Nationale Sicherheit und kontinentale Hegemonie
DIE Wahl von Vicente Fox in Mexiko, die der siebzig Jahre währenden Vorherrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) ein Ende setzte; die Einmischung der USA in Kolumbien; Neuwahlen in Peru, die Präsident Fujimori wegen Unregelmäßigkeiten bei seiner letzten Wiederwahl ankündigen musste – all dies sind Störfaktoren bei den diskret geführten Verhandlungen, die bis 2005 zur Errichtung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone führen sollen. Das Interesse der USA dabei: einen riesigen Markt zu schaffen und zugleich die Vormachtstellung auf dem Doppelkontinent zu zementieren.
Von JANETTE HABEL *
Mit dem Ende des Kalten Kriegs wurde die Schaffung eines gesamtamerikanischen Wirtschaftsraumes zu einem wichtigen Punkt auf der politischen Tagesordnung der USA. Die Verhandlungen zur Bildung eines gemeinsamen Marktes, der Free Trade Area of the Americas (FTAA), begannen 1994 in Miami mit 34 Teilnehmerländern, Kuba blieb ausgeschlosssen. 1998 wurde in Santiago de Chile weiterverhandelt, im Jahr 2005 sollten die Verhandlungen abgeschlossen sein. Nach Vorstellungen Washingtons wird die gesamtamerikanische Freihandelszone ein neues Zeitalter der Zusammenarbeit einläuten, da sie erstmals beide Hälften der Hemisphäre in einem Projekt vereint.
Die Vorstellung wird von einem Teil der lateinamerikanischen Führungseliten geteilt. Das mag angesichts der wirtschaftlichen Aggressivität und der Hegemonie der USA überraschen, wird jedoch angesichts der Schwierigkeiten verständlich, die sich in den vergangenen Jahrzehnten angehäuft haben. Das Scheitern des herkömmlichen, national ausgerichteten Entwicklungsmodells; die Schuldenkrise Anfang der Achtzigerjahre, die zur Durchsetzung einer ultraliberalen Wirtschaftspolitik führte (d.h. Deregulierung, Privatisierungen, Liberalisierung des Handels); die nur begrenzte Vereinbarkeit der unterschiedlichen Volkswirtschaften, die eine gemeinsame Entwicklungsstrategie erschwert – all das sind Probleme, die ein rein südamerikanisches Integrationsprojekt wenig glaubwürdig machen. Eines der wichtigsten Ziele für die kleinen Länder ist es, sich einen langfristigen Zugang zum nordamerikanischen Markt zu sichern und ausländische Investitionen zu begünstigen (von 34 Staaten gelten 24 als kleine Volkswirtschaften).
Der US-amerikanischen Handelsbeauftragten Charlene Barshevsky zufolge hat sich „das Exportvolumen [nach Lateinamerika] zwischen 1990 und 1996 verdreifacht. 1996 ist es doppelt so schnell gewachsen wie der US-Handel mit der restlichen Welt. Für die USA ist Lateinamerika ein wichtigerer Markt als die Europäische Union.“ So erklärt sich, dass die USA das Ziel verfolgen, die Volkswirtschaften des Kontinents mit ihren immer noch stark geschützten Märkten weiter zu liberalisieren. „Man kann die FTAA mit einer Monroe-Doktrin für das 21. Jahrhundert vergleichen“, sagen die Professoren Victor Bulmer-Tomas und Sheila Page.2 „Erfolgreiche Verhandlungen würden zweifellos die ökonomischen und auch die politischen Bindungen zwischen den Ländern Lateinamerikas und den USA festigen und entsprechend die Handelsbeziehungen mit der Europäischen Union schwächen.“
Bereits im August dieses Jahres hat die US-amerikanische Außenministerin Madeleine Albright anlässlich ihrer Argentinienreise dafür plädiert, die Deregulierung des Telekommunikationssektors voranzutreiben, um das Monopol der spanischen Telefónica und der französisch-italienischen Telecom zugunsten der großen US-Firmen zu brechen.3
Die geplante Freihandelszone ist auch für die Sicherheitspolitik Washingtons von Interesse. Nach dem Ende des Kalten Kriegs im Jahr 1991 haben sich neue Gefahren ergeben: Drogenhandel, Geldwäsche, illegale Einwanderung, Terrorismus, Umweltzerstörung usw. Polizeiliche Kontrollmechanismen, Grenzüberwachung und generell die Sicherheit des Kontinents sind ein fester Bestandteil des verabschiedeten Aktionsplans.
