Was meint Hugo Chávez mit Bolivarismus?
Von PABLO AIQUEL *
FÜR Venezuela ist die Zeit des Übergangs vorbei. Zwei Jahre lang konnte Hugo Chávez einen Wahlerfolg nach dem anderen verzeichnen und so mit der traditionellen politischen Klasse aufräumen. Doch die hegemonialen Bestrebungen seiner Partei und die Kontroversen, die er damit unter seinen Anhängern wie in der venezolanischen Gesellschaft auslöste, haben ihm Misstrauen und Kritik eingetragen. Das Land hat eine neue Verfassung, es spielt auf der internationalen Bühne eine immer wichtigere Rolle, das Rohöl ist so teuer wie noch nie: Jetzt muss der charismatische Präsident auf dem ökonomischen und sozialen Terrain zeigen, was er in petto hat.
Ob sie ihn in Uniform oder im Anzug zeigen, an der Seite seiner Frau, im Familienkreis oder im Sportdress und mit Baseballschläger – die Fotos des presidente finden an der Plaza Bolívar im Zentrum von Caracas reißenden Absatz, das Stück für 3.000 Bolívar (ca. 9 Mark). An den Kiosken gibt es jede Menge Bildchen, rote Mützen mit der Aufschrift „Mit dem Kommandanten“ und etliche andere Utensilien. Nahezu zwei Jahre nach seinem Amtsantritt verkauft sich Hugo Chávez immer noch sehr gut.
Nach einer verbal heftigen, aber inhaltslosen Kampagne gegen Francisco Arias Cárdenas, einen ehemaligen Kampfgefährten beim misslungenen Putsch von 1992, bestätigte der neuerliche Wahlsieg am 30. Juli 2000 das Vertrauen des Volkes in Hugo Chávez. Bei den gleichzeitigen Parlaments- und Kommunalwahlen konnte der Präsident seinen Erfolg von 1998 noch ausbauen: Seine Partei, die Bewegung Fünfte Republik (MVR), stellt jetzt – zusammen mit ihren Bündnispartnern – vierzehn Gouverneure und zahlreiche Bürgermeister und verfügt über die absolute Mehrheit in der neuen Nationalversammlung.1 Dabei waren nur wenige der neuen Gouverneure dem Wahlvolk bekannt, ihre Aufstellung verdanken sie einzig dem Wohlwollen des comandante.
Jeden Sonntag versammeln sich Hunderte von Menschen in der Nähe des Studios, in dem sich Präsident Chávez höchstpersönlich zu seiner wöchentlichen Radiosendung „Aló Presidente!“ einfindet. Einige sorgfältig ausgewählte Zuhörer erhalten die Gelegenheit, direkt mit dem Staatschef zu sprechen, seine Politik zu preisen oder eine Bitte für ihr Viertel, ihre Schule oder ihr Krankenhaus vorzutragen. Danach folgt so etwas wie ein zweistündiger Monolog. „Ich möchte Pädagoge sein, und dazu muss man sich eben Zeit nehmen“, versichert Hugo Chávez in offiziellen Reden, die oft genauso lang sind wie seine Radiosendungen.
„Manchmal bin ich enttäuscht über das, was so passiert, doch wenn ich ihn reden höre, gibt mir das wieder Mut“, erzählt Anuncia Perafán, Sozialarbeiterin in einem Stadtteil von Caracas. Dass der charismatische Präsident eine große Faszination auf die Menschen ausübt, ist unbestritten. Seine Beliebtheitszahlen sind nachgerade traumhaft. „Natürlich schwankt seine Popularitätskurve, aber unter die 60-Prozent-Marke ist sie nie gesunken“, kommentiert ein Meinungsforscher. „Das ist wirklich einzigartig. Der Mann ist ein politischer Gigant, ein Phänomen.“
Während Hugo Chávez die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt, ist es mit dem Vertrauen der traditionellen politisch-ökonomischen Bereiche und vieler Medien noch nicht so weit her. In deren Augen stellt die „bolivarische Revolution“ den ersten politischen Bruch in der Geschichte Venezuelas dar, der auf demokratischem Wege und vor allem ohne Gewalt erzielt wurde. Doch der Alleinvertretungsanspruch, mit dem die MVR die Macht ausübt, löst Misstrauen aus.
