10.11.2000

Mein Staat tötet mein Volk

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Mein Staat tötet mein Volk

Von JOSEPH ALGAZY *

NACH dem Besuch von Ariel Scharon auf dem Tempelberg riefen die israelischen Araber zu Streiks und Demonstrationen auf; jüdische Nationalisten reagierten mit Überfällen auf arabische Bevölkerungszentren. Doch es gibt bereits erste Ansätze einer neuen jüdisch-arabischen Verständigung.

Der blutige Preis, den wir, die arabischen Bürger Israels, zahlen mussten, weil wir uns mit unseren Brüdern in den Palästinensergebieten solidarisch erklärt haben, zeigt erneut, dass wir in den Augen des israelischen Establishments und eines Teils der jüdischen Gesellschaft dieses Landes – das auch das unsere ist – keine vollwertigen Bürger sind, sondern Fremde, ja schlimmer noch: Feinde. Die brutale Repression der letzten Tage war noch grausamer als am berühmten „Tag der Erde“, am 30. März 1976. Nach dieser schrecklichen Erfahrung kann jeder von uns wieder sagen: „Mein Land, mein Staat, tötet mein Volk, tötet mich.“1

Mit diesen Worten beschreibt der palästinensische Dichter Mohammed Hamzeh Ghanayem, israelischer Bürger der arabischen Stadt Baka al-Garbiyeh im nördlichen Zipfel Israels, die blutigen Unruhen der ersten Oktoberwoche des Jahres 2000, die zwölf israelische Araber das Leben kosteten. Sie starben an den Geschossen (aus Plastik, Blei oder Stahl, wie es in den Autopsieberichten heißt) der israelischen Sicherheitskräfte oder gar jüdischer Gewalttäter, die am 8. Oktober, in der Jom-Kippur-Nacht (dem jüdischen Fest der großen Vergebung), in Nazareth ein Pogrom organisierten.

Alles beginnt am 28. September, mit dem Besuch des Likud-Chefs Ariel Scharon auf dem Jerusalemer Tempelberg (Haram al-Scharif). Bei den Zusammenstößen zwischen palästinensischen Demonstranten und israelischen Soldaten gibt es zwar Verletzte, aber keine Toten. Am nächsten Tag jedoch kommen sieben Palästinenser ums Leben. Am 30. September ruft das Hohe Arabische Komitee in Israel die arabische Bevölkerung des Landes für Sonntag, den 1. Oktober, zum Generalstreik und zu Demonstrationen auf – als Ausdruck der Empörung über das Gemetzel vom Vortag und ihrer Entschlossenheit, den arabischen Charakter von Ostjerusalem und die Heiligkeit des Haram al-Scharif zu wahren.

Der Streik am 1. Oktober wird fast vollständig durchgehalten, die Demonstrationen fallen überwiegend kämpferisch aus. Wo die Sicherheitskräfte nicht eingreifen, gibt es auch keine Zwischenfälle. Nur da, wo sie mit brutaler Gewalt vorgehen – besonders in den Städten und Dörfern, die dem Polizeigeneral von Nordisrael, Alik Ron, unterstehen –, provozieren sie Straßenschlachten, die weitere Opfer fordern. Daraufhin ruft das Hohe Arabische Komitee zur Fortsetzung des Generalstreiks und der Kundgebungen auf, zu denen es auch anlässlich der Beerdigung der ersten Opfer kommt. Am 1., 2. und 3. Oktober werden zehn Tote und Hunderte von Verletzten gezählt.

Ehud Barak und seine Regierung – insbesondere die als „Tauben“ geltenden Minister Schlomo Ben-Ami, der für die Polizei verantwortlich ist, und Innenminister Haïm Ramon – decken das Verhalten der Sicherheitskräfte mit der Behauptung, die Demonstranten hätten an manchen Orten die Hauptverkehrsadern blockiert. Alle drei beteiligen sich in den Medien an der regelrechten Hetzkampagne gegen die Araber, wodurch sie in den Augen der arabischen Bevölkerung, aber auch mancher jüdischer Bürger Israels, jede Glaubwürdigkeit verlieren.

Es begann mit Scharons Besuch auf dem Tempelberg

DIE israelische Regierung hat uns den Krieg erklärt“, sagt Doktor Hanna Schweid, Sekretariatsmitglied des Hohen Arabischen Komitees und Bürgermeister der Gemeinde Eilabun in Galiläa. „Diese blutige Ernte zeigt, dass die Regierung Barak keinen Unterscheid mehr zwischen den palästinensischen Bevölkerungen diesseits und jenseits der grünen Linie2 macht. Sie allein trägt die Verantwortung für die Eskalation. Die Reaktion der arabischen Bürger Israels ist nur natürlich: Wir wollten unsere nationale palästinensische Identität bekunden. Wir können das Schicksal unserer ermordeten Brüder nicht gleichgültig hinnehmen und die versuchten Übergriffe auf die heiligen Stätten des Islam in Jerusalem nicht unbeantwortet lassen. Aber der Generalstreik und die Demonstrationen waren auch Ausdruck unserer angestauten Frustrationen und unserer Enttäuschung über die Regierung Barak, die wir gewählt haben und die nichts getan hat, weder für den Frieden noch für die Gleichheit aller Bürger – man muss sich nur unsere Arbeitslosenquote ansehen!“

