation und Gleichschaltung großen Stils, und die Umsetzung von individuellen Fähigkeiten hat sich in standardisierte Effizienz verwandelt“.
„Die technologische Rationalität“ ist für Marcuse „Standardisierung und monopolistische Konzentration zugleich.“ Die Technologie ist „eine Form, die sozialen Beziehungen zu organisieren und festzuschreiben (oder zu verändern), eine Manifestation des herrschenden Denkens und der bestehenden Verhältnisse, ein Kontroll- und Herrschaftsinstrument“. In diesem Sinne liefert der Nationalsozialismus „ein anschauliches Beispiel für die Bedingungen, unter denen eine hochgradig rationalisierte und technisierte Wirtschaft, die über eine maximale Produktivkraft verfügt, im Interesse totalitärer Unterdrückung agieren und ein Mangelregime festschreiben kann“13 .
Das NS-System ist also eine kapitalistische und autoritäre Antwort auf diesozioökonomischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts. In seinem Kommentar zur Rede Hitlers vor den Ruhr-Industriellen von 1932 verdeutlicht Marcuse, wie sehr die Wirtschaft des Dritten Reiches organisatorisch auf die Interessen der Großindustrie bezogen bleibt. Allerdings sind diese Interessen an die neue Phase monopolistischer Akkumulation angepasst, die eine „Veränderung der ökonomischen und politischen Verhältnisse“ erzwingt, um die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt abzusichern. Politische Expansion und Herrschaft sollen die wirtschaftliche Expansion und Herrschaft nicht nur ergänzen, sondern „überflügeln“.
Der Staat wird so zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft, indem er die „totale Mobilisierung“ der Nation im Dienste des übergeordneten Ziels, der wirtschaftlichen Expansion, organisiert und koordiniert. Zwangsläufige Folge dieser Veränderung ist die Errichtung eines offen autoritären Systems, in dem die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft weitgehend aufgehoben ist, indem der Nationalsozialismus „den tatsächlich an der Macht befindlichen gesellschaftlichen Gruppen politische Funktionen übertragen hat“. Das System tendiert mithin „zur Autonomie von direkter und unmittelbarer Herrschaft der führenden Gesellschaftsschichten über den Rest der Bevölkerung“.
Das Ende der Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre, wie sie für die liberale Ära des Kapitalismus typisch ist, äußert sich auf individueller Ebene im Wegfall der Privatheit sowie in der schleichenden Zerstörung traditioneller Tabus auf sexueller und moralischer Ebene. Damit werden aber nicht etwa individuelle Energien freigesetzt, sondern diese gehen in der Masse auf, was die Vereinzelung der Menschen noch verstärkt. Denn die Masse verbindet kein gemeinsames Interesse und Bewusstsein, vielmehr besteht sie „aus Individuen, die ihr je eigenes primitives Eigeninteresse verfolgen, das auf den reinen Selbsterhaltungstrieb reduziert ist. Dieser Trieb ist allen gemeinsam.“
Der für die umfassende Mobilisierung der Arbeitskraft erforderliche Verlust an Freiheit wird aufgewogen durch eine neue wirtschaftliche Sicherheit und eine neue Sittenfreiheit: „Der Nationalsozialismus verwandelte das freie in das wirtschaftlich abgesicherte Subjekt, und an die Stelle des gefährlichen Ideals der Freiheit trat die Schutz versprechende Realität der sicheren Existenz.“ Sieht man vom Rückgriff auf eine martialische, urzeitliche Mythenwelt ab, trägt das NS-System alle wesentlichen Züge der neuen Ordnung, wie sie in „Der eindimensionale Mensch“ beschrieben werden14 : einer Ordnung, die „auch die gefährlichsten Schlupfwinkel der individualistischen Gesellschaft“ gleichschaltet. Der durch Vollbeschäftigung gesicherte Wohlstand verleitet alle dazu, „eine Welt zu lieben und am Leben zu halten, die sich seiner als Werkzeug der Unterdrückung bedient“.
Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz, Sicherheit: diese Begriffe haben auch als Losungsworte der neuen globalen Ordnung Gültigkeit. Unterschiedlich ist allerdings ihr Bedeutungsgehalt. Für Marcuse zeigt sich die Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft – erzwungen durch Forderungen nach Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz – in einer Politik, die durch staatliches Eingreifen in die Wirtschaft ihre angestammten Grenzen überschreitet. Heute manifestieren sich die gleichen Forderungen auf gegenteilige Weise: durch den Rückzug der öffentlichen Hand zugunsten der Märkte, die ungehindert das Feld politischer Entscheidungen erobern. Ebenso hat sich auch die Bedeutung des Themas Sicherheit verändert: mit der mittlerweile auch in den technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften wachsenden Massenarmut verliert „Sicherheit“ ihren ökonomischen Sinngehalt und gewinnt ihre polizeiliche Bedeutung von „Null Toleranz“ zurück: als Ein- und Wegschließen der Männer und Frauen, welche die verarmte Festung belagern.
Es handelt sich also um ein repressives System, für das es keine rationale Rechtfertigung mehr gibt, das sich der Kritik ungeschützt darbietet und womöglich Perspektiven für eine echten politischen Wechsel eröffnet – und dennoch stärker und unangefochtener zu sein scheint als je zuvor. Der Erfolg der Gegner des Neoliberalismus wird davon abhängen, ob sie diesen eklatanten Widerspruch zwischen außergewöhnlicher Stärke und fehlender Legitimität aufzubrechen verstehen, ohne auf überholte Rezepte zu setzen. Oder wie Marcuse sagte: „Gegen das Gespenst des Faschismus amerikanischer Prägung liefert die durch ihre Zersplitterung geschwächte, einer effizienten Organisation entbehrende Linke einen ungleichen Kampf. Ihre wichtigste Waffe bleibt, theoretisch wie praktisch, die politische Erziehung – die Gegen-Erziehung: ein langes und mühsames Unterfangen, das darin besteht, den Leuten zu Bewusstsein zu bringen, dass die zum Erhalt der bestehenden Gesellschaft erforderlichen Repressionen überflüssig geworden sind, dass es möglich ist, sie abzuschaffen, ohne sie deswegen durch ein anderes Herrschaftssystem zu ersetzen.“
dt. Christian Hansen
* Politikwissenschaftler an den Universitäten Turin und Nizza-Sophia Antipolis