Über den Präsidenten selbst scheiden sich die Geister.2 „Er ist ein Mensch, in dessen Brust zwei Seelen wohnen. Eine linke und eine rechte. Er ist dauernd hin- und hergerissen zwischen Idealismus und Pragmatismus“, erläutert Teodoro Petkoff, ein ehemaliger Guerillero und Minister für Wirtschaftsplanung in der Regierung des späteren Zeitungsherausgebers Rafael Caldera.3
So überrascht auf der einen Seite die geistige Erneuerung, wie sie in der „bolivarischen“ Verfassung vom Dezember 1999 zu Tage tritt, die in Sachen Menschenrechten und sozialer Sicherung entschieden avantgardistisch ist: Neben anderen neuen Institutionen verankert sie erstmals eine institutionelle Absicherung der Wähler- und vor allem der Bürgerrechte.4 Auf der anderen Seite provoziert Hugo Chávez unaufhörlich Differenzen mit seinen Verbündeten. Seine Putschgefährten vom Februar 1992 – Francisco Arias, Yoel Acosta und Jesús Urdaneta – finden, dass die MVR ihnen in der neuen politischen Realität keinen Spielraum lässt. Während der Wahlkampagne wurde die Linkspartei Patria para todos (PPT) stillschweigend aus der Koaliton des „Patriotischen Pols“ hinausgedrängt.
Um den Unterschied zwischen dem „bolivarischen Prozess“, der von einer kleinen Gruppe treuer Gefährten an der Spitze einer politisch-militärischen Organisation vorangetrieben wird, und der Opposition hervorzuheben, beruft sich der Präsident auf den großen Befreier Simon Bolívar und seine Theorie vom „Baum mit den drei Wurzeln“.5 Seine engsten Gefolgsleute sind in der Tat ehemalige Linke der 60er Jahre: Luis Miquilena, der Vorsitzende der Verfassunggebenden Nationalversammlung und des provisorischen Kongresses war einst ein führender Kommunist, dasselbe gilt für Außenminister José Vicente Rangel und Erdölminister Alí Rodríguez. Letzterer, ein ehemaliger Guerillero, war die rechte Hand von Douglas Bravo, mit dem er, als einer der Letzten, Anfang der siebziger Jahre aus dem Widerstand in die Legalität zurückkehrte. Innenminister Luis Dávida war vormals, wie drei weitere Minister, ein ranghoher Militär. Dasselbe gilt für zwei Drittel der Gouverneure der MVR sowie weitere Entscheidungsträger in öffentlichen, sozialen und anderen Behörden, die vom Präsidenten eingesetzt wurden.
Einstweilen hat Hugo Chávez eine zentralistische Organisation geschaffen, in der alle Entscheidungen über Caracas laufen. In La Casona, der Residenz des Präsidenten, erklärte der Staatschef „seinen“ Gouverneuren und „seinen“ Abgeordneten, dass „die Regierung wie eine Baseballmannschaft ist. Ich bin der Coach. Und die Spieler haben meinen Anweisungen zu folgen, sonst müssen sie vom Feld.“
Was Chávez mit diesem „Führungsstil“ im Einzelnen meint, machten die wiederholten Fälle von Machtmissbrauch deutlich, die den – von den Chavisten stets angeprangerten – klientelistischen Methoden seiner Vorgänger in nichts nachstanden.
Andere Maßnahmen zielten unverhohlen darauf, Organisationen aufzubauen, die nur dem „bolivarischen Prozess“ zu dienen haben. So verkündete Chavez die Absicht, die alte ebenso bürokratische wie korrupte Arbeiterorganisation Venezuelas „zu zerschlagen“ und eine „bolivarische“ Gewerkschaft zu gründen; des Weiteren hat die Regierung beschlossen, nur solche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als Vertreter der „Zivilgesellschaft“ anzuerkennen, die keine finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Am 20. September 2000 erklärte der Präsident schließlich, er wolle vom Kongress Sondervollmachten erwirken, um die Krise, die das Land erschüttert, bekämpfen zu können. Erhebt sich damit wieder das Gespenst des autokratischen Alleinherrschers, für den man ihn nach wie vor hält?
Hinzu kommt, dass die Anhänger des Präsidenten die kämpferische Rhetorik der Bewegung manchmal allzu wörtlich auslegen und übers Ziel hinaus schießen. Wie etwa jene Lehrerin, die in dem von ihr verfassten „prämilitärischen“ Lehrbuch für Gymnasien fremdenfeindliche und ultranationalistische Töne angeschlagen hat.6 Nach Protesten hat die Regierung schließlich das Buch aus dem Verkehr gezogen und den Verkauf verboten.
