10.11.2000

Rentable Immigranten

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Rentable Immigranten

Von ALAIN MORICE *

IM März dieses Jahres war in den amerikanischen Unternehmen der Informationstechnologiebranche die Quote von 115 000 H1-B-Visa für ausländische Arbeitnehmer erreicht. In Deutschland, Frankreich oder auch Österreich wird zwar über die Einwanderungsfrage heiß debattiert, aber dabei überwiegen vor allem pragmatische und arbeitspolitische Aspekte.

Vor drei Jahren ließ der damalige Ministerpräsident Juppé eine von illegalen Einwanderern besetzte Kirche in Paris gewaltsam räumen. Zwei Jahre später entdeckte Juppé einen Bedarf an „zusätzlichen ausländischen Arbeitskräften“, dabei verwies er auf gewandelte „Einstellungen“ und die „Probleme in der Bevölkerungsentwicklung“.1 Die Verwirrung bei seinen Freunden in der Opposition war groß, obgleich Juppés politischer Schwenk so neu nicht war. Schon der ehemalige RPR-Innenminister Pasqua, einst Schreck aller „Illegalen“ und Befürworter der „Null-Einwanderung“, hatte mit seiner Forderung, den Status aller Ausländer ohne gültige Papiere zu legalisieren, für Unruhe in den Reihen der Opposition gesorgt.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs verläuft die französische Einwanderungspolitik in Pendelbewegungen. Bis in die siebziger Jahre ging es hauptsächlich darum, den Arbeitskräftehunger der Wirtschaft zu befriedigen. Die massenhaft ins Land geholten Arbeitsmigranten waren ein beliebig verfügbares Proletariat. In den achtziger und neunziger Jahren schlug das Pendel nach der anderen Richtung aus: Die Grenzen wurden dichtgemacht, ein fremdenfeindliches Klima machte sich breit. Und heute, zu Beginn des neuen Jahrhunderts, ist in Europa plötzlich wieder die Rede von erwünschten Arbeitsmigranten.

Angestoßen wurde die Diskussion in Frankreich von den im Parlament vertretenen Rechtsparteien, die im allgemeinen wenig Neigung verspüren, ihre Wähler in dieser sensiblen Frage vor den Kopf zu stoßen. Auch die Industrie, die sich diesbezüglich üblicherweise zurückhält, meldete sich vorsichtig zu Wort: „In Anbetracht des für 2005 erwarteten demographischen Einbruchs wäre es nicht abwegig, die Migrationsströme umzukehren“, erklärte Denis Gautier-Sauvaignac, Generalbevollmächtiger des Arbeitgeberverbandes Union des Industries Métallurgiques et Minières (UIMM).2

Ein Bericht der UN-Abteilung für Bevölkerungsfragen, dessen erste Fassung Anfang dieses Jahres für einige Aufregung sorgte, verlieh dieser Kehrtwende eine globale Dimension. Glaubt man den Berichterstattern der UNO, so braucht Europa in den kommenden fünfzig Jahren insgesamt 700 Millionen Zuwanderer.3 Wir wollen uns hier nicht mit diesen „extravanten“4 Zahlen auseinandersetzen – die Technokraten, die solche Berechnungen anstellen, würden unter anderen Umständen gewiss „Toleranzschwellen“ ausmachen –, sondern die merkwürdige Stimmung in Augenschein nehmen, von der solche Berechnungen getragen werden.

Weshalb will man plötzlich wieder Einwanderer ins Land holen? Die Argumente der Befürworter lassen einen engen Zusammenhang zwischen demographischen und wirtschaftlichen Aspekten erkennen und legen daher den Schluss nahe, dass sie lediglich eine „flexiblere“ Arbeitsmarktpolitik anstreben. Bereits 1995, als die extreme Rechte in einer schwierigen Lage ihre Position stärken konnte, prognostizierte der „Boissonnat-Bericht“ einen „Mangel an Arbeitskräften“, der eine „neuerliche Einwanderung wie in den Jahren 1950 bis 1970 möglich“ mache.5

Heute steht die Frage fast überall in Europa wieder auf der Tagesordnung. „Wird die Zuwanderung, nachdem sie aus politischen Gründen bekämpft wurde, nun aus wirtschaftlichen Gründen verteidigt?“, räsonniert der Figaro im Wirtschaftsteil seiner Ausgabe vom 3. August 2000: Die Frage sei jedenfalls „nicht mehr tabu“. Und der französische Europa-Abgeordnete Sami Naïr vom (angeblich sozialistischen) MDC erklärt, fast im Geiste der eugenischen Selektion: „Die europäische Wirtschaft braucht heute junge, kräftige und qualifizierte Arbeitskräfte, um weiter wachsen zu können und die Überalterung der Bevölkerung auszugleichen.“6

Wer wird unsere Renten bezahlen, wenn nicht die neuen Immigranten, lautet die dringliche Frage. Den erwähnten Berechnungen der UNO liegt denn auch die Annahme zugrunde, dass das Zahlenverhältnis zwischen Erwerbsbevölkerung und Rentnern beibehalten werden müsse. „Das Hauptproblem bleibt die Geburtenrate, die beim derzeitigen Stand nicht ausreicht, um das soziale Sicherunssystem zu finanzieren“, fügt der Figaro hinzu, der die Immigranten gestern noch als Profiteure eben dieses Sozialsystems gegeißelt hat.

