Die Experten, das Gesetz und der Bürgersinn
Von JACQUES TESTART *
Im Mittelpunkt aktueller Diskussionen über den Themenkomplex Wissenschaft, Technologie und Ethik steht ein mitunter etwas überstrapazierter Begriff: das „Vorsorgeprinzip“. Mit dem Barnier-Gesetz von 1995 fand es Eingang ins französische Recht. Dort heißt es: „Mangelnde Gewissheit darf die Einführung effektiver und angemessener Maßnahmen zur Verhütung schwerer irreversibler Schäden nicht verzögern.“ In neueren Rechtsvorschriften und in der Praxis erfährt der Grundsatz jedoch eine zu enge Auslegung. Danach haben die wissenschaftlichen Sachverständigen bei Technologiefolgenabschätzungen im Wesentlichen die Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen und auf die Umwelt zu berücksichtigen, wobei das Resultat ihrer Gutachtertätigkeit als Grundlage für politische Entscheidungen dient. Zwischen Wissenschaft und Gesetz steht also nichts, oder wenig. Die Bürger, in deren Namen die fraglichen Innovationen eingeführt werden sollen, sehen sich weitgehend ausgeschlossen.
Man mag einwenden, auch in anderen politischen Entscheidungen werde so verfahren, da man verfassungsgemäß davon ausgehen müsse, dass die politisch Verantwortlichen ihr Handeln am Gemeinwohl ausrichten. Indes hat die Einschätzung der Folgewirkungen einer „Risikotechnologie“ wenig gemein mit dem Bau einer Brücke, der technischen Ausstattung eines Krankenhauses oder der Ausfuhr von Obst und Gemüse. In solchen „klassischen“ Fällen ist die stets vorhandene Ungewissheit so gering, dass das Urteil von Experten (Ingenieure, Ärzte, Ökonomen usw.) hinreichend zuverlässig erscheint, um rationale Entscheidungen zu begründen.
Bei Technologien hingegen, die sich negativ auf die Umwelt, die einheimischen Tier- und Pflanzenarten und auf die Gattung Mensch auswirken können, „fußt Gutachtertätigkeit nicht mehr nur auf gültigen Erkenntnissen und übernimmt nicht mehr nur die wissenschaftliche Bürgschaft für Entscheidungen, sondern sie gründet ebenso auf der Fähigkeit, Ungewissheiten zu berücksichtigen und Szenarien einer ungewissen Zukunft zu entwerfen“1 . Ein jüngst veröffentlichter Bericht an den französischen Ministerpräsidenten unterstreicht zu Recht, dass „der Sachverständige kein gesichertes Wissen hat“ und – dies kommt erschwerend hinzu – dass seine Meinungen „nicht frei von Vorurteilen sind“. Die folgenden Seiten des Berichts veranschaulichen diese Einsicht insbesondere durch die Gegenargumente, die die Autoren wider die Ansicht vorbringen, genetisch veränderte Lebewesen könnten die biologische Vielfalt beeinträchtigen: Solche Mutmaßungen seien „ideologisch aufgeladen“, schließlich sei „die Entstehung von Aids eine Manifestation von Biodiversität“.
Es gehört zum Wesen von Situationen, die das Vorsorgeprinzip erfordern, dass sie ein unhintergehbares Moment von Ungewissheit aufweisen, da niemand, erst recht kein rational denkender Geist, die Zukunft vorhersagen kann, wenn die Gegenwart präzedenzlose Entwicklungen in Gang setzt. So weist die Europäische Kommission darauf hin, dass sie sich „in ihrer Risikoanalyse vom Vorsorgeprinzip leiten lässt, wenn die wissenschaftlichen Entscheidungsgrundlagen unzureichend sind oder wenn einige Ungewissheit besteht“3 . Nun sind Fälle von sachverständiger Ungewissheit immer häufiger, sowohl was die Frage anbelangt, ob der Verzehr von britischem Rindfleisch gefährlich ist4 , wie auch mit Blick auf die Besorgnis der Öffentlichkeit in puncto transgener Pflanzen5 . Aus diesem Grund besitzen Gutachten, und seien sie von den besten Spezialisten erstellt, nicht die Qualitäten, die man gemeinhin mit wissenschaftlichem Arbeiten assoziiert, so dass man besser von „Gutachten von Wissenschaftlern“ als von „wissenschaftlichen Gutachten“ sprechen sollte.
