Womöglich nur Pflaster fürs Holzbein
Von FRANÇOISE BARTHÉLÉMY *
WENN wir die Früchte des Kakaobaumes kaufen, sind sie schon getrocknet und einmal behandelt. Dann verarbeiten wir sie zu panela weiter, einer Art Brot aus roher Schokolade. Es wird gerieben, und daraus braut man sich dann ein Getränk, das ganz naturbelassen schmeckt. Aus der panela machen wir auch Kakaowein und chocorumbita – unser Spitzenprodukt. Das ist ein Hörnchen mit Eiskrem, das wir nicht nur landesweit anbieten, sondern auch in den Vereinigten Staaten, England und Kuba.“
Die fröhliche Rafaela Medina erzählt liebevoll von einem Kleinstbetrieb, der vor drei Jahren von acht Frauen und zwei Männern gegründet wurde. Für die bevorstehende Produktionssteigerung werden größere Räume und entsprechende Maschinen benötigt. „Wir haben ein Schreiben an Chávez aufgesetzt“, erzählt sie lachend. „Er ist wunderbar. Er scherzt und singt gerne, er ermuntert die Menschen zu Veränderungen. Aber es gibt zu viele politische Parteien, dadurch wird unser Land zersplittert. Schade.“ Über Cata bricht die Nacht herein. Das Geschrei der Affen, das tagsüber aus den umliegenden Bergen tönt, wird abgelöst vom heiseren, monotonen Quaken der Kröten.
Cata liegt am westlichen Teil der venezolanischen Küste. Das Dorf wurde im 17. Jahrhundert gegründet, und die Spuren der Geschichte sind noch überall präsent. Aber ansonsten geht es hier zu wie in den meisten anderen barrios, den bevölkerungsreichen, ärmeren Stadtvierteln des Landes: Die Bewohner, und das heißt in den allermeisten Fällen die Frauen, organisieren ihren Alltag und hoffen auf eine bessere Zukunft. Eine Hoffnung, der auch die wachsende Armut – eine indirekte Folge der schweren wirtschaftlichen Rezession, die Venezuela in der letzten Zeit durchgemacht hat – nichts anhaben kann.
„Die Subventionen kommen bei uns jedenfalls nicht an“, echauffiert sich Matilde González. „Schon seit Monaten haben wir keine Banknoten mit dem Bildnis Bolívars mehr gesehen. Aber wir werden durchhalten und unseren Präsidenten unterstützen!“ Die energische Frau leitet seit neun Jahren den Multihogar. Dieses Zentrum dient zugleich als Krippe, Kindergarten und Schulungsraum, aber auch für Versammlungen, Workshops und sportliche Aktivitäten. Zudem leitet Matilde auch die „Vereinigung der Frauen für die umfassende Wiederherstellung von Ocumare de la Costa“. So lautet der Name der Provinz, der das Dorf Cata vor kurzem zugeschlagen wurde, und die mehr schlecht als recht von Fischfang und Tourismus lebt.
Die vor einem Jahr gegründete Stiftung umfasst zahlreiche Projekte. So ist zum Beispiel geplant, in Zukunft die Einnahmen aus den Strandparkplätzen zu verwalten. Auf dem Strand betreibt Cristina Lira am Wochenende einen kleinen Kiosk, wo sie gebratene Spanferkel und empanadas verkauft, die sie selbst zubereitet.
Viel Geld verdient sie damit freilich nicht. Ein hartes Leben. Die 53-Jährige bebaut ihr kleines Stückchen Land und geht daneben ihrer wahren Berufung nach: Sie spricht Gebete zu jeder bedeutsamen Begebenheit der menschlichen Existenz. Gebete für die Lebenden, Gebete für die Toten, die sie außerdem geschickt und sachkundig für die letzte Ruhe herrichtet. „Hier sind alle katholisch. Der Glaube hält uns am Leben. Chávez ist ein gläubiger Mensch. Die Kirchenbonzen hat er aufgefordert, die Ärmel hochzukrempeln, und die Soldaten, die sich in den Kasernen ein schönes Leben machen, hat er auf Vordermann gebracht. Das ist gut so.“
Nach den Wahlen im Dezember 1998 mussten die neuen politischen Führer feststellen, welch enormen Nachholbedarf die Bevölkerung in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wohnungsbau und Lebensmittelversorgung hatte. Knapp 60.000 Soldaten wurden zur Renovierung von Krankenhäusern, Straßen und Schulen abgestellt; sie errichteten Notambulanzen und organisierten Märkte, auf denen durch die Umgehung des Zwischenhandels die Lebensmittel inzwischen erschwinglicher geworden sind.
