10.11.2000

Die Solidarwirtschaft gibt sich noch verschämt

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Die Solidarwirtschaft gibt sich noch verschämt

Von JEAN-LOUP MOTCHANE *

MIT der Schaffung eines Staatssekretariats für Solidar- und Gemeinwirtschaft in Frankreich ist ein Bereich ins allgemeine Interesse gerückt, der höchst unterschiedliche Aktivitäten umfasst, welche aus der klassischen Logik des Marktes oder der Unternehmen sowie des öffentlichen Bereichs herausfallen. Gleichwohl sind Millionen von Bürgern Mitglieder von Versicherungsvereinen, von Kooperativen und Vereinigungen, das heißt von Bereichen eben dieses Sektors. Dass er weitgehend unsichtbar bleibt, liegt auch an der Zurückhaltung seiner führenden Repräsentanten, die soziale Ökonomie als Alternative zum liberalen Wirtschaftsmodell zu propagieren.

Was haben der Crédit Agricole, der auf 15,5 Millionen Konten rund 1 000 Milliarden Francs verwaltet, und das Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine mit seiner 49-köpfigen Belegschaft gemeinsam? Nichts, außer dass sie zum selben Wirtschaftssektor gehören: dem Bereich der so genannten Gemein- (später Solidar-)wirtschaft.

Die Wurzeln der Gemeinwirtschaft reichen bis ins Mittelalter zurück. Ihre Vorläufer, die im 13. Jahrhundert entstandenen Gilden und Zünfte, bildeten bis zum Ende des Ancien Régime die wichtigste Organisationsform des Handwerks, das noch heute durch berufsständische Organisationen geprägt ist. Die Philosophen der Aufklärung betrachteten die Zünfte indes als Fessel der individuellen Freiheit, und die Französische Revolution hielt alle Körperschaften für illegitim, die sich zwischen den Einzelnen und die Nation schoben. Ein nach Le Chapelier benanntes Gesetz von 1791 verbot ausdrücklich jeden freiwilligen Zusammenschluss auf berufsständischer Basis.

Erst 1884 erhielten die französischen Arbeiter auf Initiative des damaligen Innenministers Waldeck-Rousseau das Recht, Berufsgewerkschaften zu gründen. Die 1898 verabschiedete „Charte de la Mutualité“ legalisierte dann die Gründung genossenschaftlicher Sozialkassen auf Gegenseitigkeit, und das Vereinsgesetz von 1901 verwirklichte schließlich das Prinzip allgemeiner Organisationsfreiheit.

Die ersten gemeinwirtschaftlich orientierten Theorien und Experimente zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind als Reaktion auf die negativen sozialen Begleiterscheinungen der industriellen Revolution zu verstehen. Saint-Simon (1760 bis 1825) skizziert in seinem utopisch-sozialistischen Gegenentwurf zum liberalen Denken die Grundzüge eines industriellen Systems, das den in Bürgervereinigungen organisierten arbeitenden Klassen größtmöglichen Wohlstand bescheren soll, wobei die gerechte Umverteilung des Reichtums Sache des Staates ist. Etwa zur gleichen Zeit entwickelte Charles Fourier (1772 bis 1837) sein Konzept des Phalanstère, in dem sich die Verteilung des Reichtums nach der Arbeitsleistung, dem Kapitaleinsatz und dem Talent des einzelnen richtet.

Der radikale Kritiker des Privateigentums Pierre Proudhon (1809 bis 1865) entwarf ein genossenschaftliches System, in dem „Zirkulationsgutscheine“ an die Stelle des Geldes treten und die Genossenschaftsmitglieder untereinander Dienstleistungen austauschen sollten. Als anarchistischer Denker lehnte Proudhon alle staatlichen Eingriffe kategorisch ab.

Ganz anders Louis Blanc, der in seinem 1839 erschienenen Werk „Die Organisation der Arbeit“ ein genossenschaftliches Gesellschaftsmodell entwarf und dem Staat die Aufgabe übertrug, das Genossenschaftswesen auf die gesamte Produktion auszudehnen. Als weitere Quelle der Gemeinwirtschaft sei der soziale Katholizismus genannt, eine reformistische Denkströmung, die in Frankreich mit den Namen Frédéric Le Play (1806 bis 1882) und Armand de Melun (1807 bis 1877) verbunden ist.