Auch wenn die Experten tadellos arbeiten und sich der Ideologie der Technowissenschaft ebenso unzugänglich zeigen wie den Pressionen der Wirtschaft, vermag ihr Beitrag nur das Feld des Unwissens abzustecken, und zwar aus zwei Gründen: Erstens besitzen wir nicht die nötigen Erkenntnisse, um die immer „zugespitzteren“ Probleme angemessen zu analysieren, beispielsweise um zu entscheiden, welches Risiko Blutspender darstellen, die sich in Großbritannien, dem Hauptland des Rinderwahns, aufgehalten haben; und zweitens besitzen wir nicht die Fähigkeit, disparate Informationen aus unterschiedlichsten Gutachten adäquat und präzise zu gewichten und zu synthetisieren, um ein objektives Bild komplexer Zusammenhänge zu gewinnen, etwa bei der Bewertung und Prognose klimatischer Veränderungen.
Da selbst die Experten die Existenz von Ungewissheit anerkennen – zumindest als nicht aufzulösende Restkonstante –, erscheint es unstimmig, der wissenschaftlichen Expertise den Status gesicherten Wissens zuzusprechen und sie als hinreichende Grundlage für politische Entscheidungen zu betrachten. Doch genau dies empfiehlt die Europäische Kommission in einer neueren Mitteilung6 , welche aber die öffentliche Diskussion völlig außer Acht lässt. Die Fehlentwicklung der vereinfachenden Vernunft, die souverän über die Komplexität der analysierten Phänomene hinwegschreitet, beginnt dort, wo ausschließlich der Wissenschaftler – der Ingenieur oder der Ökonom – die Qualität des Sachverständigen beanspruchen darf, während sich alle anderen Wissensarten, die ebenfalls zur Erkenntnis beitragen, der Verachtung preisgegeben sehen.
Hierzu gehören nicht nur die Erkenntnisse anderer Fachgebiete wie der Soziologie oder der Ökologie, sondern auch allgemein menschliche Erkenntnisweisen wie Intuition, gesunder Menschenverstand, ästhetisches Empfinden, Gefühl, Lebensart, Erfahrungswissen usw. Wenn man nicht davon ausgehen will, dass der Politiker im Bereich des Sinnlichen, der Emotionen, des menschlichen Wohlbefindens, des Naturbezugs oder in den Wirren von Lust und Leid ebenso bewandert ist – gewählt wurde er wegen dieser Qualitäten jedenfalls nicht –, so zeigt sich, dass die vielfältigen Erkenntnismöglichkeiten, die sich auftun zwischen der sachverständigen Bewertung einer Technologie und der Entscheidung, sie in Verkehr zu bringen, einfach ausgeräumt werden.
Dass das „Menschliche“ in dem Raum, der sich zwischen technowissenschaftlicher Maschinerie und Entscheidungsapparat auftut, schlicht ausgeblendet wird, spiegelt die Hegemonie eines Wissenschaftsverständnisses wider, das sich noch an der Wissenschaft selbst vergreift. Mit Verwunderung liest man beispielsweise folgende Seitenüberschrift in einem Bericht von Kourilsky und Viney: „Gentechnisch veränderte Lebensmittel stellen für den Verbraucher kein besonderes Risiko dar, doch sollte Letzterer sich frei entscheiden können.“ Keine Spur mehr von den Zweifeln, die der Bericht an anderer Stelle erwähnt. Und damit auch jeder versteht, dass jedweder Widerstand in irrationalen Einstellungen gründet, wird die durch entsprechende Etikettierung vielleicht mögliche Wahlfreiheit von den Autoren damit verglichen, ausschließlich koschere Nahrung verzehren zu wollen.
Immer wieder betonen Wissenschaftler, dass technologische Risiken, sollen sie sich in ihrer Glaubwürdigkeit von reinen Fantasmen abheben, durch Zahlen zu belegen seien, und auch die Brüsseler Kommission fordert „einen strukturierten Entscheidungsprozess, der auf detaillierten wissenschaftlichen Daten und anderen objektiven Informationen beruht“. Bei so vielen Verweisen auf Wissenschaft und Objektivität gewinnt man den Eindruck, dass irgendwo irgendjemand sitzt, der Bescheid weiß, und dass alle nicht quantifizierbaren Sachverhalte nicht den Status eines Arguments verdienen. Gleichzeitig ermahnt die Kommission die Entscheider jedoch, sie sollten sich „des Grads an Ungewissheit bewusst sein, mit dem die Ergebnisse der Evaluierung der verfügbaren wissenschaftlichen Informationen behaftet sind“. So beschreibt man einerseits eine idyllische Situation (die Wissenschaft muss Bescheid wissen, aus Prinzip), nur um andererseits einzuräumen, dass es derzeit noch vorübergehende Mängel gebe. Man weigert sich strikt, andere Argumente anzuerkennen, die zwar definitiv außerhalb der Reichweite der Wissenschaft liegen, jedenfalls aber nicht ungesicherter sind als wissenschaftliche Bewertungen.