So erhält einen neuen, modischen Anstrich, was unmittelber nach dem Krieg unter dem Stichwort „Wiederbevölkerung“ stattfand. Damit ist aber auch schon gesagt, dass die anstehenden einwanderungspolitischen „Maßnahmen“ ähnlich unstimmig ausfallen werden wie die nach 1945. Die Hauptsorge der Arbeitgeber ist der Mangel an qualifiziertem Personal, vor allem im Bereich der neuen Technologien. Für die Regierenden stellt sich das Problem etwas anders: Wie lassen sich die Migrationsströme qualitativ und quantitativ an die Nachfrage anpassen? Nach welchen Kriterien sollen die Herkunftsländer ausgewählt werden? Mit anderen Worten: Wie lässt sich verhindern, dass die Migranten auf den Geschmack kommen und „sich festsetzen“?

Als Gerhard Schröder ankündigte, er wolle 20 000 ausländische Informatiker für die deutsche Wirtschaft anwerben, gab es nicht nur bei den Rechten Geschrei; auch die Gewerkschaften äußerten angesichts von vier Millionen Arbeitslosen Unverständnis. Sogleich präzisierte der Kanzler, die „Green Card“ solle nur fünf Jahre gelten; eine Ausweitung auf andere Wirtschaftszweige sei nicht beabsichtigt.

Die „Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte“, heißt es im oben erwähnten Figaro-Artikel, „betrifft nicht nur die begehrten Fachkräfte, sondern auch unqualifizierte (Saison-)Arbeiter“. Gerade in solchen Sektoren kann von einem Mangel an Arbeitskräften keine Rede sein, wohl aber von der Unfähigkeit der Arbeitgeber, die Beschäftigten würdig und nach den geltenden Bestimmungen zu behandeln.

Im französischen Hotel- und Gaststättengewerbe zum Beispiel, bei der Obsternte und in den Zulieferbetrieben der Bau- und Textilindustrie ist Arbeitsrecht praktisch ein Fremdwort geblieben.7 Dass sich die Franzosen für diese Arbeit zu gut seien, wie es oft heißt, stellt den eigentlichen Sachverhalt auf den Kopf. Die Arbeitsbedingungen in diesen Sektoren sind so unsäglich, die Löhne so niedrig und die Arbeitszeiten so haarsträubend, dass die Arbeitgeber für diese so genannte 3D-Arbeit („demanding, dangerous, dirty“ – anstrengend, gefährlich und schmutzig) gar keine Franzosen wollen. Freilich wäre es gewissen Leuten trotzdem viel lieber, wenn in diesen Bereichen – parallel zur „High-Tech-Immigration“ – „unsere eigenen“ Humanressourcen – Frauen, junge Menschen und Arbeitslose – zum Einsatz kämen. Und folgerichtig plädieren sie denn auch für eine Aufweichung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen.

Green Card, aber nur auf Zeit

ANGESICHTS dieses Klimas kann uns ein Bericht über die albanischen Saisonarbeiter in Griechenland nicht mehr erstaunen: Griechische Landwirte reagieren „äußerst ungehalten“, wenn illegale Einwanderer festgenommen und abgeschoben werden, und fordern von der Regierung ein Ende der Polizeirazzien: „Als Gegenleistung würden sie sich verpflichten, die Arbeiter nach der Erntesaison höchstpersönlich an die Grenze zurückzubegleiten.“ Die Landwirte erklärten,„sie kämen ohne die Arbeitsmigranten nicht aus, da diese sich mit weniger als der Hälfte des Tageslohns zufrieden geben, den ein griechischer Arbeiter verlangt“.8

Patrick Weil, dessen Überlegungen 1997 in eine Scheinreform der französischen Einwanderungsgesetzgebung mündeten, verwickelt sich mit seinen Politikvorschlägen – Selektion der Einwanderer, utilitaristische Beschäftigungspolitik – in erhebliche Widersprüche. Der leidenschaftliche Anhänger des Nationalstaats, der seit jeher für eine konsensfähige „Entpolitisierung“ der Einwanderungsfrage eintrat, spricht sich neuerdings gegen Quotenregelungen und für die „Aufhebung des Beschäftigungsvorbehalts“ aus – freilich nur für bestimmte Beschäftigungsgruppen, darunter wieder einmal die Informatiker.9