Hanna Schweid ist christlichen Glaubens, Scheich Raed Salah dagegen, der Bürgermeister von Um el-Faham, steht an der Spitze des radikalen Flügels der islamischen Bewegung. Auch er erhebt Vorwürfe gegen die Machthaber: „Mit dem massiven Einsatz ihrer Sicherheitskräfte wollten sie Angst und Schrecken in unsere Herzen tragen, das Leben unserer Söhne und unserer Töchter bedrohen. Ihre Botschaft war klar: Solange ihr den Bau von Schulen oder Straßen fordert, ist alles in Ordnung. Wenn ihr aber Respekt vor der Aksa-Moschee oder vor den Rechten der Araber in der Altstadt von Jerusalem verlangt, seid ihr Extremisten und gefährdet die Sicherheit des Staates.“

Abed Anabtawi, Sprecher des Hohen Arabischen Komitees, stellt ausdrücklich klar: „Wir haben unsere radikale Ablehnung der israelischen Regierungspolitik zum Ausdruck gebracht, aber unser Protest war nicht gegen die Juden in Israel gerichtet.“ Der Abgeordnete Azmi Bischara, Führer der nationaldemokratischen Union, begreift die Zusammenstöße als eine „Intifada“: Dies sei „eine Erhebung gegen jeden Versuch einer Israelisierung der in Israel lebenden palästinensisch-arabischen Massen, eine Erhebung zur Bewahrung ihrer nationalen Identität. Mehr denn je wollen sie als eine nationale Minderheit innerhalb des Staates gelten.“3 Für Azmi Bischara führen Politik und Praxis der Barak-Regierung „geradewegs in ein Apartheidsregime“.

Nach dem 4. Oktober beruhigt sich die Lage in den arabischen Ballungsgebieten Israels allmählich. Die Lehre aus den Ereignissen besteht – unter anderem – darin, dass sich hier keine arabische Gruppierung zur führenden politischen Kraft aufschwingen konnte, vor allem nicht bei der Jugend. Manche zwielichtigen Elemente – also schlicht Randalierer – haben sich unter die Demonstranten gemischt und den Zorn über die repressive Gewalt als Deckmantel für Vandalismus benutzt. In Nazareth haben sie zum Beispiel eine Bank angezündet, ein großes Restaurant zerstört und eine Apotheke geplündert. All diese Aktionen wurden von den Sprechern der Stadt Nazareth wie vom Organ des radikalen Flügels der islamischen Bewegung verurteilt.4

Nach und nach kehrt die Bevölkerung ins Alltagsleben zurück, auch wenn sie weiterhin ihre Toten beweint und um ihre Zukunft bangt. „Diese blutigen Ereignisse haben uns um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen“, klagt Salam Habibi, der Sohn des großen Schriftstellers und Politikers Emile Habibi. „Die Herrschenden und ein Teil der israelischen Gesellschaft haben uns zu verstehen gegeben, dass sie uns nicht für vollwertige Bürger halten: 52 Jahre nach der Gründung des Staates Israel sind wir immer noch Feinde, die es zu vernichten gilt.“

Die neue jüdische Siedlung Nazareth Illit liegt auf den Höhen oberhalb der alten arabischen Stadt Nazareth. Am 7. Oktober, einem Samstag, fällt ein starker jüdischer Schlägertrupp über die arabischen Einwohner des östlichen und ärmsten Viertels der Altstadt her. Am nächsten Abend rücken erneut Hunderte solcher Gewalttäter an, diesmal aus Nazareth Illit und aus Tiberias. Trotz Jom Kippur – am heiligsten Fest und Fastentag der jüdischen Religion ist jede körperliche Tätigkeit verboten – legen sie das Viertel in Schutt und Asche. Während die Bewohner sich aus eigener Kraft zu verteidigen versuchen, hoffen sie auf das Eintreffen der Polizei.

Aber diese Hoffnung erweist sich als Illusion. Nach Aussagen von Ramez Jerayssi, Vertreter der Demokratischen Front und Bürgermeister der größten arabischen Stadt Israels, genießen die Anführer des Pogroms zumindest eine Zeitlang den Schutz der Sicherheitskräfte: Diese schießen auf die arabischen Einwohner, anfangs mit Tränengasgranaten, dann mit Plastik- und Blei- oder Stahlgeschossen. Im Lauf der Nacht werden zwei Araber tödlich und zahlreiche andere schwer verletzt. Zweimal telefoniert der Bürgermeister mit dem verantwortlichen Polizeiminister, damit dieser den Sicherheitskräften den Befehl gibt, das Schießen einzustellen. Aber Schlomo Ben-Ami will nicht zugeben, dass seine Männer mit Hartgummi- und Metallgeschossen feuern. „Was kann man da machen?“, sagt Bürgermeister Jerayssi. „In den Autopsieberichten heißt es, die Opfer wurden durch Blei- und Stahlgeschosse getötet. Die jüdischen Gewalttäter dagegen wurden von der Polizei mit Samthandschuhen angefasst.“