Am 27. Februar 1999 trat der Plan Bolívar 2000 in Kraft. „Das Datum wurde zur Erinnerung an den Caracazo gewählt.1 Die Armee ist jetzt nicht mehr dazu da, die Bevölkerung zu unterdrücken, sondern sie nimmt teil am Veränderunsgprozess und hilft, die Armut zu bekämpfen – also den Faktor, der sich destabilisierend auf unser politisches System auswirkt“, betont Exleutnant Rafael Isea, der an dem gescheiterten Putschversuch vom 4. Februar 1992 beteiligt war. Ursprünglich war der Plan auf sechs bis zwölf Monate angelegt – bis dahin sollte die Nationalversammlung die Gesetze verabschiedet, die Staatsanwaltschaft und der Volksverteidiger (defensoria del pueblo) ihre Arbeit aufgenommen haben, die Gouverneure und Bürgermeister den Volksversammlungen Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen.
Bei manchen hochrangigen Offizieren stieß der Plan jedoch auf Ablehnung, während die Soldaten ihn mehrheitlich guthießen. Letzteres gilt auch für die Bevölkerung, die schließlich von ihm profitiert. „Ich wurde in einer Ambulanz auf der Plaza Gloria Patria kostenlos an einem grauen Star im Frühstadium operiert. Andere Bewohner ließen sich die Zähne in Ordnung bringen“, berichtet Gabriel, ein Arbeiter aus Mérida. „Medikamente wurden verteilt. Als die Demokratische Aktion oder die Copei2 an der Regierung war, gab es so etwas nicht.“ Neben diesen Sozialleistungen gibt es noch Programme für befristete Arbeitsverhältnisse. Die Garnisonen erfassen die Arbeitslosen und bieten einigen von ihnen, ob Maurer oder Gärtner, einen Job für drei, vier Monate an.
„Seine wahren Absichten kennen wir nicht“
DAS ist doch alles nur wie Pflaster auf ein Holzbein“, brummt Franklin Morales. Der Buchhalter gibt seine Kenntnisse seit 25 Jahren im Rahmen eines Bildungsprojekts im Stadtviertel Guarataro im Zentrum von Caracas ehrenamtlich weiter. „Es handelt sich gewissermaßen darum, die soziale Schuld gegenüber den Armen zu begleichen, aber das ist bisher nicht geschehen. Die Krise ist schlimmer als je zuvor.“
Neben derartiger Kritik werden auch tief gehendere Besorgnisse geäußert. Arturo Sosa, ein Jesuit und Intellektueller, dessen Analysen und politischen Urteile allgemein geschätzt werden, sieht die Ursachen in der Schwäche der Zivilgesellschaft, dem Zusammenbruch der politischen Parteien, an deren Stelle, wie schon früher im 20. Jahrhundert, auch heute wieder die Armee getreten ist. „Hugo Chávez profitiert davon, dass im kollektiven Unbewussten unseres Volkes mit dem caudillismo eine autokratische Vorstellung von staatlicher Führung verankert ist. Seine wahren Absichten kennen wir nicht.“
Am Abend des 30. Juli, dem Tag seiner Wiederwahl, rief der Präsident zu persönlichem Einsatz und zur Einheit auf: „Ich rufe alle Venezolaner zusammen. Willkommen, Einheit! Einheit! Und in diese Einheit schließe ich auch die katholische Kirche ein, auf dass wir gemeinsam für Christus kämpfen!“ Damit stieß der Führer der „Bolivarischen Republik“ auf heftige Kritik seitens der hohen kirchlichen Würdenträger – die inzwischen wieder etwas schwächer geworden ist.
Pater Adolfo Rojas, der die Kandidatur von Chávez am Ende der Wahlkampagne in der Gemeinde Quibor im Bundesstaat Lara unterstützte und der von jeher schon auf Seiten der landlosen Bauern und Tagelöhner stand, bezog eine eindeutige Position: „Die Herren Bischöfe haben eben nicht verstanden, worum es bei dieser Revolution geht, die Venezuela von Grund auf verändern soll. Was mich anbelangt, so kann ich mich mit Hugo Chávez’ friedlichem Projekt für die Solidarität und Würde der Venezolaner identifizieren.“
Diese Würde soll durch den Anspruch auf soziale Rechte und insbesondere auf Gesundheitsversorgung und Schulbildung sichergestellt werden. Gesundheitsminister Gilberto Rodriguez Ochoa hat sein Leben lang als Landarzt gearbeitet. Er hat sich einige große Ziele vorgenommen: Er will sein Ministerium durch Personalabbau und Bekämpfung der Bürokratie umstrukturieren und modernisieren; er will durch die Errichtung von neuen Gesundheitszentren und Krankenhäusern das Netz der Krankenversorgung ausbauen; und er will neue Strategien zur Bekämpfung endemischer Krankheiten wie Sumpffieber, Malaria etc. einschlagen. „Unser System strotzte nur so von Widersprüchen und Fehlentwicklungen“, gesteht der Minister. „So wurde bisher eher auf den Profit der Ärzte und des Pflegepersonals als auf das Wohl der Patienten geachtet. Die haben natürlich längst jede Achtung und jegliches Vertrauen in die Gesundheitszentren verloren.“
Das Gleiche gilt für die öffentlichen Schulen. In einem der klapprigen Minibusse, die in der Hauptstadt verkehren, begegne ich einer Frau, die als Hausangestellte arbeitet. Sie erzählt mir, dass sie ihre Tochter in eine von Geistlichen geführte Privatschule, das Colegio San Agustín, eingeschrieben hat und dafür monatlich umgerechnet etwa 140 Mark bezahlt. Ein großes Opfer bei einem Monatsgehalt von gut 500 Mark. „In den öffentlichen Schulen hier vertun die Kinder ja doch nur ihre Zeit“, meint sie. „Die Lehrer kriegen kein Gehalt, und dann fällt manchmal zwei Monate oder länger der Unterricht aus.“ Auch auf diesem Gebiet plant die Regierung einige ehrgeizige Projekte.