Eng mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und ihrer Spaltungen, mit der Geschichte des Widerstands gegen ein profitorientiertes Gesellschaftssystem verbunden, umfasst die Solidarwirtschaft oder der „dritte Sektor“ heute eine Vielfalt von Akteuren, die sowohl von ihrer Größenordnung als auch von den Tätigkeitsbereichen her unterschiedlicher kaum sein könnten.

Doch ob sie wie in Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland die Form von Hilfskassen, Genossenschaften, Vereinen und Stiftungen annehmen, oder wie im voluntary sector Großbritanniens self-help organization, charity oder non-profit organization heißen – ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich fünf unantastbaren Prinzipien, einem wesentlichen Ziel und bestimmten sozialen Ansprüchen verpflichtet fühlen.

Zu den Grundprinzipien zählen die Unabhängigkeit gegenüber dem Staat, freiwillige Mitgliedschaft, demokratische Entscheidungsstrukturen, der unveräußerliche und kollektive Charakter des Genossenschaftskapitals und die Nichtverzinsung der Genossenschaftseinlagen.1 Sie haben es sich zum wesentlichen Ziel gemacht, den Mitgliedern ebenso wie der Allgemeinheit preiswerte Güter und Dienstleistungen anzubieten, die der Staat nicht erbringen kann oder will.

Was die sozialen Ansprüche anbelangt, so verpflichtet sich der dritte Sektor nicht nur, das Arbeitsrecht zu respektieren, sondern durch einen fairen Organisationsaufbau auch zur Selbstentfaltung, Bildung und Weiterbildung sämtlicher ehrenamtlichen Mitglieder wieder bezahlten Mitarbeiter beizutragen. Mit anderen Worten: Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen nehmen für sich in Anspruch, anders zu sein als herkömmliche Unternehmen.

Von den 370 Mio. Einwohnern der Europäischen Union sind – unter Berücksichtigung von Mehrfachmitgliedschaften – rund 30 Prozent Mitglieder in einer Genossenschaft, einer Hilfskasse oder in einem Verein. Nach einer Studie der Europäischen Kommission von 19972 gehörten 1990 6 bis 6,5 Prozent aller Unternehmen zum dritten Sektor, was unter Ausschluss der Staatsangestellten einem Beschäftigungsanteil von 5,3 Prozent entspricht (anderen Angaben zufolge sind es 6,3 Prozent).3

Solidarität kann ökonomisch effizient sein

INSBESONDERE im Banken- und Versicherungsgewerbe liegt die betriebswirtschaftliche Effizienz solidarwirtschaftlicher Unternehmen vielfach höher als in traditionellen kapitalistischen Firmen. Und dies, obwohl sich genossenschaftliche Unternehmen nicht über den Aktienmarkt finanzieren können und mitunter Schwierigkeiten haben, sich eine ausreichende Eigenkapitaldecke zu beschaffen. Mit Zahlungseinlagen von über 1 000 Mrd. Euro und einem Kreditvolumen von knapp 900 Mio. Euro halten die Genossenschaftsbanken mit ihren 36 Mio. Mitgliedern und 601 Mio. Kunden einen Marktanteil von rund 17 Prozent. Der Marktanteil der Versicherungsvereine (Versicherungen auf Gegenseitigkeit) und der Versicherungsgenossenschaften belief sich 1995 auf 29,2 Prozent in Westeuropa, auf 30,8 Prozent in Japan und auf 31,9 Prozent in den Vereinigten Staaten.4

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich die Beziehungen zwischen den gemeinwirtschaftlichen Institutionen und der öffentlichen Hand tief greifend verändert. Im Gefolge des ersten Ölpreisschocks, der Wirtschaftskrise und der damit einhergehenden steigenden Arbeitslosigkeit erfuhr die Gemeinwirtschaft einen erheblichen Bedeutungszuwachs, der in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeprägt war.

In Großbritannien wurden bestimmte Aktivitäten im Zuge der Thatcherschen Sparpolitik von der Privatwirtschaft übernommen. Auch in Spanien sahen sich die Gebietskörperschaften infolge der restriktiven Haushaltspolitik genötigt, einen Teil ihrer sozialen Dienstleistungen zu privatisieren. Dabei konzentrierten sich die kommerziellen Unternehmen stets auf den lukrativen Teil der Nachfrage und überließen den Vereinen diejenigen Bereiche, die absehbar keine Profite abwerfen. In Frankreich und in Italien hingegen zog sich der Staat nicht aus seiner finanziellen Verantwortung zurück.