Lohn- und Öko-Dumping
EIN hervorragendes Druckmittel gegen die Regierungen der Region ist der Kampf gegen den Drogenhandel. Die Bemühungen von Madeleine Albright, eine größtmögliche Anzahl von Staaten in den „Plan Colombia“ einzubeziehen, machen deutlich, dass es dabei auch um eine Ausweitung der US-Präsenz geht.4 Dieser Plan dient vorgeblich der Bekämpfung des Drogenhandels, richtet sich in Wahrheit aber gegen die Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC). Auch die Rolle der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wird aufgewertet. Ihre Charta, die 1992 mit dem Washingtoner Protokoll reformiert wurde, sieht bei politischen Krisen oder einem Stocken der Demokratisierungsprozesse ein „Einmischungsrecht“ vor.
Washington schlägt also im Namen der von den internationalen Finanzinstitutionen gepredigten Prinzipien der good governance vor, die Handelsbarrieren auf dem gesamten Doppelkontinent zu Fall zu bringen. Im Grunde aber geht es um die Verankerung eines weltweiten ökonomischen Projektes, in dem Lateinamerika nur ein Element darstellt: um die Durchsetzung eines Wirtschaftsprogramms, das den Bedürfnissen multinationaler Konzerne entgegenkommt. Tatsächlich ist die FTAA, wenn die USA ihre Position durchsetzen, „als eine Pioniertat zu betrachten für die nächste Generation von Handelsverträgen im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO“5 .
Es geht also darum, neue Vorschriften und Regelungen einzuführen. Einige Bereiche fallen zwar in den Zuständigkeitsbereich eines WTO-Vertrages, doch andere sind im lateinamerikanischen Kontext noch nicht angesprochen worden. So zum Beispiel die Frage staatlicher Auftragsvergabe, ein Thema, das um so heikler ist, da es „die Konzeption des Staates, seine Beziehungen zur Privatwirtschaft und seine Souveränität betrifft“, wie sie in den lateinamerikanischen Verfassungen garantiert waren, „die etwa eine Vorzugsbehandlung für staatliche Unternehmen vorschrieben“6 .
Diese Vorzugsbehandlung wollen die US-Multis angreifen, wenn sie das Ende der „Diskriminierungen“ fordern. „Es handelt sich um eine Versicherungspolice gegen alle Tendenzen, die einer Rückkehr zum Protektionismus wohlwollend gegenüberstehen“, so die Zusammenfassung eines Experten.
Der künftige riesige Markt des Doppelkontinents würde sich in einen „Wirtschaftsraum verwandeln, in dem Waren und Kapital völlig frei zirkulieren, und überdies den normativen Rahmen eines neuen Integrationsmodells liefern“7 . Aber natürlich soll das Prinzip der freien Zirkulation nicht für Personen gelten.
„Die Demokratie stärken, durch wirtschaftlichen Zusammenschluss zum Aufschwung der Demokratie beitragen. Die Demokratie durch nachhaltige Entwicklung festigen“ – so lautet der Titel des 1998 verabschiedeten Aktionsplans. Seine Befürworter versichern, eine auf einer stabilen Ökonomie gegründete Partnerschaft, auf der Basis von Wettbewerb und ökonomischer Integration, führe zu einer nachhaltigen Entwicklung. „Der Freihandel bringt ungleiche Verpflichtungen mit sich, die auf den Entwicklungsländern schwerer lasten als auf den Partnern in den Industrieländern“, räumt Jeffrey Schott ein, ein Experte des US-Senats. Doch dieses Ungleichgewicht werde dadurch „wettgemacht“, dass der Freihandel „das Land für ausländische Investoren attraktiver macht“8 .