Die rechtliche Fixierung des Vorsorgeprinzips hat verdrängt, was in den vergangenen zwanzig Jahren unter dem Titel „Prinzip Verantwortung“ erörtert wurde, um ein Wort von Hans Jonas aufzugreifen.7 Jonas, der die Atom- und Gentechnologie schon früh mit Besorgnis beobachtete, zog als ethische Lösung auch die Möglichkeit in Betracht, ein Projekt schlicht und einfach einzustellen. Das heutige Vorsorgeprinzip hingegen mündet in die Praxis, strittige Projekte einstweilen aufzuschieben oder die Nutzungsbedingungen zu modifizieren.
Gesetzt den Fall, eine technologische Innovation werde nach Maßgabe des Vorsorgeprinzips von jedwedem potentiellen Risiko freigesprochen, so vermag dieses Urteil gleichwohl nicht, ihren Gebrauch in voller Verantwortung zu rechtfertigen. Insbesondere das Ziel nachhaltiger Entwicklung verlangt andere Beurteilungsmaßstäbe; sie fragt nach den Auswirkungen auf die menschliche Entwicklung, die Natur, die soziale Fairness, die Beschäftigung, die regionale Solidargemeinschaft, die Nord-Süd-Beziehungen und dergleichen mehr. Doch wie sollte man sich länger mit einem Moralprinzip belasten, das die „Entwicklung“ in so vielen Fällen blockieren würde, wo die Globalisierung uns doch anherrscht, den neuen „Werten“ – der Wettbewerbsfähigkeit, dem freien Güter- und Kapitalverkehr, dem Produktivismus, dem technologischen Fortschritt – mehr Respekt zu bezeugen.
Unter den Gemeinplätzen, denen schlechterdings nichts Vernünftiges entgegenzusetzen ist, findet sich eine immer wiederkehrende Beschwörungsformel von kläglicher Banalität: „Nullrisiko gibt es nicht.“ Im Grunde handelt es sich dabei nur um eine sprachliche Vorsorgemaßnahme im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen mangelnder Vorsorgemaßnahmen. Doch weshalb sollte man Späne in Kauf nehmen, wenn man das gehobelte Brett gar nicht braucht? Die bornierte Beschränkung auf Risikobewertung verschleiert, dass die Bürger gar keinen Bedarf, ja nicht einmal ein Interesse am Streitgegenstand haben. So sucht das Agro-Business mit aktiver Unterstützung der meisten Sachverständigen und unter tätiger Mithilfe zahlreicher Politiker transgene Pflanzen in den Markt zu drücken, obwohl doch niemand nach ihnen verlangt hat. Wenn die Politiker dabei in keiner Weise das Gefühl haben, den Wähler zu verraten, dann deshalb, weil sie glauben, das Gemeinwohl gegen inopportunen Widerstand zu verteidigen – und in der Tat lassen sie sich eher von ihrem Glauben als von Vernunft leiten.
Die technische Demokratie wagen
WAS sonst als der Glaube an die Ideologie vom gesicherten, irreversiblen Forschritt verführt ernsthafte Menschen, so zu tun und so zu handeln, als seien die mutmaßlichen Vorzüge transgener Pflanzen in irgendeiner Weise bewiesen? Reichen die vagen (und geringen) Produktivitätszuwächse, die die Agro-Industrie ausgehend von unvollständigen Berechnungen in Aussicht stellt, um den Schluss zu rechtfertigen, dass „die Sache mit den transgenen Pflanzen funktioniert“? Selbst wenn in absehbarer Zeit der eindeutige Beweis – und nicht mehr nur das Versprechen – erbracht wäre, dass der Einsatz von Gen-Pflanzen die landwirtschaftlichen Nettoerträge steigern könnte, so bezeugt gerade die Tatsache, dass die Gutachter derzeit nirgends eine solche mögliche Profitabilität ins Feld führen, einmal mehr, dass die „unwissenschaftlichen Argumente“ nicht unbedingt auf Seiten der „Fortschrittsfeinde“ zu suchen sind. Und dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man sich ansieht, welch blindes Vertrauen die Politiker den verkürzten Expertisen schenken. Allem Anschein nach gestattet es die herrschende Technologiegläubigkeit nicht mehr, die vorgeblichen Vorteile neuer Technologien zu hinterfragen. Nur die Legitimation der Anstrengungen, ihre Harmlosigkeit zu erweisen, scheint noch im Bereich des Denkmöglichen.
