10.11.2000

Fragen zur Schoah

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Fragen zur Schoah

AUF den zweiten Weltkrieg folgte zunächst eine Zeit des Schweigens über die Schoah. Dann, während des Kalten Krieges, die Zeit der Zeugenberichte. Neuerdings jedoch erleben wir eine dritte Phase, die der offenen Provokation. Unter dem Vorwand des „Tabubruchs“ wird nun die Pflicht zur Erinnerung in Frage gestellt, um von den Auswüchsen der so genannten „Schoah-Industrie“ zu sprechen oder gar – wie etwa der New Yorker Schauspieler Scott Capuro – „das Gejammere meiner Glaubensbrüder über den Holocaust“ lächerlich zu machen.1

Mit der Globalisierung treten wir in die zweifelhafte Phase einer allgemeinen Umwertung der Fakten ein, von der die Krise der Politik wie die der zeitgenössischen Kunst zeugt. Das diesjährige Theaterfestival in Edinburgh belegt das genauso wie das Forum für bildende Kunst in Bordeaux, wo im Rahmen einer Ausstellung Micky Maus mit dem Gedenken an Auschwitz in Verbindung gebracht wurde.2

Was die unpassenden Äußerungen von Rabbi Ovadia Yossef, diesmal in Jerusalem, betrifft,3 so zeigen sie das Bedrohliche dieser geschichtlichen Periode, in der der Negativismus einem neuen Typus des theologischen Revisonismus Raum gibt, der ebenso aberwitzig ist wie der der Auschwitzleugner.

Wer dieser grassierenden Desinformation entgehen will, sollte Gérard Rabinovitchs Essay, „Question sur la Shoah“,4 lesen. Rabinovitch beschränkt sich nicht darauf, einige unstrittige Fakten in Erinnerung zu rufen, sondern er stellt die nicht zu beantwortende Frage des Holocaust neu, jene Frage, die sich bis heute der rationalen Interpretation durch Historiker versperrt, und wenn sie auch mit noch so einleuchtenden Argumenten Antwort auf die offene Frage nach dem Bösen suchen, nach dem absolut Bösen, das sich jeglichem Zugriff entzieht. Tatsächlich lässt sich der Zweckoptimismus, zu dem der groß angelegte Werbefeldzug für eine Industrialisierung des Lebens durch die Biotechnologien uns heute zwingt, nicht aufbringen ohne eine radikale Überprüfung unseres Verhältnisses zur Vergangenheit, zu jener Epoche, in der ein Doktor Mengele die Nachfolge von Sir Francis Galton, einem der Väter der Eugenik, antrat . . .

Gérard Rabinovitch formuliert es am Ende seines Buches so: „Die totalitären Lebensborn-Konzepte werfen, ohne es zu ahnen, ihren Schatten auf die selektive Zeugung und die medizinische Indikation voraus, ja sie kündigen gewissermaßen das Klonen von Menschen an.“

Dass die englische Regierung das Klonen zu therapeutischen Zwecken erlauben will, kann diese Äußerungen nur bestätigen, zumal die britischen Abgeordneten, die Ende des Jahres darüber abzustimmen haben, beschlossen haben, dies nach eigenem Gewissen und nicht, wie in Westminster üblich, der Parteidisziplin gemäß tun werden – ein weiterer Beweis für die Krise der Politik angesichts wissenschaftstechnischer (Fehl-)Entwicklungen.

Paul Virilio

Fußnoten: 1 Vgl. Marc Roche, „Limites et réussites du Fringe d’Edimbourg“, in Le Monde, 13./14. August 2000. 2 Vgl. Hervé Gauville, „Une enfance de l’Art“, anlässlich der Ausstellung „Présumé innocents“, in Libération, 13. August 2000. 3 Der spirituelle Mentor der orientalisch-orthodoxen Schas-Partei stellte in einer Predigt Anfang August die Behauptung auf, die sechs Millionen durch die Nazis ermordeten Juden seien Reinkarnationen all jener Juden, die in ihrem früheren Leben gesündigt hätten. Sie hätten ihre Verfehlungen durch den Tod sühnen müssen. Diese Sabbatpredigt hat in Israel eine Welle der Empörung ausgelöst. 4 Gérard Rabinovitch, „Questions sur la Shoa“, Paris (Les Essentiels Milan) Februar 2000.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2000, von Paul Virilio