In den Küchen des Alten Hafens von Marseille
Von DOMINIQUE CARPENTIER *
DAS touristische Aushängeschild von Marseille ist der Alte Hafen mit seinen Restaurants. Aioli, Bouillabaisse und andere Fischsuppen locken eine wachsende Zahl von Besuchern an. In diesem Jahr klagte die Gastronomiebranche gar über Personalmangel, obwohl noch immer 20 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind und Marseille die Stadt mit der höchsten Zahl von Sozialhilfeempfängern in Frankreich ist.1 Dieser Personalmangel im Gaststättengewerbemuss jedoch in Verbindung mit den Arbeitsbedingungen und den Löhnen im Gaststättengewerbe gesehen werden.
Abdou2 , der von den Komoren stammt und dessen einziges Ausweisdokument eine auf drei Monate befristete Aufenthaltserlaubnis ist, kommt morgens um neun Uhr zur Arbeit. So wie er arbeiten Hunderte von Schwarzarbeitern bis zu fünfzehn Stunden täglich in schmutzigen Räumen, wo sie Waren verladen, abwaschen, putzen und andere Handlangertätigkeiten erledigen. Dabei ist der „erbärmliche hygienische Zustand“ dieser Räumlichkeiten der Gesundheitsbehörde nicht unbekannt.3 Zwischen 15 und 18 Uhr hat Abdou eine Pause, dann beginnt seine zweite Tageshälfte, die erst gegen zwei Uhr nachts endet. Um diese Uhrzeit fahren keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Und von den 200 Franc (etwa 60 Mark), die sein Arbeitgeber ihm in bar auszahlt, kann er sich kein Taxi leisten.
Mohamed wiederum hat eine Aufenthaltsgenehmigung, die ein Jahr gültig ist und ihm das Recht zu arbeiten einräumt. Er hatte jedoch einen Unfall; und sein Chef weigerte sich, ihn zum zuständigen Arbeitsmediziner zu schicken. Daraufhin verweigerte die Krankenkasse Mohamed die ihm zustehenden Leistungen. Er reichte Klage ein und brachte seinen Chef vors Arbeitsgericht. Dies geschieht jedoch sehr selten, denn die meisten komorischen Arbeitskräfte schweigen lieber – aus Angst, dass ihnen die Papiere entzogen werden und sie ihre Arbeit verlieren.
Die Direction départementale du travail, die die Einhaltung des Arbeitsrechts überwacht4 , wie auch die Präfektur vertreten die Ansicht, dass es „im Zusammenhang mit den komorischen Arbeitskräften keine besonderen Probleme“ gebe. So hat die Präfektur für 1997 tatsächlich nur 2 679 Komorer erfasst, die im Département Bouche-du-Rhône leben, wohingegen ihre Zahl von gemeinnützigen Vereinen auf 40 000 geschätzt wird.
Eine zahlenmäßig bedeutende komorische Gemeinde begann sich nach der Unabhängigkeit der Inselgruppe im Jahre 1975 in Frankreich anzusiedeln. Da die Komorer die Letzten waren, die aus einer ehemaligen Kolonie eintrafen, kümmerte man sich um sie auch als Letzte. Zwar verschwanden im Laufe der siebziger Jahre die bidonvilles, die vorstädtischen Elendsviertel, doch die Zahl der stark heruntergekommenen Wohnungen nimmt zu. In erster Linie im Altstadtviertel Le Panier oberhalb des Hafens, wo ganze Familien in zehn bis zwanzig Quadratmeter großen Wohnungen hausen5 , aber auch in den Blocks der Cité Bellevue, die Ende der fünfziger Jahre als Eigentumswohnungen errichtet wurden und wo Strom und Wasser nur sporadisch funktionieren. In der rue Salengro leben auf engem Raum Familien in Kellergeschossen, deren ebenerdig gelegenes Kellerfenster die einzige Lichtquelle ist. Viele Komorer leben auch in den beiden Innenstadtbezirken Belsunce und Noaille, obwohl die Sozialwohnungen hier weniger als 1 Prozent des Angebots ausmachen. Etwas weiter vom Zentrum entfernt, in der Nummer 6 der rue Bernard, wo möblierte Zimmer vermietet werden, haben einundzwanzig komorische Familien beschlossen, sich gegen die marchands de sommeil zu wehren, gegen jene, die ihr Geschäft damit machen, dass der Mensch einen Platz zum Schlafen braucht. Sie fordern von der Stadt eigene Wohnungen und weigern sich, länger 1 300 bis 1 500 Franc (etwa vier-, fünfhundert Mark) für ein Zehn-Quadratmeter-Zimmer zu zahlen, das kein fließendes Wasser hat, keine Heizung und keinen Gasanschluss. Der Eigentümer dieser Absteigen ist in Marseille kein Unbekannter: Er besitzt laut der sozialen Wohnungsbaugesellschaft „Marseille-Habitat“ 128 Wohnungen, die ihm rund 47 000 Mark monatliche Einnahmen bescheren. Die betroffenen Familien haben nun beschlossen, sich öffentlich bemerkbar zu machen. Sie veranstalteten einen Tag der offenen Tür und wollen ihr Grundrecht auf eine menschenwürdige Wohnung erstreiten.
dt. Passet/Petschner
* Journalist, Marseille.