Humanressourcen für den Weltmarkt
Von RICCARDO PETRELLA *
DIE Schule hat die Aufgabe, die junge Generation auf das Leben in der demokratischen Gesellschaft vorzubereiten. Aber auch unsere Bildungssysteme unterliegen zunehmend der Logik des Marktes. Im „Zeitalter des Wissens“, da alles Denken auf technologische und wissenschaftliche Weiterentwicklung ausgerichtet ist, droht die Schulbildung die Kluft zu zementieren, die sich weltweit zwischen Norden und Süden, zwischen Westen und Osten, zwischen Reich und Arm auftut.
Das Bildungswesen leidet gegenwärtig unter fünf Hauptproblemen, die aus den politischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen der letzten dreißig Jahre resultieren. Unser heutiger Lebensstil ist geprägt durch exzessiven Konsum, durch eine umfassende Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen, durch die explosionsartige Entwicklung neuer Technologien und eine neoliberale Globalisierung.
Das erste Problem besteht darin, dass Bildung und Erziehung in zunehmendem Maße für die Ausbildung von „Humanressourcen“ instrumentalisiert werden. Dadurch tritt die Erziehung der Persönlichkeit immer mehr in den Hintergrund. Ursprung dieser Entwicklung ist die Reduzierung der Arbeit auf eine „Ressource“, die je nach Nutzen für die Firma verwaltet, weiterentwickelt, herabgestuft oder – bei Nichtbedarf – entlassen wird.
Wie jede andere materielle oder immaterielle Ressource wird auch der Mensch als Ware angesehen, die immer und überall verfügbar sein soll.1 Sie besitzt weder Bürgerrechte noch andere Rechte, seien sie politischer, sozialer oder kultureller Natur; denn nur die Kostenfaktoren bestimmen die Grenzen ihrer Ausbeutung. Die Ressource Mensch verdankt ihr Recht auf Existenz und Einkommen allein ihrer Rentabilität und Leistungsfähigkeit. Ständig muss sie unter Beweis stellen, wie brauchbar sie ist – so wird das „Recht auf Arbeit“ abgelöst von der Pflicht, den Nachweis ihrer „Brauchbarkeit“ zu erbringen.
Führungskräfte sprechen in diesem Zusammenhang gerne von einer „aktiven Sozialpolitik der Arbeit“. In ihren Augen kommt das Bildungssystem nur dann seiner zentralen Aufgabe nach, wenn es auf diese Pflicht zur „Brauchbarkeit“ hinarbeitet – und zwar lebenslang, dank einer permanenten Weiterbildung, welche die Nutzbarkeit und Rentabilität der menschlichen Ressourcen eines Landes zu gewährleisten hat. Arbeit ist seither kein gesellschaftliches Thema mehr.
Das zweite Problem: Bildung und Ausbildung sind zur Ware geworden. Da die Hauptaufgabe der Bildung nunmehr darin bestehen soll, Humanressourcen im Dienste der Unternehmen auszubilden, verwundert es nicht, dass das Privatkapital – entsprechend seiner Marktlogik – dem Bildungswesen die eigenen Ziele und Prioritäten aufzuzwingen sucht. Bildung wird zusehends als Marktsegment behandelt. 2
In Nordamerika spricht man bereits von education market, education business bzw. von market of pedagogical products and services. Nicht zufällig fand in Vancouver (Kanada) vom 23. bis 27. Mai 2000 der erste Weltbildungsmarkt (World Education Market) statt. Für die meisten der aktiven Teilnehmer dieser Veranstaltung3 , ob sie nun aus dem privaten oder dem öffentlichen Sektor kamen, stand außer Zweifel, dass Bildung und Ausbildung heute Waren sind. Wichtig war nur die Frage, wer was auf dem Weltmarkt verkaufen wird und nach welchen Regeln.