Die Europäische Union zählte 1995 über eine Million eingetragene Vereine, deren Gesamtmitgliedschaft je nach Land 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung umfasste. Die Vereinsausgaben beliefen sich auf durchschnittlich 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wobei Frankreich mit 3,3 Prozent im Mittelfeld lag. Die 730 000 französischen Vereine beschäftigen 1 274 000 Arbeitnehmer, und ihre Einnahmen liegen bei schätzungsweise 220 Mrd. Francs, wovon 60 Prozent aus öffentlichen Quellen stammen.5

In den achtziger Jahren entstanden in Europa im Zuge steigender Arbeitslosigkeit und wachsender Armut zahlreiche gemeinwirtschaftliche Unternehmen mit neuartigen Zielsetzungen. Ob zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung oder als Innovationsträger stellen diese Unternehmen vielfach eine Antwort auf neue Erfordernisse dar, die die staatlichen Behörden und Gebietskörperschaften nicht mehr angemessen erfüllen können. Da die öffentliche Hand in diesem Bereich teilweise versagte und der Sozialstaat angesichts der wirtschaftsliberalen Attacken zunehmend den Rückzug antrat, entstand ein Freiraum, in dem sich allmählich eine neue Form der Gemeinwirtschaft entwickelte, die unter dem Namen Solidarwirtschaft bekannt wurde.

Diese im Wortsinn „neue Ökonomie“ knüpft in mancher Hinsicht an den traditionellen Kampf der Arbeiterbewegung gegen die Armut an. Hier finden sich die aktivsten, aber auch die verwundbarsten Organisationen: Beschäftigungsgesellschaften bemühen sich um die Wiedereingliederung von Arbeitslosen, Stadtteilinitiativen kümmern sich um eine Verbesserung der Lebens- und Wohnqualität, Trägervereine stellen hilfsbedürftige Personen ein und übernehmen Aufgaben, die der erwerbswirtschaftliche Sektor von vornherein nicht wahrnimmt, kleine Genossenschaften organisieren Nachbarschaftsdienste wie Renovierungsarbeiten, Essen auf Rädern, Bügel-, Putz- und Nähdienste sowie Haushaltshilfen.6

In Italien fördert ein Gesetz von 1991 eine der interessantesten Innovationen auf dem Gebiet der Solidarwirtschaft: die so genannten solidargemeinschaftlichen Genossenschaften und deren Zusammenschluss zu Genossenschaftsverbänden.7 In Frankreich delegierten Staat und Gebietskörperschaften im Zuge der Dezentralisierung einen Teil der Aufgaben im Bereich der Sozialarbeit und Wiedereingliederung an solidarwirtschaftliche Initiativen vor Ort, die allerdings weiterhin öffentliche Gelder erhalten.

Teilweise bergen die mit privaten Mitteln finanzierten solidarwirtschaftlichen Unternehmungen ein beeindruckendes Reservoir an Engagement und Innovationsgeist, aber wirtschaftlich fallen sie noch kaum ins Gewicht, zumal gegenüber den Dinosauriern der Gemeinwirtschaft: den Versicherungsvereinen, den Genossenschaftsbanken und den großen staatlich finanzierten Vereinen.

Bilden Gemeinwirtschaft und Solidarwirtschaft also zwei verschiedene Welten, die nichts miteinander zu tun haben? Nicht ganz: Die Gemeinwirtschaft unterstützt solidarwirtschaftliche Projekte vielfach durch finanzielle Starthilfen und projektbegleitende Beratung. Jahr für Jahr finanzieren die großen Genossenschaftsbanken und Versicherungsvereine jeweils rund zwanzig Stiftungen, an denen Privatanleger Anteile erwerben können. Daneben bieten verschiedene Finanzinstitute ethische Geldanlagen und Investmentfonds mit Gewinnsplitting8 an. Mit einem Volumen von derzeit insgesamt 2,7 Mrd. Franc stellen diese Anlageformen gegenüber der Vermögensbildung der Arbeitnehmer (250 Mrd. Franc) gewiss einen verschwindend geringen Betrag dar, doch andererseits konnten mit diesen Geldern über 4 000 Unternehmen mit insgesamt 20 000 Arbeitsplätzen gegründet werden9 . Ähnliche Beteiligungsformen existieren auch in anderen europäischen Ländern.10

Alles andere als eine ökonomische Randerscheinung, weitet sich der solidar- und gemeinwirtschaftliche Sektor zumindest formell11 weiter aus und kann nach einem Wort von Thierry Jeantet, der im „Beratenden Komitee der Gemeinwirtschaft“ sitzt, durchaus als „wirtschaftliches Schwergewicht“ gelten.