Dabei zeigt die Erfahrung Mexikos seit Inkrafttreten des nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta, dass eine Öffnung des Handels gegenüber einem sehr viel weiter entwickelten Land zur Deindustrialisierung führt, zur Vernichtung ganzer Bereiche der traditionellen Landwirtschaft, zu gravierenden regionalen Ungleichgewichten und zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit.
Wie erklärt sich angesichts der strategischen Bedeutung dieses Projekts, dass es nur langsam in die Gänge kommt? Die Vielschichtigkeit und Komplexität der regionalen, subregionalen oder bilateralen Handelsabkommen, die sich auf dem Kontinent überlagern – allein 1997 wurden 56 solcher Verträge abgeschlossen – machen ihre Harmonisierung im Rahmen der FTAA besonders schwierig. Überdies bremsen soziale und politische Faktoren den Aufbau eines einheitlichen Marktes.
Dies gilt zum Beispiel für die Länder des Andenpakts: In Kolumbien herrscht Bürgerkrieg. In Ecuador ist die Wirtschaftskrise nach wie vor höchst virulent. Die Spannungen zwischen Venezuela und den USA haben sich verschärft, seitdem Präsident Hugo Chávez sich mit Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi getroffen hat und sich bemüht, die Erdöl exportierenden Länder der Opec auf eine Linie einzuschwören. In Peru hat die umstrittene Wahl von Alberto Fujimori Protestbewegungen ausgelöst, die seinen Rücktritt herbeigeführt haben.9
Hinzu kommt, dass die geopolitischen Zielsetzungen, auch wenn die ökonomischen Interessen sich zunehmend überschneiden, immer noch divergieren. Die Andenpakt-Staaten haben auf ihrem Gipfeltreffen im vergangenen Juni in Peru in Anwesenheit der bolivianischen, ecuadorianischen, kolumbianischen und venezolanischen Staatspräsidenten für das Jahr 2005 – in diesem Jahre sollen die Verhandlungen für die amerikanische Freihandelszone abgeschlossen sein – die Schaffung eines regionalen gemeinsamen Marktes und eines „nationalistischen Andenblocks“ beschlossen. Darüber hinaus steht der Andenpakt in Verhandlungen mit den Ländern des Mercosur (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay mit den Assoziierten Chile und Bolivien). Und schließlich haben dieselben Andenländer auf dem Treffen der südamerikanischen Regierungen in Rio de Janeiro am 1. September der Bildung eines Lateinamerikanischen Blocks im Jahr 2002 zugestimmt.
In der Tat beansprucht Brasilien, die wirtschaftliche Integration zu steuern und, gestützt auf die Basis eines gefestigten südamerikanischen Blocks, mit den USA zu verhandeln. Doch der Ehrgeiz des mächtigsten Landes auf dem Subkontinent stört seine kleineren Partner Uruguay und Paraguay, die das Hegemoniestreben Brasílias beklagen (das brasilianische Bruttoinlandsprodukt repräsentiert 70 Prozent des BIP des gesamten Mercosur). Überdies sehen sich die kleinen Länder wegen einer bestehenden bilateralen Partnerschaft zwischen Brasília und Buenos Aires beiseite geschoben.
Argentinien wiederum hat in der Vergangenheit Interesse am Nafta-Vertrag bekundet und mehrmals den Gedanken der Dollarisierung verteidigt, die das Risiko von Währungsschwankungen ausschließen soll. Washington sieht Argentinien als privilegierten Partner der Nato. Guido di Tella, der ehemalige Außenminister unter Carlos Menem (mittlerweile der Beihilfe zum Waffenschmuggel angeklagt), sprach in diesem Sinne sogar von „körperlichen Beziehungen“ mit den USA.