Das „Wer“ beginnt sich bereits deutlich abzuzeichnen: Es handelt sich um Verleger von Multimediaprodukten, um Entwickler und Anbieter von Online-Diensten oder von Fernunterricht, um Telekommunikationsmanager und Unternehmen aus dem Informatikbereich – Sektoren, in denen es in den letzten Jahren in immer schnellerer Folge Fusionen, Übernahmen und Allianzen gab. Diese Unternehmen haben in das „Was“ schon einiges investiert: Viele von ihnen bieten eine Reihe von „Schlüssel“-Programmen für Online-Ausbildungen an. So gibt es heute eine wachsende Zahl grenzüberschreitender „virtueller Universitäten“. Nach einer Studie der amerikanischen Handelsbank „Meryll Lynch“4 wird sich die Zahl der Jugendlichen, die ein Studium absolvieren, bis zum Jahr 2025 weltweit auf etwa 160 Millionen belaufen. Heute sind es 84 Millionen, von denen 40 Millionen einen Online-Unterricht in Anspruch nehmen. Man kann sich also vorstellen, welche Rolle dieser Markt in 25 Jahren spielen wird.
In allen „entwickelten“ Ländern geht die Tendenz hin zu einem Bildungssystem, das individuell zugeschnitten, räumlich unabhängig (via Internet), zeitlich flexibel (lebenslang) und „à la carte“ organisiert ist.5 Was die Regeln dieses Marktes betrifft, so hat das Scheitern der Millenniumsrunde der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle vorläufig verhindert, dass die Prinzipien des freien Handels auch auf die Bildung angewendet werden. Diese stand nämlich auf dem Programm des Allgemeinen Abkommens für den Dienstleistungshandel (Gats). Doch nun, da die Verhandlungen über die Dienstleistungen bei der WTO in Genf wieder aufgenommen wurden, besteht keinerlei Garantie, dass die Liberalisierung und Deregulierung des Bildungssektors nicht neuerlich auf der Tagesordnung stehen.
In der Tat gibt es in den entwickelten Ländern immer mehr Politiker, die bereit sind zu akzeptieren, dass der Markt über Ziele und Organisation der Bildung bestimmt. Die gewerkschaftlichen Organisationen (insbesondere die „Internationale de l’Education“), Nichtregierungsorganisationen und Bürgerbewegungen sollten in verstärktem Maße versuchen, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. 6
Das dritte Problem: In einer Zeit, in der die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt absolute Priorität hat, zeigt sich Bildung als unabdingbar für das Überleben des Einzelnen, aber auch für das Überleben des Landes. So wird das Bildungswesen nach und nach zu einem „Ort“, an dem man eher eine Kriegskultur erlernt (jeder kämpft für sich und will mehr Erfolg haben als die anderen und, wenn es sein muss, sogar auf deren Kosten) als eine Lebenskultur (gemeinsam mit den anderen im Interesse aller zu handeln). Universitäten, staatliche Instanzen, Studenten, Eltern und sogar Gewerkschaften haben eine solche Kultur bereits akzeptiert. Trotz der Bemühungen zahlreicher Erzieher wird in unserem Bildungssystem die Auswahl der Besten immer wichtiger, während die Würdigung und Förderung der spezifischen Fähigkeiten der einzelnen Schüler an Bedeutung verliert.
Das vierte Problem ist die Unterordnung der Bildung unter die Technologie. Da seit den siebziger Jahren die Auffassung vorherrscht, dass die Technologie der Hauptmotor für gesellschaftliche Veränderungen ist, vertreten führende Politiker die These vom Primat der Technologie, der man sich anpassen müsse. Ob im Bereich Energie, Kommunikation, Gesundheit oder Arbeit, stets wird behauptet, jegliche mit neuen Technologien verbundene wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderung sei unvermeidbar und unaufhaltbar – gelten sie doch als Beitrag zum Fortschritt von Mensch und Gesellschaft.
