10.11.2000

Das Pokémon-Spiel als Initiationsritus

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Das Pokémon-Spiel als Initiationsritus

Von SERGE TISSERON *

ÜBERALL auf der Welt haben sich die Pokémons als Figuren eines Gameboy-Spiels oder als Zeichentrickserie in den Herzen der Sechs- bis Zwölfjährigen eingenistet. Die kleinen Figuren, die im Kampf heranwachsen und sich verändern, begeistern die Kinder – sehr zum Leidwesen vieler Erwachsener und Erzieher. Aber vielleicht sind die Pokémons gar keine Taschengeldfresser, sondern die Helden eines modernes Märchens. Und im Übrigen ist Pokémon nicht die schlechteste Form, sich die neuen Technologien anzueignen.

Seit Nintendo 1999 das Gameboy-Spiel Pokémon auf den Markt brachte, ist es weltweit ein Kassenschlager. 51 Millionen Exemplare wurden verkauft, Sammelkarten und Film folgten. Ständig kommen neue Pokémons heraus – 251sind es mittlerweile. Der Spieler muss die Eigenschaften der einzelnen Figuren genau kennen, das Spiel wird also ständig komplexer. Und nicht nur das: Es ensteht eine von der Erwachsenenwelt separierte Kinderkultur. Gewiss, ohne das ausgefeilte Marketing und die Fülle von Merchandising-Artikelnwäre der Erfolg schwer zu erklären. Ausschlaggebend für den Erfolg ist jedoch eher, dass Pokémon mehr ist als ein fertiges Produkt. Es präsentiert sich als eine Art Baukasten, eine sich ständig weiterentwickelnde Lebenswelt, die den Kindern die Möglichkeit bietet, interaktiv einzugreifen, ihre Wünsche und Ängste mittels der virtuellen Geschöpfe zu artikulieren und auszuleben und schließlich Lösungen zu finden, die ihnen befriedigend erscheinen.

Schon das Erfolgsrezept der berühmten „Überraschungseier“ basierte auf dem Baukastenprinzip: In jedem Ei entdeckt der Verbraucher die Einzelteile eines kleinen Spielzeugs. Ganz ähnlich bei den Pokémons, nur dass die „Pocket-Boxes“ – eine Art magischer Supereier – mehr enthalten als ein simples zusammensetzbares Spielzeug: nämlich kleine Tiere, die dem Kind die Möglichkeit bieten, sich ein Bild von sich zu wählen, eine Art Maskottchen, das einen durch den Alltag begleitet, das man sammelt, das einem die jeweiligen Figuren in verschiedenen Entwicklungsstadien bietet, sodass man nach und nach die Stufen des Erwachsenwerdens durchläuft, eine Initiation also in einer symbolischen Bruder- und Schwesternschaft. Ganz nebenbei machen sich die Kinder mit den Zukunftstechnologien vertraut.

Einer der vielen Vorläufer der Pokémon-Karten sind die Magic Cards, die es seit zehn Jahren gibt; man kann sie sammeln, mit ihnen tauschen, handeln und spielen: Es gibt sogar eine eigene Börse. Bei Magic gibt es fünf verschiedene Elemente (Feuer, Wasser, Natur, Reinheit, Finsternis), jedes ist an seiner Farbe zu erkennen. Jede Kartenfigur besitzt bestimmte Kräfte und Fähigkeiten. Magie spielt dabei eine wichtige Rolle. Manche Karten stehen für Gefühle, beispielsweise Angst, andere für moralische Eigenschaften, etwa Rechtschaffenheit, manche für Handlungsweisen (angreifen, sich zurückziehen, fliehen, sich pflegen), andere für natürliche Hindernisse wie Nebel oder Baumstümpfe. Jeder Spieler stellt sich seine Karten nach Belieben zusammen.1

Pokémon ist wegen der kindlichen Figuren, der witzigen Namen und der einfachen Spielregeln allerdings weit faszinierender als Magic. Jeder Spieler wählt sich ein oder mehrere Pokémons aus und übernimmt die Verantwortung für deren Entwicklung; und da es viele verschiedene Geschöpfe gibt, ist eigentlich für jeden Geschmack etwas dabei.