Neben diesen Schwierigkeiten müssen auch politische Widersprüche in den USA selbst überwunden werden. Obwohl der amerikanische Freihandelsvertrag eine Initiative des damaligen Präsidenten George Bush war, die von Bill Clinton vorbehaltlos unterstützt wurde, ist es Clinton nicht gelungen, im Kongress die fast track-Regel durchzusetzen – ein Schnellverfahren, das eine Beschlussfassung im Kongress ermöglicht hätte. Die Befürchtungen angesichts der durch den Nafta-Vertrag ausgelösten mexikanischen Krise im Jahr 1994 sowie die Weigerung der Republikaner, Sozial- oder Umweltschutzklauseln in das Vertragswerk mitaufzunehmen, die aber von US-Gewerkschaften (die ein Sozialdumping befürchten) und Umweltlobby gefordert werden, haben die Verhandlungen gebremst.
„Stop fast track“, fordert die AFL-CIO-Gewerkschaft und verweist auf den Verlust von 420 000 Arbeitsplätzen nach Inkrafttreten des Nafta-Vertrags sowie auf den Verfall der ohnehin niedrigen Löhne. Die US-amerikanischen Gewerkschaften stehen der gesamtamerikanischen Freihandelszone ablehnend gegenüber. Doch ihre Haltung ist nicht frei von Widersprüchen: „Fast track to unsafe foods“, „fast track to more drugs in our schools“, „fast track to unsafe highway“ (auf schnellstem Weg zu unsicheren Lebensmitteln, zu mehr Drogen in unseren Schulen, zu unsicheren Autobahnen), verkündet die Lastwagenfahrergewerkschaft – als lägen die Gründe für die Unsicherheit und den Drogenhandel lediglich auf einer Seite. Die US-amerikanischen Nichtregierungsorganisationen und Umweltschutzgruppen klagen die „multinationalen amerikanischen und kanadischen Unternehmen“ an, „Lateinamerika als Gelegenheit zu betrachten, um niedrige Lohnkosten und weniger strikte Umwelt- und Gesundheitsschutzvorschriften auszunutzen“10 .
Schließlich wurden die Verhandlungen auch noch durch die Absicht der USA gebremst, auf bilateraler Ebene mit den einzelnen lateinamerikanischen Ländern zu verhandeln. Der Ausbau subregionaler Bindungen erweist sich für die großen Firmen als so günstig, dass einige US-Experten es für effizienter halten, den Mercosur als strategischen Partner zu behandeln statt als regionalen Konkurrenten.
Dieser Standpunkt scheint sich durchgesetzt zu haben. Trotz aller derzeitigen Schwierigkeiten und der absehbaren Verzögerungen ist der wirtschaftliche Zusammenschluss also auf den Weg gebracht – egal ob er letztlich über Verhandlungen zwischen den Blöcken oder über eine progressive Ausweitung des Nafta-Vertrags auf andere Länder umgesetzt werden wird, oder gar durch die Ausweitung bilateraler Abkommen.
In jedem Fall wird der künftige US-Präsident bereits wenige Wochen nach seinem Amtsantritt über den einzuschlagenden Weg entscheiden müssen, denn der dritte gesamtamerikanische Gipfel wird im April 2001 in Quebec stattfinden. Beide Kandidaten, George W. Bush und Al Gore, zeigen sich entschlossen, noch vor diesem Termin den fast track durchzusetzen. Die entsprechenden Erklärungen des Bush-Beraters Robert Zoellick sind eindeutig. Der gewählte Präsident wird die Initiative ergreifen und der Angelegenheit Priorität einräumen müssen, das wird aber eine Konfrontation mit den US-amerikanischen Gewerkschaften bedeuten.11
Nach dem Scheitern der WTO-Verhandlungen in Seattle scheint die FTAA zum Ersatzprojekt zu werden: zu einer Reservestrategie, mit der sich über Umwege und zunächst nur auf regionaler Ebene das umsetzen lässt, was weltweit nicht durchsetzbar ist.