Bislang jedoch konnten solche Proteste dem Image des Präsidenten nichts anhaben. Er erläutert glaubhaft, dass er noch Zeit braucht: Ein verbesserter Lebensstandard – insbesondere für die unteren Schichten – werde zwar noch etwas auf sich warten lassen, aber bis vor kurzem habe er noch in weiter Ferne gelegen. Anders als im Mai 1999, als die Regierung mitten in einer Rezessionsphase eine Lohnerhöhung von 20 Prozent verordnet und sich damit den Zorn der Unternehmer zugezogen hatte, wartete Hugo Chávez diesmal ab, bis ihm eine stabile Gesamtlage und seine klare politische Dominanz erlaubte, seine sozialen Programme einzuführen.
Auf internationaler Ebene praktiziert der Präsident eine voluntaristische Politik – und der Erfolg ist ihm gewiss. Er bekennt sich offen zu einer multipolaren Welt und setzt auf zwei Bündnisachsen: auf die Achse der „Erdöl“-Partner, die durch eine engere Zusammenarbeit der OPEC gestärkt werden soll, und auf die Achse regionaler Integration, die durch eine bessere Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten des Andenpakts (Kolumbien, Peru, Equador, Bolivien, Venezuela) und dem gemeinsamen Markt des Südens, „Mercosur“, gestärkt werden soll.
„In einem Land mit so großer Nähe zu den USA ist die Sorge durchaus legitim, nicht völlig der Washingtoner Einflusssphäre ausgeliefert zu sein“, erläutert ein europäischer Diplomat. „In dieser Hinsicht ist Chávez besonders darauf bedacht, seinem Land einen gewissen Spielraum zu verschaffen. Mitunter zeigt er zwar eine romantische Schwäche für Leute, die den USA die Stirn geboten haben. Doch unter den gegenwärtigen Umständen ist es schwer vorstellbar, wie sich das politisch-ökonomische oder kulturelle System Venezuelas in die Richtung des libyischen, irakischen oder kubanischen Modells entwickeln sollte.“
Dies scheint der Präsident auch keineswegs im Sinn zu haben, wenn man sich die angekündigten Wirtschaftspläne ansieht: Noch vor Jahresende will er den Telekommunikationsmarkt öffnen – was einige hundert Millionen Dollar einbringen wird – und (private) Pensionsfonds einführen.
Der reiselustige Hugo Chávez hat als erster gewählter Präsient seines Landes am 10. August einen Besuch bei Saddam Hussein absolviert, was in Washington zähneknirschend registriert wurde. Preise von über 25 Dollar für ein Barrel Rohöl sowie eine Erhöhung der Förderquote, mit der die europäische Energiekrise gemildert werden soll, erleichtern die Maßnahmen, mit denen die Regierung in Caracas die Wirtschaft sanieren will: die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben und die Eindämmung der Inflation.
Die Wirtschaftsberater der Regierung sehen nunmehr den Moment gekommen, öffentliche Geldmittel bereitzustellen. Sie propagieren ein „humanistisches, auf Selbstverwaltung und Wettbewerb basierendes“ Modell, bei dem „in erster Linie in Bildung und Humankapital investiert werden muss“. Hugo Chávez hat angekündigt, rund 2,1 Mrd. US-Dollar aus Devisenbeständen der Venezolanischen Zentralbank in gesellschaftliche Projekte – Schulen, Krankenhäuser, Technologie und innere Sicherheit – zu investieren. Und er hat dabei versichert, bereits am 25. Dezember werde man die Fortschritte bei diesen gesellschaftlichen Projekten ermessen können. In diesem Rahmen sind auch Sondermittel für den im Dezember 1999 von schweren Überschwemmungen heimgesuchten Bundesstaat Vargas vorgesehen, wie auch eine verstärkte Rolle der Armee in der Wirtschaft.
Arbeitslosigkeit und Kriminalität sind die beiden Hauptprobleme, die den „bolivarischen“ Umbau der Gesellschaft bedrohen. Jedes Wochendende werden in Venezuela über achtzig Menschen ermordet, mindestens fünfzig allein in Caracas. Nach Angaben der Regierung liegt die Arbeitslosenrate bei 15 Prozent; 54,3 Prozent der Erwerbstätigen schlagen sich mit Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft durch. Diese Bevölkerungsschichten werden ihr Urteil über den Präsidenten davon abhängig machen, ob er die Korruption und die Kriminalität in den Griff bekommt. Und ob sein Programm nicht nur der Volkswirtschaft zugute kommt, sondern auch ihre private wirtschaftliche Misere mildert.
dt. Andrea Mahrenzeller
* Journalist in Caracas.