Trotz der einheitlichen graphischen Gestaltung bergen alle Figuren Anspielungen auf traditionelle Mythen, sei es aus der griechisch-römischen Antike, sei es aus dem lateinamerikanischen oder keltischen, dem slawischen, dem maghrebinischen, dem afrikanischen oder dem fernöstlichen Kulturkreis. Ein Produkt, das auszieht, um die Welt zu erobern, braucht natürlich eine solche Vielfalt. Doch sollte man über diesem Marketingkalkül eines nicht vergessen: Der Spieler versteht sich zwar nicht als „Weltbürger“, jedoch als „Weltspieler“.

Darüber hinaus steht jedes Pokémon in Beziehung zu einem der vier Elemente (Luft, Feuer, Erde, Wasser) und den damit verbundenen Energien. Wir Erwachsenen, die wir in der Stadt leben, mögen darin reine Abstraktionen erblicken, doch für ein Kind handelt es sich um konkrete Aspekte unserer Welt: Das Wasser kennt es bereits aus der Gebärmutter, die Luft muss es lernen ein- und auszuatmen, vom Boden muss es aufstehen, um laufen zu lernen, und das Feuer, so wird ihm eingeschärft, darf man auf keinen Fall berühren.

Jedes Pokémon soll also durch die Bezugswelt ein unbewusstes Bild vom Körper transportieren, in dem sich das Kind wiedererkennen kann. Sein Wunsch, eines der Bilder zu besitzen oder sich eine der Figuren als Maskottchen auszuwählen, kann verschiedene Gründe haben; vielleicht bewundert es die ätherischen Formen der einen Figur oder die Leichtigkeit, mit der sie sich im Wasser oder unter der Erde bewegt, oder es ist fasziniert von der raubtierhaften Gefräßigkeit eines dritten.

Hinzu kommt, dass jedes Pokémon bestimmte äußere Merkmale besitzt, die auf die bewusste Selbstwahrnehmung des Kindes verweisen, oder aber auf das Wunschbild, das es von sich selbst hat: als pummelig oder schlank, plump oder wendig, stark oder listig. Das Kind kann in jedem Augenblick wählen, mit welchem Bild es sich identifizieren mag, sei's, weil es ihm zu ähneln glaubt, sei's, weil es wünscht, so zu sein. Mischwesen aus verschiedenen Eigenschaften sind dabei durchaus erlaubt, denn jeder Spieler muss im Laufe des Spiels mehrere dieser Monster trainieren .

Die Entscheidung für eine oder mehrere der Spiegelkreaturen bedeutet jedoch nicht, dass sich das Kind eine feste Gestalt gibt. Die Pokémons verändern sich im Laufe der Prüfungen, die sie zu bestehen haben, durch die Erfolge, die sie erleben. Sie legen das Äußere eines „kleinen Kindes“ allmählich ab, nehmen das eines „Jugendlichen“ an und entwickeln sich schließlich zum Erwachsenen. Mit einer Ausnahme freilich: Pikachu, das Emblem des Spiels. Viele Kinder, vor allem die kleinsten, entscheiden sich für Pikachu und wollen nicht, dass er sich weiterentwickelt – für die Kinder gewiss eine Weise, ein Bild ihrer Kindheit zu bewahren und sich allen anderen Kindern verbunden zu fühlen, die Pikachu ebenfalls mögen und auch nicht wollen, dass er „groß wird“.

Jeder Spieler schlüpft in die Rolle eines kleinen Jungen von zehn Jahren, Ash Ketchum, dessen sehnlichster Wunsch es ist, der beste Pokémon-Trainer aller Zeiten zu werden. Sein Erfolg hängt davon ab, ob er seinen Weg durch das Labyrinth findet und seine Monster angemessen trainiert. Zunächst muss er sich die örtlichen Gegebenheiten gut merken und verschiedene Kampfstrategien prüfen. Insbesondere muss er alle Personen ansprechen, die ihm auf seinem Weg begegnen, er muss ihnen Fragen stellen und ihre Antworten im weiteren Spielverlauf berücksichtigen.

Professor Eich verkörpert dabei den wohlwollenden Erwachsenen, der ein Auge auf den kleinen Jungen hat. Er gibt dem Spieler seinen ersten Pokémon: „Du hast die freie Wahl, alles weitere hängt von dir ab“, sagt er zu Ash. Von nun an ermutigt er den Spieler regelmäßig, erteilt ihm Ratschläge und bewertet die erzielten Fortschritte. Das Ganze hat etwas von einer Initiation durch einen Meister, der einem allerdings kein Berufswissen vermittelt, sondern beibringt, wie man sich im Leben zu verhalten hat, wenn man Erfolg haben will.