Mit EU-Richtlinien kompatibel?

DENNOCH schenken Bürger und Behörden diesem Wirtschaftssektor noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Dies scheint sich in Frankreich nun zu ändern. Die jüngste Ernennung eines Staatssekretärs für Solidarwirtschaft zeugt vom wachsenden politischen Interesse an diesen Fragen, auch wenn sich die finanzielle Ausstattung des von Guy Hascoët geleiteten Ressorts in Grenzen hält.12

Drei Ziele hat sich der neue Staatssekretär gesetzt: Anfang 2001 soll ein Gesetz zur Solidar- und Gemeinwirtschaft verabschiedet werden, der Entwurf zu einem neuen Vermögensbildungsgesetz soll auch solidarwirtschaftliche Sparformen berücksichtigen, und das Gesetzbuch über Versicherungsvereine soll gemäß den EU-Richtlinien zum Versicherungswesen von 1992 überarbeitet werden. Bei dieser Überarbeitung zeichnen sich allerdings gravierende Probleme ab. Die wirtschaftsliberal geprägten EU-Direktiven machen keinerlei Unterschied zwischen nicht erwerbswirtschaftlichen Versicherungen auf Gegenseitigkeit – bei denen der Kunde als Mitglied gilt – und Versicherungsgesellschaften, denen es vorrangig um Profite geht.

Gegenstand eines Gesetzes zum dritten Sektor könnte die rechtliche Definition eines Gütezeichens „solidar- und gemeinwirtschaftliches Unternehmen“ und die Schaffung einer neuen Rechtsform „sozialorientiertes Unternehmen“ sein. Darüber hinaus soll das neue Gesetz die Gemeinwohlorientierung der Solidarwirtschaft berücksichtigen, wobei der Bericht des Europaabgeordneten Alain Lipietz13 als Richtschnur dienen könnte. Voraussetzung wäre allerdings die Einführung des Gemeinwohlkonzepts in das bisher ausschließlich vom Wettbewerbsgedanken geprägte Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union. Das explosive Dossier über vermögenswirksamen Leistungen14 – eine Art angespartes Einkommen für die Altersvorsorge und andere Zwecke – sollte nicht ausschließlich im Rahmen der Vorgaben der Rechtsparteien und des Arbeitgeberverbandes „Medef“ diskutiert werden. Die zentrale Frage ist, wer dieses angesparte Einkommen nach welchen Regeln und mit welchen Zielen verwalten soll: die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber oder irgendeine Technokratie. In diesem Zusammenhang erhebt sich wieder einmal die alte Frage nach der kollektiven Aneignung der Produktions- und Tauschmittel innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft.

Die geplante Angleichung der französischen Gesetzgebung an geltendes EU-Recht veranschaulicht den Konflikt zwischen Solidarwirtschaft und dem Brüsseler Wirtschaftsliberalismus. Wie der Europaabgeordnete Michel Rocard in seinem diesbezüglichen Bericht15 schreibt, möchten die großen Verbände der französischen „Mutuelles“ (Versicherungsvereine) als europaweit verbindliche Regelung durchsetzen, dass keine Versicherung, auch nicht die erwerbswirtschaftlich orientierten, medizinische Informationen zum Zwecke individueller Anpassungen der Beitragssätze einholen darf und dass alle Beitragszahler gleich behandel werden müssen. Ferner fordern sie das Recht, Gesundheitseinrichtungen, die zum öffentlichen Sektor gehören, auf Vereinsbasis führen zu dürfen, um mit den in diesem Bereich erzielten Überschüssen andere, defizitäre Leistungen finanzieren zu können.16

Bescheidenheit in den Chefetagen

WIR haben es bei der Solidar- und Gemeinwirtschaft mit einem schwer zu identifizierenden und vielfach widersprüchlichen Sonderfall innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu tun. Nicht immer können die großen gemeinwirtschaftlichen Institutionen glaubhaft machen, was sie nach eigenem Bekunden auszeichnet: anders zu sein als ihre kapitalistischen Mitbewerber.

