13.10.2000

Eine Turbo-Subkultur

zurück

Eine Turbo-Subkultur

Von PHILIPPE BRETON *

Kaum zu übersehen sind heutzutage die Berührungspunkte zwischen dem aktuellen Internet-Kult und jener gegenkulturellen Bewegung, die in den USA im Laufe der Sechzigerjahre zu einem Massenphänomen wurde und in der ein oder anderen Form auch verschiedene Länder Westeuropas erreichte. Als „Gegenkultur“ bezeichnet man dabei (leicht homogenisierend) jene recht heterogenen Zeiterscheinungen wie das Erbe der Beat Generation, die jugendliche Protestbewegung, aus der die Studentenrevolte entstand, sowie die Hippie-Bewegung und alle aus diesen Strömungen hervorgegangenen Nachfahren wie etwa die Alternativbewegung.

Die gegenkulturelle Bewegung als solche verschwand zwar in den Siebzigerjahren, ihre Wertvorstellungen aber prägten weiterhin Lebensgefühl und Lebensweise vieler Erwachsener. In den Vereinigten Staaten werden noch heute berühmte Namen mit dem die gesamte Epoche prägenden Aufbruch assoziiert: Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Alan Watts, Ken Kesey, Timothy Leary, Gary Snyder, Neal Cassady und Bob Dylan, außerdem zahlreiche Musikgruppen und diverse Zeitschriften. Die Zentren dieser „Revolution“ waren San Francisco und die Westküste.

Konkrete Ausdrucksformen dieser Gegenkultur waren Aussteigertum (der „drop out“), Initiationsreisen nach Art buddhistischer Bettelmönche – vielfach nach Indien, aber auch durch die Vereinigten Staaten oder Europa –, ferner: ein Leben in Gemeinschaften, ein inniger Wunsch nach Gleichheit, in den libertäre Einflüsse hineinspielten, eine Gewaltfreiheit in Anlehnung an Mahatma Gandhi, eine Naturnähe sowie ein gewisser Mystizismus fernöstlicher, insbesondere zen-buddhistischer Prägung (zahlreiche Akteure dieser Zeit bekehrten sich zum Zen-Buddhismus oder schlossen sich fernöstlich angehauchten Sekten an).

Die Gesellschaft, so wie man sie sich entwarf, war eine friedfertige, von Liebe und Altruismus geprägte Gemeinschaft. Zahllose miteinander vernetzte Gruppen, in deren Umkreis sich Hunderttausende von Menschen bewegten, bildeten damals jenen weit verzweigten „Underground“, der seine eigene Musik, seine eigenen Bücher, Freizeit- und Bildungsangebote, alternative Nahrungsmittel und Medikamente produzierte.

Diese Idee einer neuen Welt weist in mancher Hinsicht Gemeinsamkeiten mit der derzeitigen Internet-Bewegung auf, in der ebenfalls Hunderttausende von zumeist jungen Menschen auf der Suche nach einer brüderlicheren, friedfertigeren, kommunikativeren Gesellschaft sind. Die thematische Kontinuität ist in der Tat frappierend: Auch die Welt des Internet bildet eine Art „Underground“, einen Ort, zu welchem man aus der „normalen Welt“ entfliehen kann. Die „Drop-outs“ von heute verbringen ihre Zeit im Internet, und die Art und Weise, wie die jugendlichen Anhänger des neuen Surfer-Kults beschrieben werden, erinnert in erstaunlicher Weise an die „Gammler“ Kerouacs.

Wo man in den Fünfzigerjahren „on the road“ war, um dem Leben einen neuen Sinn zu verleihen, da surft man heute „im Geiste“ auf den „Autobahnen der Kommunikation“. Weitere Analogien ließen sich unschwer finden, und was sich in dieser Kontinuität trotz aller formaler Neuerungen zu erkennen gibt, ist die fortwährende Präsenz der Nachkriegszeit, ganz so, als sei die Gesellschaft stehen geblieben, als führten wir mit anderen Kostümen immer noch dasselbe Stück auf.

Weitgehend fremd allerdings war der Gegenkultur der Sechzigerjahre jene Verbindung mit neoliberalen Werten, wie sie dem Internet-Kult eigen ist. Von den beiden großen Utopien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – der revolutionären und der gegenkulturellen – hat nur Letztere überlebt, beziehungsweise: Sie reinkarniert sich heute im Internet-Kult. Bei aller libertär inspirierten Kritik an Kapitalismus und Konsumgesellschaft hatte die Gegenkultur mit dem Liberalismus aber nie vollständig gebrochen, und dies erklärt auch, warum der Internet-Kult neoliberale Werte so problemlos aufnehmen konnte.1

Ein Überblick über die verschiedenen Werte und Denkströmungen, die dem Internet-Kult zugrunde liegen, wäre freilich unvollständig, würden wir nicht ein im Hinblick auf die skizzierte Großproblematik zwar „sekundäres“, gleichwohl bedeutsames Ideologem erwähnen, das sich als „Jugendkult“ bezeichnen lässt, das heißt eine Verherrlichung der Jugend und ihrer Werte, welche zum allgemein gültigen Verhaltenskodex erkoren wird.