Noch vor vier Jahren sprach sich dieser Experte für eine deutsche Quotenregelung aus, die 5 700 „Gastarbeitern“ die Möglichkeit bot, 18 Monate in Deutschland zu arbeiten und sich dabei angeblich auch weiterzubilden. „Diese zeitlich engbegrenzten regionalen Migrationsbewegungen entsprechen einem gemeinsamen Bedürfnis der beteiligten Staaten und aller Wirtschaftsakteure“, schrieb Weil 1996 und forderte Frankreich auf, diesen Weg ebenfalls einzuschlagen.10 Inzwischen macht Weil geltend, dass „nicht der Staat, sondern die Unternehmen Arbeitskräfte einstellen“.11

Die gegenwärtige ideologische Stimmungslage bringt in manchen europäischen Ländern wieder einmal den höchst opportunistischen, das heißt utilitarischen und pragmatischen Charakter der Einwanderungspolitik zum Vorschein. Diese orientiert sich stets nur an kurzfristigen Interessen und schafft es nur selten, einmal Begonnenes fortzusetzen, geschweige denn den Immigranten mit Achtung zu begegnen. Ganz in der guten alten Tradition der französischen Demographen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts12 kann sie ihren eugenischen Hintergrund nur schwer verheimlichen, weshalb sie die „europäischen Ausländer“ gegenüber „nichteuropäischen Ausländern“ nach wie vor als höherwertig einstuft.

Von Zynismus zeugt auch die Anweisung der französischen Regierung an die zuständigen Beamten, sie mögen die Vorschriften großzügig auslegen und „für Informatiker ein vereinfachtes Zulassungsverfahren einführen“13 . Und was ist von jenen Forstunternehmern in den Pyrenäen zu halten, die vor 26 Jahren junge, kräftige Holzfäller aus Marokko rekrutierten und sie heute wegen Leistungsschwäche auf die Straße setzen und gleichzeitig den Import eines neuen Kontingents von Arbeitskräften fordern?

Ein weiteres Beispiel: Vor Jahren rekrutierte die zu Frankreich gehörende Karibikinsel Saint-Martin massenhaft Arbeitskräfte aus dem karibischen Raum, um ihren Tourismussektor aufzubauen. Nach dem Wirbelsturm im September 1995 wies die Regierung den Bürgermeister der gleichnamigen Hafenstadt an, den (Wiederauf-)Bau von Notbehausungen auf der ganzen Insel zu verbieten, um die fortan unerwünschten Ausländer wieder loszuwerden.14

Im Dezember dieses Jahres werden sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten in Nizza über die Harmonisierung der europäischen Einwanderungpolitik beraten. Dabei steht zu befürchten, dass man schrittweise die erneuerbaren und Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen abschaffen will. Dies aber würde zu dem endlosen Elend und den kafkaesken Situationen führen, wie sie jede Einwanderungsgesetzgebung mit sich bringt, die keine Rücksicht auf die fortschreitende Verwurzelung der Immigranten im Ankunftsland nimmt und die menschliche Dimension jeder Emigration ignoriert.

dt. Bodo Schulze

* Forscher am Centre National de Recherche Scientifique, Mitarbeiter am Forschungsprojekt Unité de recherches Migrations et Sociétés (Urmis).

Fußnoten: 1 Alain Juppé, Le Monde, 1. Oktober 1999. 2 Le Monde, 6. Januar 2000. 3 United Nations, Replacement Migration: Is it a Solution to Declining and Ageing Population?, New York, März 2000. 4 So Henri Leridon im monatlichen Mitteilungsblatt des Institut National d'Études Démographiques (INED), Populations et sociétés 358 (Juni 2000). Eine historisch orientierte – und weniger utilitaristische – Kritik der UN-Untersuchung findet sich bei Hervé Le Bras, „Les mauvais calculs de l'ONU“, Libération, 29. März 2000. 5 Commissariat Général du Plan, „Le travail dans vingt ans“, Paris (Odile Jacob – La Documentation française) 1995. 6 Libération, 23. Juni 2000. 7 Dazu „Quand la lutte contre l'emploi illégal cache les progrès de la précarité légale“, in: Didier Fassin, Alain Morice u. Catherine Quiminal, „Les lois de l'inhospitalité“, Paris (La Découverte) 1997. 8 Migrations Europe, August 1999. 9 Le Monde, 20. Juni 2000. 10 Patrick Weil, „Pour une nouvelle politique d'immigration“, Esprit, April 1996. 11 Le Monde, 20. Juni 2000. 12 Dazu Hervé Le Bras u. Sandrine Bertaux, „L'Invention des populations. Biologie, idéologie et politique“, Paris (Odile Jacob) 2000. 13 Circulaire DPM/DM2-3/98/767 vom 28. Dezember 1998. 14 Mission Saint-Martin-Guyane, „Sur l'île de Saint-Martin, d'un cyclone naturel à un cyclone administratif, En Guyane et à Saint-Martin. Des étrangers sans droits dans une France bananière“, März 1996.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2000, von ALAIN MORICE