Für den Besuch der öffentlichen Schulen muss inzwischen nichts mehr bezahlt werden. Die Eltern brauchen die Einschreibegebühr von zirka 250 Mark nicht mehr aufzubringen, und wenn ein Direktor gegen dieses Gesetz verstößt, droht ihm die Absetzung – ein erster Schritt gegen die verbreitete Missachtung der Schulpflicht. Schätzungen besagen, dass in der Vergangenheit etwa 1,5 Mio. Kinder und Jugendliche die Schule vorzeitig abgebrochen haben. Ihre Wiedereingliederung würde zur Verringerung der Kriminalität beitragen, denn im Rahmen des Programms „Bolivarische Schulen“ wären sie den ganzen Tag über beschäftigt.
Grundsätzlich bekommen die Kinder in der Schule ein Mittagessen und sind damit von morgens bis abends versorgt. Ihr Tagesablauf umfasst die üblichen Unterrichtsfächer Sprachen, Mathematik, Geschichte etc., dazu kulturelle und sportliche Aktivitäten und Arbeiten unter Anleitung der Lehrer. Die Regierung plant, das Schulsystem zu vereinheitlichen und das Ansehen der öffentlichen Schulen insgesamt anzuheben, indem sie die Schulen abends für die Bürger, die Gemeinschaft, öffnet. „Ich möchte betonen, dass wir den Privatschulen nicht den Krieg erklären. Aber wir machen auch kein Hehl daraus, dass wir ihnen das Wasser abgraben wollen, indem wir konfessionslose Schulen von hoher Qualität schaffen“, erklärt Hector Navarro, der Minister für Erziehung, Kultur und Sport.
Caracas. Im Chip’s-Burger-Restaurant an der Hauptstraße Las Mercedes macht sich Saul Sorret an seinem Herd zu schaffen. Der Neunzehnjährige hat ein naturwissenschaftliches Gymnasium absolviert, als Koch verdient er 50 DM in der Woche. Seit einen Jahr unterstützt er seine arbeitslose Mutter, außerdem absolviert er noch seine Ausbildung zum Schiffsoffizier. „Was ist los mit vielen Venezolanern? Sie lieben das schnelle Geld und verlassen sich gern auf den Staat. Unseren Präsidenten bewundere ich, weil er einen starken Willen und Mut besitzt. Vierzig Jahre hat unser Bürgertum geherrscht und nur seine eigenen Interessen im Sinn gehabt. Jetzt sollten wir unsere Chance wahrnehmen!“
Margot González, eine Straßenhändlerin3 mit offenem, freundlichem Gesicht, versteht ihr Geschäft. Ihre größte Freude? – Ihr Adoptivsohn Raúl, ein negrito, den sie vor acht Jahren aus den Händen einer sehr jungen allein stehenden Mutter übernommen hat. Ihr größter Schmerz? – Der brutale Tod ihres ältesten Sohns, der 1999 von einer Jugendbande ermordet wurde. Ihre größte Hoffnung? – Chávez. „Dieser Herr gefiel mir, die ich eine alte Anhängerin der Demokratischen Aktion bin, am Anfang überhaupt nicht. Aber dann hat er mich durch seine ganze Art doch überzeugt. Wir erkennen uns in seiner Person wieder, in seinen Vorlieben, seiner Art zu reden, wir spüren, dass wir leben, dass man uns wahrnimmt, uns, die kleinen, früher unsichtbaren Leute. Das war bisher nicht der Fall!“, bemerkt sie lächelnd und fügt hinzu: „Er ist ein ehrlicher Mensch. Deshalb wird er auch so heftig von den Leuten angegriffen, die sich vorher bereichert haben. Nun ist es an uns, ihn zu verteidigen, ihm zum Erfolg verhelfen, indem wir uns zusammentun.“
dt. Andrea Marenzeller
* Journalistin