Ein weiteres Scheinargument sucht zu rechtfertigen, weshalb sich die Gutachtertätigkeit auf die technisch messbaren Risikoaspekte beschränkt und die soziokulturellen Auswirkungen neuer Technologien vernachlässigt – im Fall der transgenen Pflanzen die Auswirkungen auf die Lebensqualität, die fortschreitende Industrialisierung und produktivistische Konzentration in der Landwirtschaft usw. Diese Probleme, so die Argumentation, existierten schon vor Auftreten der gentechnisch veränderten Organismen (GVO), denn weder die züchterische Selektion von Pflanzenvarietäten noch die Gesetze der Marktwirtschaft seien eine Eigenheit der GVO-Technologie. Ausgeblendet wird, dass die beschleunigte Vereinheitlichung der landwirtschaftlichen Praktiken eine qualitative Veränderung der soziokulturellen Parameter nach sich ziehen könnte. Die abrupten Verschiebungen durch Einführung transgener Pflanzen könnten sich auf den Naturhaushalt ganz anders auswirken als die langsamen Veränderungen durch Evolution und traditionelle Zuchtwahl.
Wenn das Handeln der Menschen irreversible Folgewirkungen zeitigt, verlässt die Menschheit das Terrain von Entdeckung und Naturbeherrschung und begibt sich auf einen Abweg mit möglicherweise katastrophalen Konsequenzen. Aus diesem Grund scheint es gerechtfertigt zu untersuchen, inwiefern die neuen Techniken einen qualitativen Bruch mit bisherigen Praktiken darstellen. Ansonsten müsste man die Terminator-Technologie8 nur deshalb akzeptieren, weil sie den seit über 100 Jahren maßgeblichen Handelserfolg der Saatgut-Unternehmen befördert.
Um die Auswirkungen der GVO-Technologie auf Mensch und Umwelt herunterzuspielen, gibt man uns zu bedenken, dass sich die Transgenese auch in der Natur vorfinde: Schon immer würden Bodenbakterien Resistenzgene gegen Antibiotika austauschen; moderner Weizen enthalte Genomstücke vom Roggen; die Mitochondrien und Chloroplasten in tierischen und pflanzlichen Zellen seien Überreste von Bakterien; Tiere und Planzen würden sich schon seit langem genetische Sequenzen von Viren einverleiben usw.
All dies ist kein wirkliches Argument für die sofortige, massenhafte und irreversible Aussaat von Gen-Pflanzen. Die Öffentlichkeit bleibt misstrauisch, und deshalb arbeitet die Industrie seit neuestem an GVOs der „zweiten Generation“: Induzierte Mutationen und die Implantierung von Genen einer verbesserten Varietät derselben Pflanze böten durchaus Vorteile und entsprächen eher dem traditionellen Verfahren der Varietätenselektion. Angesichts des forcierten Tempos, das solche Innovationen der Evolution aufnötigen, angesichts auch der Übermacht des techno-kommerziellen Komplexes wären jedoch auch die Gen-Pflanzen der zweiten Generation völlig neuartige Artefakte, die das Verhältnis der Menschen zur bezähmten Natur ebenso wie das Verhältnis der Menschen untereinander nachhaltig beeinflussen würden.
Wie sollen vernünftige politische Entscheidungen möglich sein, wenn sich zu ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Subjektivität in der Expertise eine gesellschaftliche Sinnkrise gesellt? Michel Callon erinnert in seiner Analyse der „technischen Demokratie“9 an den Bildungsauftrag der Wissenschaftler. Wissenschaftler missverstehen diese Aufgabe vielfach als messianischen Auftrag und fühlen sich dabei durch gewisse Fakten bestätigt – wie etwa folgende Meinungsumfrage, die in einem neueren Bericht des Nationalen Agrarforschungsinstituts (INRA) zitiert wird10 :
Auf die Frage: „Normale Tomaten enthalten keine Gene, während gentechnisch veränderte Tomaten welche besitzen. Ist diese Aussage wahr oder falsch?“ – wussten in Frankreich nur 32 Prozent der Befragten die richtige Antwort (in den Vereinigten Staaten waren es 46 Prozent, in Kanada 52 Prozent). Von einer solch inkompetenten Öffentlichkeit, so die Schlussfolgerung, sei schlechterdings nichts Vernünftiges zu erwarten. Nun ist nicht zu bestreiten, dass wir eine verstärkte Aufklärung der Öffentlichkeit brauchen, doch das heißt noch lange nicht, dass eine aufgeklärte Öffentlichkeit die GVO-Technologie unweigerlich gutheißen würde. Aus diesem Grund hält es Michel Callon für wichtig, dass politische Entscheidungen auch auf Grundlage des Laienwissens der Bürger Legitimation finden.