Für die große Mehrheit der führenden Politiker ist die gegenwärtige Globalisierung eine Folge des technologischen Fortschritts. Die Hauptaufgabe der Bildung bestünde folgerichtig darin, den nachwachsenden Generationen ein Verständnis der aktuellen Veränderungen zu vermitteln und ihnen das Werkzeug an die Hand zu geben, mit dem sie sich den Veränderungen anpassen können.
Das fünfte Problem besteht darin, dass mit dem Bildungssystem eine neue soziale Kluft legitimiert wird. Folgt man der vorherrschenden Meinung, so sind die Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme der entwickelten Länder nach dem Ende des Industriezeitalters, das auf materielle Ressourcen und Kapital (Boden, Energie, Stahl, Beton, Schienen) gegründet war, nun ins Zeitalter des Wissens eingetreten, das sich auf immaterielle Ressourcen und immaterielles Kapital (Kenntnis, Information, Kommunikation und Logistik) stütze.
Das Wissen sei zur bedeutendsten Ressource der „neuen Wirtschaft“ geworden, welche aus der Revolution des Multimediabereichs, der digitalen Netze und ihrer Abkömmlinge („e-commerce“, „e-transport“, „e-education“, „e-business“, „e-workers“) entstanden sei.7 In dieser Sichtweise wird das Wirtschaftsunternehmen zum Subjekt und Hauptort der Förderung, Organisation, Produktion, Aufwertung und Verbreitung des „Wissens, das zählt“.
Eines der wichtigsten Ziele öffentlicher Politik in den Bereichen Forschung und Unterricht besteht darin, an Hochschulen und Universitäten Unternehmergeist und Gründungselan zu befördern. Zudem soll das Bildungssystem durch Öffnung und Erneuerung zum zentralen Ort werden, an dem die junge Generation auf den Aufbau der Wissensgesellschaft vorbereitet wird.
Doch just während sich diese Umwälzungen anbahnen, wächst weltweit die soziale Kluft zwischen den „Qualifizierten“, d. h. denen, die Zugang haben zum „Wissen, das zählt“ und den „Nichtqualifizierten“. Diese Kluft verschärft die aus der Vergangenheit resultierenden Spaltungen – entstanden etwa durch den ungleichen Zugang zur grundlegenden Alphabetisierung. Das Wissen wird so zum wichtigsten Baustoff einer neuen Mauer, der „Mauer des Wissens“, die in Zukunft die auserlesenen Humanressourcen (die in neuen weltumspannenden Berufsgilden organisiert sind) von den gewöhnlichen Humanressourcen trennt (die das neue Proletariat des Weltkapitals darstellen).
Baustoff für die Mauer des Wissens
WOLLEN die Europäer diese fünf Probleme bewältigen, dürfen sie gewiss nicht den Leitlinien der Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Länder folgen, die im März 2000 bei der Sondertagung des Europäischen Rates in Lissabon festgelegt und im Juni 2000 vom Europäischen Rat in Feira in einem Aktionsplan konkretisiert wurden.