Asymmetrische Liberalisierung
DIE Unausgewogenheit dieser regionalen Partnerschaft, die aus der geringen Wettbewerbsfähigkeit der lateinamerikanischen Volkswirtschaften resultiert, wird durch die unerbittlichen Handelspraktiken der USA noch potenziert. Charlene Barshevsky zufolge hat Washington seinem Nafta-Partner Mexiko gedroht, die WTO anzurufen, um das Land zu nötigen, seinen Telekommunikationsmarkt zu öffnen, das staatliche Unternehmen Teléfonos de México nicht mehr zu protegieren und somit „aufzuhören, den amerikanischen Interessen zu schaden“12 . Die Asymmetrie der Liberalisierung zeigt sich darin, dass das Bruttosozialprodukt der USA 16-mal höher ist als das brasilianische, 25-mal höher als das mexikanische und 30-mal höher als das argentinische – von den ärmsten Ländern des Kontinents ganz zu schweigen.
Die entstehende neue Ordnung gründet auf zwei Prinzipien: „Dem juridischen Gleichbehandlungsprinzip und dem ökonomischen Prinzip des freien Wettbewerbs“, konstatieren Christian Deblock und Dorval Brunelle. Einfacher ausgedrückt: Der Fuchs soll freien Zugang zu den ebenfalls „freien“ Hühnern im Hühnerstall bekommen. Allen anfänglichen Ungleichheiten zum Trotz sollen die individuellen Privatrechte Vorrang vor den sozialen Rechten haben. So lautet der Konsens der so genannten Zivilgesellschaft (die sich in den Verhandlungen meist auf die Geschäftswelt reduziert). Er muss die Grundlage des Gesetzes bilden, und eben nicht der Staat, der seine traditionellen Vorrechte verloren hat. Dies ist umso leichter umzusetzen, als der Staat seine Legitimität eingebüßt hat, da er die Folgen der Strukturanpassung auf die Arbeitnehmer abwälzten musste, und dies zu einem Zeitpunkt, da die Korrumpierbarkeit der Eliten offen zutage trat.
Ist einer derartig ungleichen Integration ein entwicklungspolitisches Projekt entgegenzusetzen? Oder haben die lateinamerikanischen Regierungen gar keine andere Wahl, wenn sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben wollen, wie es die liberalen Ökonomen behaupten?
Für den brasilianischen Soziologen Emir Sader geht es darum, sich zwischen einer amerikanischen Freihandelszone, die aus Lateinamerika ein riesiges zollfreies Gebiet macht, oder einem erweiterten und auf der Grundlage eines alternativen Integrationsprojekts vertieften Mercosur zu entscheiden.13 Die Absicht von Hugo Chávez und Fidel Castro, ein Projekt aus dem Geiste Bolivars heraus anzugehen, ist ein Versuch, auf das Fehlen eines politischen Integrationsprojekts in Lateinamerika zu reagieren. Doch ein solches Anliegen setzt die Existenz einer lateinamerikanischen Bourgeoisie voraus, die geschlossen hinter einer Entwicklungsstrategie und dem dazugehörigen Gesellschaftsentwurf steht. Und die entschlossen ist, den US-amerikanischen und europäischen Konzernen die Stirn zu bieten. Indes, „der politische Wille zur Einheit ist nicht stark genug, um die ökonomischen Interessen zu überwiegen. Dies birgt das Risiko, dass ein solches Projekt in jeder wirtschaftlichen Krisenperiode in den Partnerländern immer wieder in Frage gestellt wird.“14 In der Tat hat der Mercosur seit der Abwertung des Real in Brasilien einige Zerreißproben durchlebt, die Beziehungen zwischen Brasília und Buenos Aires sind in einer schwierigen Phase. Die beiden Länder ziehen in ihrer technologischen Entwicklungspolitik nicht am selben Strang, und das Regionalbewusstsein ist nicht stark genug ausgeprägt, um die globalen Strategien der multinationalen Konzerne konterkarieren zu können (siehe Kasten).