Interessant ist in dieser Hinsicht die Bürgeranhörung zur GVO-Technologie, die im Juni 1998 vom französischen parlamentarischen Ausschuss für Wissenschafts- und Technologiebewertung veranstaltet wurde. Nach Ansicht der Soziologen, die den oben erwähnten Bericht verfasst haben, zeigten die Laien bei diesem Forum „spezifische Sachkompetenz“. Aufgrund ihrer „von lokalen Rücksichten ungetrübten Sichtweise besitzen sie die kognitiven Fähigkeiten, um an der Technologiebewertung zu partizipieren“. Derselbe Bericht unterstreicht die Wissenslücken der Parlamentarier mit Blick auf die neuen Technologien: Lediglich „einige Abgeordnete, die sich zu Experten unter den Experten entwickeln“, befassen sich intensiver mit jenen „endlose Langeweile“ verbreitenden Dossiers zur Atom- oder GVO-Technologie, während das Parlament insgesamt „die Spaltung unserer Gesellschaft in Experten und Nichtexperten reproduziert“ und die Institutionalisierung von Bürgeranhörungen tendenziell „als Bedrohung“ wahrnimmt.
Vielleicht ist es diese Geisteshaltung, die den Abgeordneten Jean-Yves Le Déaut veranlasste, Abstand zu nehmen von seiner ursprünglichen Begeisterung für die Einrichtung von Bürgeranhörungen, die er letztes Jahr nur noch als „zusätzliche Meinungsäußerung neben der der Experten, der Verbände und der Akteure der betreffenden Industriezweige“11 anerkennen wollte. Als wäre die aufgeklärte öffentliche Meinung nur ein Produkt unter anderen, und nicht vielmehr das, was den Gutachterprodukten überhaupt erst Sinn verleiht. Denis Duclos ist zuzustimmen: „Der wichtigste Bereich der Politik ist der, in dem wir über das Stück reden, das wir spielen werden, und nicht nur über Detailfragen in diesem oder jenem Akt, über die Rollenbesetzung und die Gage der Schauspieler.“12
Um diesem „wichtigsten Bereich der Politik“ mit Blick auf das Vorsorgeprinzip Leben zu verleihen, ist nicht nur in Umweltfragen die aktive Beteiligung der Bürger vonnöten. Erstaunlicherweise nimmt die Mitteilung der Europäischen Kommission zum Vorsorgeprinzip jedoch an keiner Stelle Bezug auf öffentliche Diskussionen. So steht zu befürchten, dass die recht zurückhaltenden Empfehlungen des Kourilsky-Viney-Berichts in Sachen Demokratisierung der Vorsorge bereits den Gipfel an Kühnheit darstellen. Demokratisierung in diesem Bereich setzt jedoch anderes voraus als die bequeme Konzession der Experten, einige Unbedarfte in einen Fachausschuss aufzunehmen, wo sie (erdrückt von der Autorität der Wissenschaft) wie Geiseln festsitzen würden. Ebenso unangemessen ist die Empfehlung der Berichterstatter, einen „zweiten Kreis“ aus „ausgewählten“ Bürgern zu bilden, die mit Unterstützung der wissenschaftlichen Sachverständigen des „ersten Kreises“ ihre Meinung kundtun dürften. Jean-Jacques Salomon, ehemals Präsident des „Collège de la Prévention des Risques Technologiques“, schrieb 1992: „In Anbetracht der Einflussmöglichkeiten der Techniklobbys in unseren modernen Gesellschaften lässt sich das Schlimmste nur durch eine Stärkung der Informations-, Konsultations- und Verhandlungsverfahren verhüten, die die demokratische Funktionsweise unserer Institutionen garantieren.“13
Ein wahrhaft demokratisches Organ könnte ungefähr so aussehen, wie wir es – ohne Erfolg – mit Blick auf die Bildung der nationalen Bioethik-Kommission vorschlugen.14 Auch in diesem Fall dürften die Sachverständigen nur die Rolle von Informationslieferanten spielen; alles weitere wäre der Einsicht, der Intuition und den eigenverantwortlichen ethischen Entscheidungsfindungen verantwortungsbewusster Bürger zu überlassen. In diesem Sinn empfahl die „Französische Kommission für nachhaltige Entwicklung“15 jüngst die Schaffung eines „Beratenden Ausschusses für Technologie-Bewertung“, bestehend aus ehrenamtlichen, im Losverfahren ausgewählten Bürgern. In Frage kämen dabei nur „unbefangene“ Kandidaten – unabhängig von der Industrie und der Forschung ebenso wie von den Nichtregierungsorganisationen. Ihre Aufgabe bestünde darin, nach gründlicher Einarbeitung in die Materie eine Bürgerempfehlung auszusprechen.