Je weiter der Spieler auf seinem Initiationsweg voranschreitet, desto geschickter, stärker und intelligenter wird er. Geschick, Kraft und Intelligenz werden hier durch verschiedene Pokébälle verkörpert, die in den späteren Stadien Super-, Hyper- und Meisterball heißen. Im Unterschied zu früheren Generationen stehen den heutigen Kindern keine Gebrauchsanweisungen für das Leben mehr zur Verfügung. Die Zukunft hat ihre Konturen verloren, und die Eltern erscheinen den Kindern oft zu Recht als halt- und ratlos gegenüber den ständigen Umwälzungen. Im Pokémon-Spiel hingegen können sich die Kinder mit einem Helden ihres Alters identifizieren, der eine Zukunft hat. Verständlich, dass dieses Spiel sie glücklich macht.

Der Spieler muss als Held eine Reihe von Widersachern bekämpfen. Die wilden Pokémons repräsentieren dabei die eigenen gefährlichen Neigungen, die das Kind beherrschen lernen muss.„Team Rocket“, das die Pokémons einzufangen versucht, um sie zu gefürchteten Monstern zu dressieren, steht dabei für die Versuchung, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten in den Dienst des Bösen zu stellen. Die anderen Pokémon-Trainer schließlich, mit denen sich der Spieler auf Turnieren messen kann, repräsentieren die symbolischen Geschwister. Brüderliche respektive schwesterliche Rivalität ist, wie im realen Leben, ein wesentliches Moment auf dem Initiationsweg. In jedem Fall hat der Spieler ehrlich zu bleiben. Stehlen kann man die Pokémons nicht: „Stehlen ist böse.“

In gewisser Hinsicht ist Pokémon eine moderne Version traditioneller Märchen. Drei Grundzüge des Märchens tauchen hier wieder auf: Das Kind muss seinen eigenen Weg finden; es hat dabei mit den eigenen Ambivalenzen zu kämpfen; und ein wohlwollender Erwachsener hilft ihm, das Ziel zu erreichen. Manch einer wird diesen Vergleich vielleicht merkwürdig finden, denn nach landläufigem Verständnis ist das Märchen untrennbar von der Beziehung des Kindes zu dem Erwachsenen, der das Märchen erzählt, also von der Sozialisation, die dadurch entsteht. Eine völlig falsche Vorstellung von Pokémon machte sich aber, wer meint, das Spiel verleite zu Rückzug und Selbstbezüglichkeit.

Anders als vielfach angenommen, motivieren Videospiele im Allgemeinen zu Geselligkeit und Austausch.2 Während des Spiels ist der Spieler zwar oft allein, aber er begegnet dabei so vielen schwierigen Problemen, dass er mit seinen Freunden – vielfach auch mit dem Spieleverkäufer – darüber sprechen muss.

Pokémon ist wie du – sei du wie Pokémon

WENN sich die Eltern dafür nicht interessieren, sind sie selbst schuld. Vor allem aber zwingt das Spiel die Kinder, wenn sie eine größere Zahl verschiedener Pokémons besitzen wollen, die Geschöpfe mit ihren Freunden auszutauschen, indem sie ihre Gameboys mit einem Kabel verbinden. Der Hersteller hat die Sozialisation gleichsam in das Spiel eingebaut: Wer vorwärts kommen möchte, muss die Maschinen zusammenstöpseln.

Das Spiel existiert in zwei Ausführungen, als Gameboy-Spiel und als Kartenspiel. Dessen Spielregeln erschienen den Kindern aber schon bald als zu kompliziert, und so erfanden sie einfachere, was die Erwachsenen zusätzlich verblüffte. Die doppelte Ausführung folgt auf den ersten Blick kommerziellen Überlegungen: Nicht alle Kinder können einen Gameboy besitzen, aber alle können sich ein Päckchen Karten schenken lassen. Auch hier läge man falsch, würde man die Motivation auf Marketing reduzieren. Die gedruckte und die elektronische Version sind nicht mit einer Armen- und einer Reichen-Variante gleichzusetzen. Erstens sind die Karten teuer, vor allem jedoch mobilisieren unbewegte und bewegte Bilder unterschiedliche psychische Dynamiken.