Ein alternatives Integrationsprojekt hat nur dann Erfolgsaussichten, wenn es über soziale Legitimität verfügt. Die aber kann auf einem Kontinent, der die weltweit krassesten sozialen Gegensätze aufweist, nur auf der Basis eines Programms für soziale Gerechtigkeit und tief greifender wirtschaftlicher Umwälzungen entstehen. Seit 1990 hat sich die Kluft zwischen Reich und Arm noch vertieft. Nach Angaben der interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) müssen 150 Millionen Menschen mit knapp zwei Dollar täglich auskommen.
Eine Analyse der von den amtierenden Regierungen ergriffenen politischen Maßnahmen zeigt, dass sie diesen Weg nicht gewählt haben. Um mit den brasilianischen Produkten auch nach der Abwertung des Real mithalten zu können und die Wettbewerbsfähigkeit Argentiniens zu verbessern, hat die argentinische Regierung Maßnahmen ergriffen, die eine erhöhte Flexibilität der Arbeit gewährleisten und somit die Produktionskosten senken sollen. Andere Reformen sind bereits angekündigt, insbesondere die Deregulierung der sozialen Sicherungssysteme – in einem Land, wo 40 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung „schwarz“ arbeiten, also ohne jegliche soziale Absicherung. In Brasilien haben aufgrund der wirtschaftlichen Öffnung die Unternehmen massiv Stellen abgebaut, und der informelle Sektor ist derart sprunghaft angewachsen, dass es heute im privaten und öffentlichen Sektor mehr informelle als registrierte Arbeitnehmer gibt.
Welchen Wert kann man den von den Regierenden verkündeten sozialen Anliegen unter derartigen Bedingungen noch beimessen? Die im Juni 2000 verabschiedete Sozialcharta von Buenos Aires sieht keinerlei Zwangsmaßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer vor. Und das, obwohl nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) die Internationalisierung der Produktion die Möglichkeiten für kollektive Tarifverhandlungen eingeschränkt hat und die Rechtsverletzungen im Arbeitssektor zunehmen.
Wenn die ohnehin verarmte lateinamerikanische Bevölkerung nur noch wählen kann, ob sie von einem Neoliberalismus US-amerikanischer oder lateinamerikanischer Färbung verspeist werden möchte, wird sie sich höchstwahrscheinlich gegen beide auflehnen. Mangels alternativer Lösungen und angesichts des Booms von Unsicherheit und Elend könnten die Gesellschaften, die gegen Drogenhändler und Korruption wehrlos dastehen, im Chaos versinken. Der territoriale Zerfall und die soziale Zerrüttung einiger Regionen sind bereits die Vorboten dieser Entwicklung.
So droht der Plan Colombia, weit davon entfernt, den Drogenhandel auszumerzen, einen Exodus der Bevölkerung im Süden dieses Landes auszulösen. Bereits jetzt stehen 22 000 brasilianische Soldaten an der kolumbianischen Grenze bereit, um die erwarteten Flüchtlingswellen zu stoppen. Indem sie, wenn auch widerstrebend, dem US-amerikanischen Plan zugestimmt haben, der für Washington das strategische Herzstück zum Erhalt seiner Hegemonie darstellt, haben sich einige lateinamerikanische Staatsoberhäupter in ein gefährliches Räderwerk begeben.
dt. Miriam Lang
* Universität Marne-La-Vallée und Centre de Recherches et d’Etudes sur l’Amerique Latine et les Caraïbes (CREALC).