Dabei hätte der Ausschuss das Recht, unterschiedslos alle Parteien zu hören – wissenschaftliche Sachverständige, Soziologen, Politologen, Ökonomen, Vertreter der Industrie, Bürgervereinigungen usw. Diese Option wäre mit Blick auf das Gutachterverfahren nicht nur die demokratischste, sondern auch die „wissenschaftlichste“ Lösung, wenn man als wahrhaft wissenschaftlich nur Hervorbringungen einer Vernunft akzeptiert, die nicht vergisst, dass sie nicht alles weiß.
Selbstverständlich sollen die unglücklichen Kandidaten, die bereit sind, sich sachkundig zu machen und Verantwortung zu übernehmen, nicht allein gelassen werden mit den Schrecken der Technik und der Methodologie. Sollte der Bürgerausschuss keinen Konsens erzielen, so könnten an bestimmten Tagen landesweit dezentrale Bürgeranhörungen stattfinden, um dem Ziel der Objektivität möglichst nahe zu kommen.
Konvergierende Stellungnahmen wären als Meinungsbekundung einer aufgeklärten Öffentlichkeit zu betrachten, fortbestehende Divergenzen als Ausdruck unlösbarer Schwierigkeiten. Dieses Konzept wäre auch problemlos auf EU-Ebene übertragbar, wobei die Stellungnahmen des entsprechenden EU-Ausschusses Rückhalt finden könnten in den Empfehlungen der nationalen Bürgeranhörungen.
Durch ein solches Verfahren fände sich der Politiker in seiner Rolle als Entscheidungsträger endlich gerechtfertigt. Nun bliebe ihm, noch andere Parameter in Rechnung zu stellen, insbesondere geopolitische Faktoren, die im Übrigen ja in jede Entscheidung hineinspielen. Dabei hat er sich stets der zeitlichen und räumlichen Tragweite seines Handelns bewusst zu sein, das heißt, er hat einigen Versuchungen zu widerstehen. Da ist zunächst die Versuchung der Kasuistik, eine alte Weise, auf die gewisse Leute, der Mauschelpolitik eher zugetan als dem öffentlichen Gesetzgebungsverfahren, mit Vorliebe zurückgreifen, um sich aus allgemeinen Verhaltensgrundsätzen in spezielle Handlungsvorschriften zu stehlen. Da ist zweitens die Politik des Moratoriums, die auf Akzeptanz durch Gewöhnung setzt und darauf spekuliert, dass die Zeit auch die Ethik erledigt. Und da ist schließlich die Versuchung, sich auf die Grenzen des eigenen Staats zurückzuziehen und so zu tun, als beträfen die Entscheidungen hier nicht das, was sich anderswo abspielt, so als bewohnten nicht alle Menschen denselben Planeten, so als gäbe es mehrere Menschheiten. Wer es wirklich ernst meint, wem eine wahrhaft zukunftsfähige Entwicklung vorschwebt, der wird freilich einräumen müssen, dass Vorsorge eine Angelegenheit weltweit aller Bürger ist.
dt. Bodo Schulze
* Forschungsleiter am Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale (Inserm) und Präsident der Commission Française du Développement Durable (Französische Kommission für nachhaltige Entwicklung). Autor u.a. von „Le Désir du gène“, Paris (Flammarion) 1994, „Des hommes probables. De la procréation aléartoire à la reproduction normative“, Paris (Le Seuil) 1999; „Des grenouilles et des hommes“, Paris (Le Seuil) 2000.