Nicht anders als die Genossenschaften erteilen auch Großbanken und Versicherungsvereine in ihren Statuten der Logik von Kommerz und Profit eine klare Absage. Gleichwohl sind die Unterschiede zu gewöhnlichen Unternehmen nicht leicht zu erkennen, haben sich die gemeinwirtschaftlichen Firmen doch weitgehend an die Vorgaben der liberalen Wirtschaftsordnung angepasst. Ihre diskrete, aber durchaus reale Unterstützung engagierter und innovativer Unternehmungen des solidarwirtschaftlichen Sektors steht zwar außer Zweifel, doch erscheint diese Hilfe eher als humanitär motivierte „gute Tat“ denn als Ausdruck des Willens, der Marktgesellschaft ein anderes Gesellschaftsmodell entgegenzusetzen. Und wenn sich die solidarwirtschaftlichen Unternehmen nach eigenem Bekunden gemeinsamen Idealen verpflichtet fühlen, so bleibt noch viel zu tun, um schwelende Streitigkeiten beizulegen und zu einem besseren Einvernehmen zu gelangen.

Die eminent politische Bedeutung dieses breit gefächerten Sektors liegt auf der Hand, doch in den Chefetagen der gemeinwirtschaftlichen Großinstitutionen will das niemand allzu laut sagen. Man stellt statt dessen sein Licht lieber unter den Scheffel und beklagt sich dann, dass es keiner sieht. „Ich bin nur ein Banker, kein Denker“, entschuldigt sich der Präsident des Crédit Coopératif Jean-Claude Detilleux, dessen Organisation zahlreiche solidarwirtschaftliche Projekte unterstützt. Und auch die Aktivisten der Solidarwirtschaft üben sich gern in Bescheidenheit. Für sie zählt der tagtägliche Kampf gegen die soziale Ausgrenzung; die Erfindung eines anderen Gesellschaftsmodells überlassen sie einstweilen den Politikern. „Die Gemeinwirtschaft kann die Krisen unserer Gesellschaften abfedern, aber die Infragestellung der Marktwirtschaft wird nicht von ihr kommen“, meint Claude Alphandéry, Präsident des „Nationalen Rats für die Wiedereingliederung durch wirtschaftliche Tätigkeit“.

Die Gemeinwirtschaft ist auf vielfältige Weise, nicht zuletzt personell, mit den Linksparteien und den Gewerkschaften verbunden. Die Stärke der sozialdemokratischen, aber auch der christdemokratischen Parteien Europas beruht traditionell auf engen Beziehungen zu den Gewerkschaften, den Genossenschaften und den Versicherungsvereinen. „Gleichwohl betrachten weder die Gewerkschaften noch die Linksparteien die Gemeinwirtschaft als wichtiges gesellschaftliches Thema“, bemängelt CGT-Verbandssekretär Jean-Christophe Le Duigou. In Frankreich zeigten bislang nur die Grünen wirkliches Interesse an diesem Sektor. Dies scheint sich allmählich zu ändern, auch wenn die Ernennung von Guy Hascoët zum Teil durch die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen motiviert sein mochte.

Gleichwohl bleibt die Solidar- und Gemeinwirtschaft durch ihren unklaren Status gekennzeichnet. Für die einen ist sie eine praktische soziale Prothese, die es der Marktgesellschaft erlaubt, die negativen Folgewirkungen von Globalisierung, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung abzufedern. Die anderen akzeptieren die Alibirolle auf Abruf, die sie im Rahmen des Liberalismus spielen darf, und nehmen es einstweilen noch hin, dass zwischen 6 und 10 Prozent der Wirtschaft dem Diktat des Marktes entzogen bleiben. Dabei könnten sich die solidar- und gemeinwirtschaftlichen Organisationen zum Prototyp einer alternativen Unternehmensform entwickeln und das Beziehungsgeflecht zwischen Wirtschaft und Gesellschaft auf eine andere Grundlage stellen.