Wegen der vorgeschriebenen Jom-Kippur-Pause berichten die israelischen Medien erst am Abend des 11. Oktober über das Pogrom von Nazareth. Aber der Premier und sein Polizeiminister schreiben die Schuld zu gleichen Teilen den Tätern und ihren arabischen Opfern zu. Der Präsident der Regierungskommission für die arabische Bevölkerung, Exgeneral Matan Vilnaï, sagt hingegen unverblümt: „Jüdische Hooligans sind in Nazareth über die Araber hergefallen wie früher in Europa die Antisemiten über die Juden.“ Und der Gerichtsreporter Mosche Negbi scheibt in der Tageszeitung Yediot Aharonot: „Die Pogrome der letzten Woche haben den Eindruck verstärkt, dass unsere Polizei eine Rassenpolizei geworden ist, die ausschließlich der Verteidigung der Juden dient: Todesschüsse wurden nur auf arabische Unruhestifter abgegeben.“5

Was die Pogrome anbelangt, so ist Nazareth kein Einzelfall. Vor, während und nach dem Jom-Kippur-Fest hat es, wie die Regionalpresse berichtet, in verschiedenen Städten Ausschreitungen jüdischer Aufrührer gegen die Araber gegeben, Autos wurden in Brand gesteckt und Geschäfte verwüstet.6 Nach den Krawallen von Bat-Yam (einem südlichen Vorort von Tel-Aviv), bei denen zwei arabische Passanten erstochen und Polizeiautos zerstört wurden, titelte die lokale Wochenzeitschrift: „Pogrom“.7 Wegen der heftigen Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern in Jaffa beurteilt die dortige Lokalpresse die Lage als „explosiv“.8

Niemand hier geht ernsthaft davon aus, dass die Gewaltausbrüche eine spontante Sache sind. Die Führer der rechten Parteien gießen Öl ins Feuer, indem sie die arabischen Städte und Dörfer als eine „fünfte Kolonne“ darstellen. Ihre Sprecher haben die Pogrome zwar offiziell verurteilt, sie aber zugleich am 10. und 11. Oktober im Fernsehen als „verständliche Reaktion besorgter Juden“ gerechtfertigt, die erschrocken seien „über den Aufruhr der israelischen Araber, die sich mit den Palästinensern aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen solidarisiert haben“. Scharon und seine Freunde hatten nichts anderes im Sinn, als Barak die Hände zu binden, um bald in seine Regierung zurückzukehren und dem Friedensprozess ein Ende setzen.

Angesichts der Gefahr, dass der israelisch-palästinensische Konflikt zu einem Religionskrieg werden könnte, regt sich Widerstand. Zwei islamische Organisationen in Israel etwa verurteilten den Angriff auf das Josefsgrab in Nablus als Vandalismus, fügten allerdings hinzu, auch ein muslimischer Scheich namens Yussef Dwiqat sei dort begraben. Der Abgeordnete Bischara hat die palästinensische Führung aufgefordert, das Grab wieder aufzubauen und den jüdischen Rabbinern den Besuch des Ortes zu erlauben. Doch auch andere Heiligtümer wurden verwüstet und in Brand gesteckt – muslimische in Israel (u. a. in Tiberias und Jaffa), jüdische im Westjordanland (in Jericho).

Das Pogrom von Nazareth hat viele Menschen aufgerüttelt. Seither erscheinen in der Presse immer mehr Petitionen, die das Vorgehen der Sicherheitskräfte und die rassistischen und faschistischen Strömungen verurteilen. Einzeln oder in Gruppen besuchen Juden die Familien der israelisch-arabischen Opfer, die Verwundeten oder die überfallenen Gemeinden. Zum Laubhüttenfest haben manche Juden als Zeichen der Solidarität in arabischen Städten Hütten gebaut. All dies sind Gesten eines ersten Bemühens, das durch die blutigen Ereignisse vom Oktober zerrissene Netz der jüdisch-arabischen Beziehungen wieder zu reparieren.

dt. Grete Osterwald

* Journalist bei Haaretz, Tel Aviv.

Fußnoten: 1 Alle nicht anders ausgewiesenen Zitate sind Gesprächen entnommen, die der Autor für Le Monde diplomatique oder für die Tageszeitung Haaretz geführt hat. 2 Die „grüne Linie“ ist die Waffenstillstandslinie nach dem Krieg von 1949, die bis zum Junikrieg von 1967 gültig war. 3 Fasl al-Maqal, Nazareth, 13. Oktober 2000. 4 Saout al Haq wa al-Houriya (Stimme der Gerechtigkeit und Freiheit), Uum al-Fahm, 13. Oktober 2000. 5 13. Oktober 2000. 6 Hed Haqrayot, Kiryat-Ata, 13. Oktober 2000. 7 Bat-Yam, 13. Oktober 2000. 8 Tel Aviv, 13. Oktober 2000.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2000, von JOSEPH ALGAZY