Nach diesen Leitlinien geht es in den kommenden 15 Jahren zuvorderst um den Aufbau von „e-Europe“, damit Europa bis zum Jahre 2015 zur fähigsten „e-economy“ der Welt avancieren kann. Vorrangiges Ziel der Bildungspolitik soll sein, allen Europäern vom Vorschul- und Grundschulalter an den Zugang zur digitalen Alphabetisierung zu ermöglichen, damit auf diese Weise konkurrenzfähige Humanressourcen gebildet werden können – konkurrenzfähig vor allem in Hinblick auf die Humanressourcen Nordamerikas, die derzeit einen Vorsprung von etwa zehn Jahren haben sollen.8
Auf diesem Gebiet besteht ein breiter Konsens unter den führenden Politikern Europas. Haben sie denn – nachdem sie zwanzig Jahre lang die marktorientierte Wettbewerbsfähigkeit befördert haben – noch nicht begriffen, dass es in dieser Logik nur wenige Gewinner gibt, und zwar auf allen Gebieten, auch was das Bildungswesen angeht? Wissen sie tatsächlich nicht, dass das allgemeine Schulbildungsniveau ausgerechnet in den Vereinigten Staaten, wo bisher der weltweit höchste Entwicklungsstand in den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologien, Multimedia, Internet usw. erreicht wurde, besonders erbärmlich ist? Dabei erbringt doch eine Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) den Beweis.9
Warum wollen sie den jämmerlichen Zustand der allgemeinen Schulbildung und die sozialen Ungerechtigkeiten nicht wahrhaben, die derzeit den Zugang zu den Hochschulen in Großbritannien kennzeichnen? Kennen sie nicht die Ergebnisse jahrelanger multidisziplinärer Untersuchungen über die kindliche Entwicklung, die in aller Deutlichkeit zeigen, dass Kinder ein fundamentales Bedürfnis nach tief gehenden persönlichen Bindungen zu Erwachsenen haben und dass diese Bindungen gefährdet sind, wenn man schon von frühester Kindheit an in den Schulen den Einsatz von Computern forciert?10
Dabei fehlt es nicht an sinnvollen und realistischen Vorschlägen für eine andere Erziehungs- und Bildungspolitik. So wurde im März 1999 von der britischen Hilfsorganisation Oxfam International und von der „Internationale de l’Education“ das Anliegen einer „qualitätvollen öffentlichen Erziehung für alle“ formuliert.11 Entscheidender Ausgangspunkt für eine „andere“ Erziehung ist die Fähigkeit, dem anderen Guten Tag sagen zu können. Damit ist gemeint, dass das Erziehungssystem es als seine Grundaufgabe ansehen sollte, jeden Bürger erfahren zu lassen, dass die Anerkennung der Existenz und der Existenzberechtigung des anderen die fundamentale Basis der eigenen Existenz wie des Zusammenlebens ist.
Durch das unmittelbare persönliche Gespräch lernen wir, dass die Geschichte der Menschheit durch die Verschiedenheit der Menschen geprägt ist – und dies gilt gerade auch in der heutigen Zeit, wo es eine schöpferische (nicht eben konfliktfreie) Spannung gibt zwischen Einzigartigkeit und Vielfalt, zwischen universellem Denken und Partikularismus, zwischen Globalem und Lokalem. Durch das persönliche Gespräch lernen wir das Leben und die Demokratie, lernen wir die Solidarität und die Fähigkeit, andere (fremde) Beiträge anzuerkennen, auch wenn diese nicht die vorherrschenden Produktivitäts- und Rentabilitätskriterien bedienen.
Ausgehend von diesem Grundprinzip könnte eine Bildungspolitik, die Wissen und Kenntnisse als „öffentliche Güter“12 anerkennt und ihren Schwerpunkt auf die Entwicklung, den Erhalt und die Weitergabe dieser Güter setzt, zum Aufbau einer Welt beitragen, die im wirtschaftlichen Bereich solidarisch, im sozialen Bereich effizient und im politischen Bereich demokratisch wäre. Auf „e-Europe“ angewendet, würde eine solche Bildungspolitik in erster Linie die Herausbildung einer Generation von Bürgern fördern, deren Kompetenzen und Qualifikationen einer anderen Logik folgen: nämlich der Logik einer sozialen, solidarischen, lokalen und kooperativen Wirtschaft. Ebenso würde sie der Zusammenarbeit mit anderen Gemeinschaften, Regionen und Völkern der Welt eine übergeordnete Bedeutung beimessen und so der gegenwärtigen Tendenz, Wissen als Privateigentum zu betrachten, entgegenwirken. Dies alles würde zur Förderung eines weltweiten Wohlstandes beitragen, der allen Menschen das Recht auf Leben sichern könnte.
dt. Dorothea Schlink-Zykan
* Berater der Europäischen Kommission, Professor an der Université catholique in Löwen (Belgien).