Der Internet-Kult ist ein jugendlicher Kult – ein Kult der Jugend für die Jugend. Er gilt als „permanente Revolution“, deren Richtung durch „junge Menschen“ vorgegeben wird. Am weitesten treibt diesen Jugendkult der Guru der neuen Medien, Nicholas Negroponte: „Meines Erachtens wird eine solche Dekonzentration der Intelligenz auch in unserer Gesellschaft heranwachsen – vorangetrieben von einer jungen Bürgerschaft in der digitalen Welt. Die traditionelle zentralistische Lebenseinstellung wird dann der Vergangenheit angehören. Aber auch der Nationalstaat als solcher wird gewaltige Veränderungen und eine Globalisierung erleben. [...] Während sich die Politiker mit der Altlast der Geschichte abmühen, entsteht aus der digitalen Landschaft eine neue Generation. [...] Die digitale Technologie kann wie eine Naturgewalt wirken, die die Menschen zu größerer Weltharmonie bewegt.“2

Negroponte unterstreicht die Bedeutung der Jugend bei der Herausbildung einer „Gegenkultur zur etablierten Computerwissenschaft. [...] Was uns zusammenbrachte, war nicht eine bestimmte Fachrichtung, sondern der Glaube, dass der Computer durch seine Allgegenwart nicht nur die Wissenschaft, sondern auch unsere gesamte Lebensqualität grundsätzlich verändern würde.“ Der Chef des Media Lab am Massachusetts Institute of Technology meint, wie viele andere auch, Kinder seien „von Natur aus“ für Computer begabt: „Ob man nun die demografische Zusammensetzung des Internet, die Benutzer von Nintendo und Sega oder sogar die Akzeptanz des Personalcomputers untersucht, man erkennt in jedem Fall, dass die treibenden Kräfte weder sozial noch rassisch oder wirtschaftlich, sondern einzig und allein generationsbedingt sind. Was früher Arm und Reich waren, sind heute die Jungen und die Alten.“

Wie man sieht, kommt der Jugendkult nicht ohne ein gewisses Maß an Demagogie aus. Doch in der Tat stützt sich der Internet-Kult auf die jüngsten Bevölkerungsschichten. Der Microsoft-Konzern etwa, der zur Zeit versucht, sich im Internet ein zweites Standbein zu verschaffen, beauftragt sogar äußerst junge Leute mit der Entwicklung einer Erfolg versprechenden Strategie. „Das Unternehmen geht davon aus, dass diese jungen Leute fast ständig online sind. [...] Deshalb hat die Firma zwei Heranwachsende damit beauftragt, der Führungsriege mittleren Alters ihre neue Arbeits- und Freizeitphilosophie zu erklären.“3 Einer der beiden Heranwachsenden äußert, dass „Bildung, Arbeit und Ruhestand, die einst geschiedene, aufeinander folgende Lebensphasen waren, heute ineinander fließen“.

Der Jugendkult geht einher mit einer systematischen Apologie der „Geschwindigkeit“, die zum neuen Glaubensbekenntnis avanciert: Je schneller, desto besser, und desto näher am Leben des Geistes. Erst die Geschwindigkeit befreit uns vom Körper und ermöglicht uns die ständige Nähe zu den anderen. „Die Wirklichkeit der Information“, sagt Paul Virilio, „besteht einzig und allein in der Geschwindigkeit ihrer Ausbreitung.“4 Und Alain Madelin, einer der liberalen Fürsprecher des Internet, behauptete in einem Kommentar in Le Monde zum Prozess gegen José Bové, der im September zu drei Monaten Haft verurteilt wurde: „In Wirklichkeit bietet die im Entstehen begriffene neue Welt die ungeheure Chance für die Wiedergeburt einer Gesellschaft nach menschlichem Maß, und in dieser neuen Welt werden nicht die Großen über die Kleinen, sondern die Schnellen über die Langsamen triumphieren.“5

Nun drängt sich bei der Lektüre gewisser Äußerungen die Frage auf, welchen Platz diese „neue Welt“ wohl den Alten, das heißt den über Fünfunddreißigjährigen einräumen wird. Eine Studie, die wir im Auftrag der Caisse nationale d'assurances-vieillesse (staatliche Rentenkasse) erstellt haben6 , zeigt, dass im Bereich der neuen Informationstechnologien ältere Menschen in den Argumentationen regelrecht ausgeschlossen werden, was im Wesentlichen auf dem in diesem Milieu tonangebenden Jugendkult beruht.

dt. Bodo Schulze

* Soziologe, Straßburg. Der folgende Beitrag ist ein Auszug aus seinem Buch „Le Culte d'Internet. Une menace pour le lien social?“, Paris (La Découverte) 2000.

Fußnoten: 1 Dazu Armand Mattelart, „Wie der Internet-Mythos entstand“, Le Monde diplomatique, September 2000. 2 Nicholas Negroponte, „Total digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder die Zukunft der Kommunikation“, München (Bertelsmann) 1995. 3 Le Monde, 6. Mai 2000. 4 Paul Virilio, „Die Eroberung des Körpers“, München (Hanser) 1994. 5 Le Monde, 2./ 3. Juli 2000. 6 Annie Bousquet u. Philippe Breton, „La place des personnes âgées dans l'argumentaire et le discours d'accompagnement des nouvelles technologies de communication“, Rapport de Recherche MIRE-CNAV, März 1998.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2000, von PHILIPPE BRETON