Unbewegte Bilder versetzen den Betrachter stets mehr oder weniger in die Situation, als sehe er sich selbst in einem Spiegel. Besonders deutlich tritt dieser Effekt zu Tage, wenn ein Bild die Frontalansicht einer Gestalt oder eines Gesichts zeigt, wie es bei diesen Karten der Fall ist. Bewegte Bilder hingegen spielen mit dem Ablauf. Während die unbewegten Bilder dem Betrachter einen Spiegel vorhalten, erzählen die bewegten eine Geschichte, in die der Zuschauer einsteigen muss, will er ihren Aufbau verstehen und ihrer Entwicklung folgen. Lädt das unbewegte Bild den Betrachter ein, sich via Selbstbild hineinzubegeben, so ergeht die Einladung beim bewegten Bild durch die Veränderungen, die in ihm selbst, dem Bild nämlich, stattfinden. Diese Komplementarität der Aneignungsformen, die der gedruckten und der elektronischen Version eigen sind, ist ohne Zweifel einer der Gründe für den Erfolg von Pokémon.

Beim Gameboy-Spiel identifiziert sich das Kind mit dem Schicksal des Meisters, beim Tauschen der Karten hingegen identifiziert es sich – im Modus der Spiegellogik – mit den jeweiligen Merkmalen der Kreaturen. Unbewegte Bilder wecken beim Spieler den Wunsch: „So möchte ich auch sein“, bewegte Bilder: „Das möchte ich auch erleben.“

Selbstverständlich kann das Spiel Anlass von Machtkämpfen und Konkurrenzdenken unter den Kindern werden. Wenn eine Mode eine Gruppe ergreift, kann niemand, der dazu gehören will, es sich erlauben, der Mode nicht zu folgen. Und wenn ein Spiel hoch im Kurs steht, sind Betrügereien, Drohungen und Erpressung oft nicht weit. „Der allerbeste Pokémon-Trainer zu werden“ ist für manche mehr als ein Spiel und gibt Anlass zu Konfrontationen oder finanziellen Transaktionen, etwa Internet-Versteigerungen gesuchter Pokémons. Aber solche Praktiken sind eher Randerscheinungen, die sich bei allen Sammelobjekten wiederfinden (Briefmarken, Figuren, Comics). Anders herum wussten kluge Lehrer seit jeher, die spontanen Interessen der Kinder zu nutzen, um ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Warum also nicht mit den Pokémons.

Auf der anderen Seite fungieren die Pokémons als Kristallisationspunkt aktueller Probleme, und dies erklärt ohne Zweifel, weshalb sich viele Erwachsene verunsichert fühlen. Bei traditionellen Geschenken – einer Puppe zum Beispiel, oder einem Briefmarkenalbum – wussten sie stets, wie die Kinder sie gebrauchen würden und sahen den Kleinen mit einer gewissen Herablassung beim Spielen zu.

Mit den Pokémons aber macht das Kind auf einmal Dinge, von denen die Eltern keine Ahnung haben, mehr noch: die in einer Welt spielen, in der sich der Erwachsene überfordert sieht, im Bereich der neuen Technologien und der damit einhergehenden Fantasmen. Traditionellerweise bereiten Spielsachen die Kinder auf die Welt der Erwachsenen vor, die die Eltern aus dem Effeff kennen, weil sie Tag für Tag darin leben. Interaktives Spielzeug hingegen macht die Kinder für eine Welt intelligenter Maschinen fit, die den Erwachsenen ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Grund, sich zu ängstigen, besteht gleichwohl nicht – ganz im Gegenteil. Zumal diese Spiele wie die meistenKinderspiele starke psychische Spannungen hervorrufen, die sich am besten in der Kommunikation mit den Eltern lösen lassen: indem die Kinder in Worte fassen, was sie umtreibt.

dt. Bodo Schulze

* Psychiater und Psychoanalytiker. Der folgende Beitrag greift einige Überlegungen wieder auf, die der Autor in seinem Buch „Petites mythologies d’aujourd'hui“ (Paris, Aubier 2000) entwickelt hat.

Fußnoten: 1 http://www.wizards.com/magic/ 2 Dazu Josiane Jouët und Dominique Pasquier, „Les jeunes et la culture de l'écran“, Réseaux 92-93, Paris, CNET/Hermes Science Publications, 1999.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2000, von SERGE TISSERON