Will der dritte Sektor keine Randerscheinung bleiben und in der liberalen Marktwirtschaft aufgehen, wird er sich in aller Deutlichkeit zu seinen ursprünglichen Idealen bekennen und diese offensiv vertreten müssen.

dt. Bodo Schulze

* Professor an der Universität Paris-VII.

Fußnoten: 1 Nach dem 1992 neu gefassten Genossenschaftsgesetz vom 10. September 1947 dürfen Genossenschaften auch natürliche und juristische Personen aufnehmen, die sich lediglich als Geldgeber betätigen, um die Eigenkapitaldecke zu stärken. 2 Direction Générale XXIII de la Commission Européenne, Le Secteur coopératif, mutualiste et associatif dans l'Union européene, Office des publications officielles des Communautés européennes, Luxembourg 1997. 3 Thierry Jeantet, „L'Économie sociale européenne“, Paris (Ciem Éditions) 1999. 4 Thierry Jeantet, siehe Fn. 3. 5 80 Prozent der Beschäftigten arbeiten in 21 000 Vereinen: 40 Prozent im Gesundheits- und Sozialbereich, 29 Prozent in Forschung und Bildung und 14 Prozent in Kultur, Sport und Freizeit (Quelle: Délégation interministérielle à l'économie sociale, Paris 2000). Laville (Hg.), „Insertion et nouvelle économie sociale“, Paris (Desclée de Brouwer) 1998. 6 Dazu Le Monde, 5. April 2000. Ende 1997 gab es in Frankreich 800 Beschäftigungsgesellschaften mit einem Arbeitsstundenäquivalent von 17 000 Vollzeitstellen, 135 Stadtteilinitiativen mit 4 500 Mitarbeitern sowie 1 100 intermediäre Vereine, die weder Mehrwert- noch Einkommensteuer zahlen. 7 Joan Berney, Isabelle Darmon u. Jordi Estivill, „Les Entreprises sociales en Espagne, en France et en Italie“, Barcelona (Cabinet d'Estudis Socials) Dezember 1999. 8 Ethische Geldanlagen unterscheiden sich von normalen Geldanlagen dadurch, dass die betreffenden Unternehmen bei hohen Ertragserwartungen bestimmte ethische Normen respektieren (Gesamtbestand 1999: ca. 2 Mrd. Franc). Bei Investmentfonds mit Gewinnsplitting schenkt der Anleger einen Teil seines Gewinns dem Fonds (Gesamtbestand 1999: ca. 650 Mio. Franc). 9 Dossier „Les Placements éthiques“, Alternatives économiques, hors série pratique, Nr. 3, Paris, 1er trimestre 1999. Dazu auch „Investir contre l'exclusion“, Économie et humanisme 352, April 2000. 10 „Le Courrier européen des innovations sociales 2“, Januar 2000: Agence EPICES, 61 rue Victor-Hugo, 93500 Pantin. 11 Dies belegt in Frankreich die jüngste Umwandlung der Sparkassen in „Gemeinschafts-Banken“. 12 Sein Etat beläuft sich auf 13,5 Mio. Francs. Dazu Le Monde, 18. April 2000. 13 Alain Lipietz, „L'Opportunité d'un nouveau type de société à vocation sociale“, Zwischenbericht an die Ministerin für Arbeit und Solidarität, M. Aubry, 1998. 14 Jean-Pierre Balligand u. Jean- Baptiste de Foucauld, „L’epargne salariale au coeur du contrat sociale“, La Documentation française, Paris, Januar 2000. 15 Michel Rocard et al., Mission mutualiste et droit communautaire, Bericht an den Ministerpräsidenten, Paris (La Documentation française) 1999. 16 Eine mögliche Lösung stellte Lionel Jospin auf der 36. Jahrestagung der „Fédération Nationale de la Mutualité Française“ am 8. Juni 1999 vor. Im Bereich der Krankenzusatzversicherung sollen die Versicherungen auf Gegenseitigkeit in den Genuss von Steuernachlässen kommen, da sie im Gegensatz zuprivatwirtschaftlichen Versicherungsgesellschaften „jede Risikoselektion ablehnen, die Beiträge nicht nach dem Gesundheitszustand staffeln und dem Versicherten eine lebenslange Vertragsdauer garantieren“.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2000, von JEAN-LOUP MOTCHANE